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Abzocke? Auf Kaffeefahrt unterwegs durch Marokko

Lesezeit: 11 min
27.10.2024 15:58
Es war ein Jahr ohne Geld. Die Miete musste zusammengekratzt werden, Urlaub war nicht drin, auch wenn ich mich nach der Fremde sehnte. Doch manchmal kann ein Gang zum Briefkasten einiges ändern. Aufgrund des Urlaubsangebots eines Werbeblättchens jagten meine Frau und ich bald mit einer Gruppe ostdeutscher Senioren mehrere Tausend Kilometer durch Marokko - und seine Teppichläden. Ein Erfahrungsbericht.
Abzocke? Auf Kaffeefahrt unterwegs durch Marokko
Schönes Marokko: Auf Kaffeefahrt durch Marokko - unser Reporter hat da so seine Erfahrungen gesammelt (Foto: dpa)
Foto: Lukas Schulze

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„15 Tage Marokko! Mit Busrundfahrt zu den vier Königsstädten! Mit Aufenthalt in tollen Hotels!“

So versprach es die Werbung eines Berliner Werbeblättchens. Rot durchgestrichen: „1.250 Euro pro Person inklusive Hin- und Rückflug.“ Stattdessen fett und mehrfach unterstrichen: „Für 250 Euro!“

„Das ist doch Quatsch“, sage ich. „Da fährt man doch in so Teppichgeschäfte und muss Teppiche kaufen!“

„Und in ein Schmuckgeschäft, ein Ledergeschäft, und man kann auch Öl kaufen“, liest meine Frau vor.

Wir schweigen. Draußen herrscht Berliner Frühling, also grauer Himmel über grauen Innenhöfen. Ich denke an Sonne, Palmen und Paläste, an vor Leben wuselnde Souks und majestätische Wüsten, an das Morgenland.

Wir treffen eine Entscheidung.

Als ich die Hotline des Reiseveranstalters wähle, haben meine Frau und ich folgenden Plan vereinbart: Wir probieren das aus, aber nur zu dem genannten Preis und ohne jedwede Zusatzangebote.

Die Dame am anderen Ende ist sehr freundlich. Sie sagt: „Oh, ich sehe gerade, zu dem von Ihnen gewünschten Datum ist leider gar nichts mehr frei. Ich könnte Ihnen aber noch Februar anbieten, das ist nur 200 Euro teurer pro Person.“

„Das ist aber schade, da können wir leider gar nicht. Na gut, dann lassen wir's.“

„Oh, ich sehe gerade, da ist ja doch noch was frei. Also November, ja?“

„Prima.“

„Möchten Sie unser Versicherungspaket dazu buchen? Ganz günstig?“

„Lieber nicht.“

„Sind Sie sich da wirklich ganz sicher? Falls etwas passiert, man weiß ja nie?“

„Lieber kein Versicherungspaket, danke.“

„Möchten Sie noch unser Ausflugs-Paket mit ganz tollen Zielen dazu buchen? Da gibt es zum Beispiel eine Lichterfahrt durch Casablanca. Das kostet Sie jetzt viel weniger als später vor Ort!“

„Lieber nicht.“

„Aber unser Rundum-Sorglos-Paket, das wäre bestimmt etwas für Sie! Da haben Sie dann Halbpension dabei, und Sie können sich sogar noch ein Mittagessen dazubuchen!“

„Lieber nicht.“

„Also gar nichts dazu buchen?“ Jetzt klingt sie tatsächlich etwas enttäuscht.

„Genau. Vielen Dank.“

Ein paar Monate später sind wir in Marokkko. Auf Kaffeefahrt. Und wir können nicht weg. Denn wir sind ja im Bus.

Die Verkaufstricks: „Ihre Kinder sind undankbar!“

„Wir fahren jetzt in ein sehr schönes, sehr gutes Teppichgeschäft“, sagt unser türkischer Reiseleiter Ismael per Mikrofon. Er steht vorne im Bus. Ein Projekt, vom marokkanischen König gefördert. Die Frauen darin weg von der Straße, die Teppiche sehr hochwertig, Steuervorteile, eine prima Geldanlage. Dass nicht alle zuhören, stört ihn nicht, dafür macht er den Job schon zu lange.

