Die Atombombe hat ihre besten Jahre scheinbar hinter sich. Seit 1945 wurde sie in keinem Konflikt zu kriegerischen Zwecken eingesetzt. Etliche Tests belegen zwar die sich akkumulierende Wirkung immer mächtigerer Sprengköpfe wie der erschreckenden Tsar oder der B61. Doch es scheint in niemandes Interesse zu liegen, eine Bombe, die ganze Städte auslöschen könnte, tatsächlich auch einzusetzen. Deshalb werden konventionelle Kriege wieder salonfähig.
Trotzdem droht Alexander Lukashenko mit dem Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Angriffs auf Weissrussland im öffentlichen Fernsehen. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin ändert sein Atomwaffendoktrin, um sich die Option eines Einsatzes von Nuklearsprengköpfen an der Front vorzubehalten. Zudem arbeiten einige Länder wie China fieberhaft an der Schaffung eines großen Arsenals modernster Atomwaffen. Mächte wie Pakistan und Nordkorea nutzen die Waffen zur ständigen Provokation und als Absicherung gegen Angriffe von unliebsamen Nachbarn. Es stellt sich also die Frage: Warum kann die Atombombe keine Kriege verhindern — und trotzdem eine kleine Renaissance erfährt. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt sich ein kurzer Exkurs in die Geschichte.
Kalter Krieg: Warum das „Gleichgewicht des Schreckens“ scheiterte
Heute gelten neun Länder als Atommächte. Dazu zählen die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Israel, China, Indien, Pakistan und Nordkorea. 89 Prozent aller Atomwaffen gehören den USA und Russland, und insgesamt sollen 3.800 nukleare Sprengköpfe direkt einsetzbar sein. Die Wirkung der Atombombe als Waffe ist dabei einem steten Entwicklungswandel unterlegen, steigt aber seit Jahrzehnten stetig an.
Eine 100-kT Atombombe kann demnach in einem Radius von 10 km beinahe alles Leben auf der Stelle vernichten und bringt zudem nachhaltiges Unheil in einen Radius von bis zu 80 km, wo Feuer und radioaktiver Niederschlag Flora und Fauna massiven Schaden zufügen. Einfacher gesagt: Eine einzelne Atombombe kann eine Großstadt zunichtemachen, wenn sie ihr Ziel erreicht. Das Konzept des Nuklearkriegs setzt voraus, dass eine Rakete mehrere Sprengköpfe gleichzeitig abwirft und somit viele Ziele auf einmal anfliegen kann. Nicht selten werden zwei Sprengköpfe auf dasselbe Ziel eingerechnet, um eine Fehlzündung unwahrscheinlich zu machen.
Ein solcher Krieg kennt keine Gewinner. Mit dem Zerstörungspotenzial der Nuklearsprengköpfe wäre ein Erstschlag gegen eine Atommacht — spekuliert wurde immer mit den USA und der Sowjetunion als potenzielle Kriegsparteien — selbstmörderisch. Im Zuge der simultanen Aufrüstung sollte ein „Gleichgewicht des Schreckens“ etabliert werden, in dem alle Atommächte zwar große Mühen in die Aufrüstung steckten, gleichzeitig aber von einer Nutzung dieser Waffen absehen würden. Optimisten sahen in diesem Gleichgewicht die Grundlage für Frieden zwischen den Machtblöcken der Welt, die sich zwar feindlich gegenüberstanden, aber ob der gewaltigen Zerstörungsmacht ihrer Waffen von einem Erstschlag absehen würden.
Doch schon im Kalten Krieg war abzusehen, dass diese Rechnung nicht vollends aufging. Offensichtlich beteiligten sich Sowjetunion und USA an Stellvertreterkriegen und schickten entweder Soldaten oder militärische Güter an die Fronten Vietnams, Afghanistans, Koreas und anderer. Die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba und die gescheiterte Eroberung der Insel durch US-freundliche Kombattanten führten die Welt an den Rand eines Atomkriegs. Es ist dem besonnenen Vorgehen politischer Größen des 20. Jahrhunderts zu verdanken, dass es nie zu diesem Krieg kam. Eine langfristige Stabilität konnte mit