„Sie haben alle so viel gearbeitet, ihr ganzes Leben lang. Immer sparen, ihr Deutschen! Aber jetzt haben Sie Ferien. Jetzt genießen Sie mal, jetzt gönnen Sie sich mal etwas! Für Ihre Kinder brauchen Sie Ihr Geld nicht sparen. Die sind undankbar!“

Wir steuern auf ein großes, alleinstehendes Gebäude in der Halbwüste zu, steigen aus. „Kann ich draußen warten?“, fragt Horst mit dem Cowboyhut, Mitte Sechzig, der ein paar Plätze weiter vor uns sitzt.

„Leider nein“, sagt Ismael, „Sie wissen ja auch gar nicht, wo der Bus abfährt! Sie wollen doch nicht, dass wir ohne Sie fahren!“

Horst guckt sich um. Außer der Teppichmanufaktur ist nichts zu sehen. Der Bus hält auf dem dem einzigen Parkplatz.

„Ich warte draußen“, sagt Horst entschlossen und fängt schon mal an, seine Pfeife zu stopfen.

„Ausnahmsweise“, lächelt Ismael, „der Rest kommt jetzt aber bitte mit.“

Drinnen gibt es eine zweistündige Verkaufsshow, da werden herzerwärmende Geschichten in bestem Deutsch erzählt, Tee serviert, schwungvoll mehrere Lagen Dutzender strahlend bunter Teppiche ausgerollt. Auf drei Senioren kommt ein deutschsprachiger Verkäufer. Nachdem meine Frau und ich mehrmals „Nein, danke!“ gesagt haben, zuerst freundlich lächelnd, dann nicht mehr lächelnd, dann mit Todesblick, dürfen wir gehen, durch ein geschickt angeordnetes Labyrinth voller weiterer Waren, Schmuck, Möbelstücke, Vasen. Endlich sind wir draußen und warten mit Horst noch eine Stunde darauf, dass der Rest den Weg hinausfindet.

„In der Türkei war's schlimmer“, lautet Horsts Kommentar, als er eine kleine Wolke Pfeifenrauch in die heiße Luft bläst. Er ist Kaffeefahrt-Veteran. Warum tut er sich diesen Stress an? „Wenn man nichts kauft, ist es wirklich günstig! Und ich will noch was von der Welt sehen“, sagt er. Dann fahren wir weiter.

Wenig Schlaf und viel fahren

Draußen flirrt die Luft, drinnen surrt die Klimaanlage, durch das Busfenster starre ich auf Wüste, Berge, Eselskarren, Lastwägen, die Kühe auf dem Dach transportieren, auf staubige Städtchen, Olivenbäume, Ziegenherden, und auf Olivenbäume, in denen Ziegen auf Ästen hocken. Da dürfen wir kurz aussteigen, Foto machen. So läuft das hier. Tausende Kilometer fahren wir durch das Land. Der Bus macht, was er will, und wir müssen mit, auch wenn das bedeutet, dass wir öfter mal um 5 Uhr morgens aufstehen müssen. Manchmal gibt es eine kurze Toilettenpause, wo man sich die Beine vertreten darf. Dann geht es weiter, schnell, schnell.

Die Hotels sind oft sehr schön, die Frühstückbuffets lecker. Wir besichtigen orientalische Schätze wie das prunkvolle Mausoleum Mohammeds des V. in Rabat, die römischen Ruinen bei Volubilis, die beindruckend gigantische Hassan-II.-Moschee in Casablanca, weitere architektonische und kulturelle Highlights von Fès, von Meknès, von Marrakesch. Es ist eine andere, magische Welt. Nur halt immer durch die Blubberblase des Touristen betrachtet, die nochmal dicker und blubbriger ist durch diese verflixte Situation mit Bus und Reiseleiter. Wir bleiben immer nur ein paar Momente bei den Sehenwürdigkeiten und fahren dann rasch weiter. In den ganzen Verkaufsstellen sind wir viel länger.

Tausende von Euro für Schmuck

Was man nicht alles tut, um ein bisschen Geld zu sparen! Die meisten geben auf dieser Reise mehr aus, als sie geplant hatten. Irgendwann wird man müde und mürbe. Sogar Fred, 82, fix im Kopf und immer der Erste, der aus dem Bus springt, und der gar nichts kaufen wollte, steht am Ende mit einer Wende-Lederjacke für knapp 800 Euro da. „Die war doch so günstig, und ich wollte was mit nach Hause bringen“, sagt er leicht verlegen. Anderen ergeht es schlimmer. Liselotte, rund 80, die hinter uns sitzt, hatte sich nach der Verkaufsshow im Schmuckgeschäft nur kurz setzen wollen, wir hatten sie noch mit ihrem Krückstock umhertapern gesehen. Zurück im Bus ist sie sehr still.

„Alles in Ordnung?“, fragen wir.

„Ach“, sagt sie, „der junge Mann war so nett, und ich mag Türkise doch so gern!“

Kurze Pause.

„Wie viel haben Sie denn ausgegeben?“

Eine längere Pause. Dann, leise: „Ein paar Tausend Euro.“

„Sie können den Kauf doch bestimmt noch rückgängig machen, wenn Sie das nicht wollen“, schlagen wir vor, während der Bus schon seinem nächsten Ziel entgegen rollt.

„Nein“, antwortet sie, „das Geld ist schon auf ein Konto in der Schweiz überwiesen.“

Heiße Schlacht am schlechten Buffett

Wir sind die einzigen unter 45, der Altersdurchschnitt ist eher Ende Sechzig. Die Reise verläuft nicht ohne Spannungen. Ich bin kein Gruppenmensch, beim Busfahren wird mir schlecht, und unterzuckert fauche ich schon mal andere Menschen an. Sicherheitshalber buchen wir also dann doch noch das Mittagessen dazu, für 130 Euro pro Nase, weil wir in den ständig wechselnden Städten und bei den nur sehr kurzen Busstopps sonst nichts zu Essen finden. Immerhin bekommen wir das zusammen im Paket mit einer Berber-Reitershow und einer „Lichterfahrt“ in Casablanca – nachts eine Runde im Reisebus um den Block drehen, immerhin vorbei am aus dem Film bekannten „Rick's Café“. Die Übelkeit beim Busfahren hält sich dankenswerterweise in Grenzen, weil es die meiste Zeit einfach nur gerade aus geht. Nur der Unterzucker wird schon zu Beginn der Reise auf eine harte Probe gestellt: Wir halten an einer Raststätte, eine kleine, grüne Oase voller Katzen und Vögel, die sich gegenseitig friedfertig ignorieren. Die Sonne knallt herab. „Es ist November“, rufe ich freudig, wedele mit den Armen und strecke mein Gesicht der Wärme entgegen. Vogelgesang erfüllt die wohlriechende Luft. Mein Magen knurrt. Zeit fürs Essen! Doch das stellt eine Herausforderung dar.

Wir schleichen wie Geier um den Tisch, auf dem zwei Kellner gerade das Buffet aufbauen. Hungrige, schlechtgelaunte Geier. Doch es gibt viel zu wenig Essen, und das bauen die Kellner auch noch auf so verwirrende Weise auf, dass keiner weiß, wo sich die Schlange bilden soll. Teller stehen an beiden Enden des Tisches. Fast 60 Hungrige entscheiden sich zeitgleich für beide Optionen, nach kurzer Zeit gibt es kein Zurück mehr und auch kein Hühnchen, und alle versuchen, sich von der Mitte aus ohne Teller durchzuboxen, um noch ein paar Reste zu ergattern. Man bekriegt sich jetzt mit immer heftigeren Mitteln, drängelt sich vor, grapscht das Essen mit bloßen Händen. „Gibt es noch Hühnchen?“, brüllen alle, „es gibt kein Hühnchen mehr!“ Die Kellner haben sich wohlweislich zurückgezogen.Meine Frau rettet mich, hat einen Teller mit Couscous erhascht, leider abgestimmt auf den vermeintlichen deutschen Massengeschmack, also ohne Geschmack. Ich bin einem Nervenzusammenbruch nahe. „Jetzt sind wir endlich mal im Orient! Hier sollte es lecker sein!“, klage ich.

„Wir schauen mal, wie der Rest wird, ja?“, sagt sie pragmatisch.

Pausen von der Reisegruppe

Wir kommen glimpflich davon, was Extra-Ausgaben angeht. Außer dem Mittagessen kaufen wir noch eine Flasche Arganöl in einer Ölmanufaktur auf dem Weg nach Essaouria – wo das Öl selbst in den teuren Touristenläden nur die Hälfte von dem kostet, was ich bezahlt hatte. Das Abendessen haben wir nicht dazugebucht, stattdessen gehen wir raus in die Städte, in denen wir wohnen, essen Kaktusfeigen von Straßenhändlern, die gekonnt mit Gummihandschuhen und großen Messern hantieren, frisch gegrillten Fisch, Kebab, streunen durch die Fremde. Mit unseren paar Brocken Französisch kommen wir erstaunlich weit. Es tut gut, diese Pausen von der Gruppe zu haben.

Auf der Reise freunden wir uns mit Ali, Mehmet und Mohammed an, dem Busfahrer, dem Kofferträger und dem elegante Jackets tragenden Boy für alles. Gegen Ende der Bustour, auf dem Weg nach Marrakesch, bei einer Pause, fragen uns die drei, ob wir den Platz der Gehenkten sehen wollten, den berühmten Djeema el Fna in Marrakesch. „Ihr wollt doch mal was erleben!“, sagt Mohammed. Es dürfe nur keiner mitkriegen! Zu fünft fahren wir dann nachts, nachdem alle im Hotel sind, heimlich in die Stadt, alleine in dem großen Reisebus. Mohammed darf fahren, trinkt dabei Whiskey aus einer Espressotasse mit Sprung, damit es keiner mitbekommt. Ich schnalle mich heimlich an. Die zwanzig Kilometer schaffen wir ohne Unfall. „Da hinten ist es, kommt wieder, wenn ihr fertig seid, wir warten hier. Viel Spaß!“ Es ist großartig: Auf dem riesigen Platz steigt Rauch von den vielen kleinen Buden auf, wo Meknez, rote Lammwürstchen, gegrillt werden. Es gibt Schlangenbeschwörer, Geschichtenerzähler, frischgepressten Orangensaft. Wir essen bei Grillbude 32, „garantiert ohne Durchfall“, und auf der Rückfahrt erzähle ich den dreien, dass ich am nächsten Tag Geburtstag habe.

Der vielleicht schönste Geburtstag meines Lebens

Sonst erzähle ich niemanden davon, ich bin nicht in Stimmung. An meinem Geburtstag fahren wir abends mit dem Bus zu der dazugebuchten Berber-Reitershow. Es sind mehrere Hundert Menschen da, in einer etwas kulissenhaft wirkenden Kasbah. Vor der Show gibt's Essen, ich stochere mal wieder in meinem Couscous herum und bin schlecht gelaunt. Ich will keine Touristen mehr sehen, ich will kein Tourist mehr sein, ich finde das alles von Tag zu Tag furchtbarer. Der Tourismus macht kaputt, was eigentlich schön an einem Land ist – ja, den eigentlichen Grund, aus dem man überhaupt dorthin reist, das Fremde, das Exotische, das Besondere. Und je mehr die für die hiesigen Verhältnisse superreichen Westler nach Marokko strömen, deste neidischer ist man dort, desto mehr sieht man diese nicht mehr als Mitmenschen, die vielleicht auch neugierig sind und am Land interessiert, sondern als blöde, träge Masse, der man soviele Dirham abluchsen sollte, wie man kann, bevor es jemand Anderes tut.

Während des Essens trillert sich ein um die andere Gruppe von Berberfrauen durch Folklore-Songs, und wir klatschen brav. „Entspann' dich“, sagt meine Frau lächelnd, „ist dein Geburtstag!“ „Eben“, sage ich patzig, als sich plötzlich der Trillersound ändert, und eine Gruppe dicker, lächelnder Berberfrauen direkt auf mich zuhält, eine gigantische, weiße Cremetorte in den Händen. Jetzt erkenne ich, was sie singen: Happy Birthday! Ich soll mit mittanzen, trinke schnell meinen Rotwein aus und hüpfe fröhlich mit, während Ali, Mehmed und Mohammed breit grinsend vom Zelteingang winken. Strahlend winke ich zurück. Später sitzen wir zusammen draußen und rauchen, während die Reiter waghalsige Manöver vollführen, gellende Rufe ausstoßen, und Pulverdampf durch die Nacht wabert. Oben schimmert der Mond, und obwohl ich mich seit einigen Jahren von Geburtstag zu Geburtstag immer schlechter fühle, weil ich gefühlt schon so alt bin und noch so wenig erreicht und von der Welt gesehen habe, ist heute alles fein. Später gratulieren mir unsere Mitreisenden, ich laufe Spalier durch den Reisebus, schüttle warme, faltige Hände und bekomme immer wieder zugeraunt: „So jung! Du kannst noch so viel erleben!“ Die meinen das todernst.

Es ist der vielleicht schönste Geburtstag meines Lebens.

Die Kaffeefahrt-Industrie

Wir sind nicht der einzige Bus auf Kaffeefahrt in Marokko. Da steckt eine ganze Industrie dahinter, zumeist aus der Türkei. Abends trifft man sich in den großen Hotels, da werden dann schon mal acht Busse am Stück voller müder Touristen ausgeladen. Die wenigsten Reisenden machen ein zufriedenes Gesicht; in einem Hotel in Fès fällt mir eine Frau auf, die offenbar den einen Euro Trinkgeld sparen will, der anfällt, wenn die Hotelangestellten den Koffer mit Kreide markieren und aufs Zimmer bringen. Ingrimmig wuchtet sie das schwere Gepäckstück die Treppen hoch, Richtung Fahrstuhl, Tränen im Gesicht. Ich kann sie verstehen. Obwohl es günstig ist, stresst das ständige Gezerre. Fünf Dirham Trinkgeld, ungefähr ein Euro, kostet jeder Toilettenbesuch und im Prinzip auch jede sonstige Dienstleistung für Touristen. Absolut freiwillig, aber wehe dem, der den Bakschisch vergisst, böse Blicke sind die Strafe. Und dazu diese ganzen Verkaufsshows, das Gefühl, immer abhängig vom Bus zu sein. Die ganze Reise ist ein immer weiter kippender Balanceakt zwischen Schönheit und Gier – der Schönheit des Landes, der Gastfreundschaft weniger und des Reisens allgemein, und der bräsigen Gier der Reisenden, die gerne gar nichts ausgeben würden, der knallharten Gier der Reiseveranstalter, die damit ihr Geschäft machen, und der verzweifelten Gier der Marokkaner, die davon leben müssen.

Ist das legal? Ja. Und die Menschen, die daran teilnehmen, wissen in der Regel, was sie erwartet. Sie nehmen das in Kauf.

Ist es eine gute Sache? Die meisten geben mehr aus, als sie wollten. Es gibt einen gewissen Druck. Aber es sind nach wie vor freie Entscheidungen erwachsener Menschen.

Die Flucht

Wir hauen ab. Nach der einwöchigen Busreise hatten wir uns total auf das Hotel in Marrakesch gefreut. Das Hotel aber liegt 20 Kilometer außerhalb der Stadt, neben einer stinkenden Kläranlage, und überall hängen Schilder, die verbieten, Essen mit aufs Zimmer zu nehmen. Jede Kleinigkeit kostet Geld, die Touris sind noch nicht augequetscht genug. Es reicht! Wir überzeugen unsere Mitreisende Brigitte davon, unser „Bitte nicht stören“-Schild an unserer Tür in unregelmäßigen Abständen an- und ab zu hängen, damit keiner mit bekommt, dass wir verduftet sind. Dann fahren wir mit dem Shuttle nach Marrakesch und beziehen dort für drei Tage für 30 Euro die Nacht ein Zimmer in einem Riad in der Altstadt, das nach Orangenblütenwasser duftet, und in dessen Innenhof ein Baum wächst, in dem Laternen glühen und Tauben gurren. Von der Dachterrasse aus sehen wir Minarette und Flachdächer, über die lohfarbene Katzen mit buschigem Schweif spazieren. Über allem thront in der Ferne der schneebedeckte hohe Atlas, wie ein weißes Wolkengebirge über der Wüste und der Stadt.

Es ist wunderbar. Endlich! Wir verlaufen uns in den Souks, essen gut gewürztes Essen, erholen uns in versteckten, verwunschenen Gärten mit schwelgerischer Blütenpracht bei grünem Tee und Keksen vom Gewühl und den hartnäckigen Verkäufern. Machen einen organisierten Zweitages-Trip in die Sahara, der nur die Hälfte dessen kostet, was er in dem Hotel, aus dem wir geflohen waren, gekostet hätte. Reiten auf Dromedaren, werden fast von einem Esel gebissen, schlafen in der eiskalten Wüstennacht unter Bergen von Decken unter einem wunderschönen Sternenhimmel und lernen das Wort für Sternschnuppe aus einem Berberdialekt („Estra-Es-Fassil“). Frühmorgens sehen wir den Schein der aufgehenden Sonne über die Sanddünen gleiten und die Landschaft in einen Scherenschnitt aus Hell und Dunkel verwandeln.

Magen-Darm - aber nicht für uns

Rechtzeitig vor der Abreise mogeln wir uns aufgeregt zurück ins Hotel. Hat jemand unser Ausbüxen bemerkt? Interessiert es überhaupt jemanden? Die Antwort: nö. Brigitte jedenfalls freut sich über unsere Rückkehr und unser kleines „Abenteuer“. Fred und Horst haben wie einige andere „Magen-Darm“, vermutlich verursacht durch nur halb durchgegarte Frühstücks-Spiegeleier. Alle sind einigermaßen erledigt nach ihrem Urlaub. Ein letztes Mal früh aufstehen, Ali, Mehmet und Mohammed Tschüß sagen, um ein Uhr nachts, ein letztes Mal Busfahren, jeder natürlich auf seinem Stammplatz, wir hinten rechts, und dann geht es per Flugzeug zurück nach Leipzig.

Fazit: Nochmal würde ich das nicht machen – auch wenn es eine spannende Erfahrung war. Aber es hat eben alles seinen Preis.

Zehn Survival-Tipps für die Kaffeefahrt

  • Nehmen Sie Ohropax und/oder Noise-Cancelling-Kopfhörer mit, damit Sie nicht ständig die Werbe-Durchsagen im Bus hören müssen und stattdessen schlafen können – Sie werden nachts selten genug Schlaf bekommen. Das soll Sie weich und mürbe machen für die Verkäufer. Aber Sie wollen nicht weich und mürbe sein, Sie wollen hier durchkommen, ohne etwas zu kaufen.

  • Lernen Sie, zwanzig Mal hintereinander auf Französisch „Nein, danke“ zu sagen, ohne zu schreien: „No, merci! No, merci! NO, MERCI!"

  • Lassen Sie während der Verkaufsshows ihren Geist wandern. Atmen Sie ein, atmen Sie aus. Freuen Sie sich über die gelungene Darbietung, bestaunen Sie die gelungene Manipulation der Psyche. Sie nicht hier, um Spaß zu haben, Sie sind hier, um nichts zu kaufen. Das ist der Deal mit dem Reiseveranstalter.

  • Buchen Sie das Mittagessen dazu, und am besten sonst nichts. Vor Ort dürfte sich herausstellen, dass Sie mittags sonst nirgendwo etwas zu essen bekommen, weil die Zeit für eigene Bestellungen jenseits der Gruppe nicht reicht.

  • Ein kleiner Gewürzstreuer dürfte helfen, das ungewürzte Essen genießbarer zu machen. Wichtig: Salz!

  • Ebenfalls ins Reisegepäck gehört ein Reiseführer, damit Sie auf eigene Faust unterwegs sein können. Siehe „Türmen“.

  • Freunden Sie sich mit dem Bus-Personal an. Ein paar freundliche Worte und vielleicht mal eine Packung Zigaretten helfen. Dann helfen die Ihnen – und vergessen Sie auch nicht, wenn Sie mal nicht mit ins Teppichgeschäft gehen.

  • Geben Sie Trinkgeld. Die Menschen dort sind darauf angewiesen. Rechnen Sie mit rund fünf Euro extra pro Tag.

  • Türmen Sie, sobald Sie können. In der Regel gibt es nach der einwöchigen Kaffeefahrt noch eine einwöchige Ruhephase ein einem Hotel weitab vom Schuss. Das ist der richtige Zeitpunkt für ein paar Tage richtige Ferien. Rechnen Sie aber mit rund 100 Euro pro Tag Türmen pro Nase für Unterkunft, Essen und Aktivitäten.

  • Sehen Sie es als eine sehr exotische Erfahrung (das wollten Sie doch?), die Sie sonst nie bekommen hätten.

                                                                            ***

Maximilian Modler berichtet über spannende Entwicklungen aus den Bereichen Energie, Technologie - und über alles, was sonst noch für die deutsche Wirtschaft relevant ist. Er hat BWL, Soziologie und Germanistik in Freiburg, London und Göteborg studiert. Als freier Journalist war er u.a. für die Deutsche Welle, den RBB, die Stiftung Warentest, Spiegel Online und Verbraucherblick tätig.


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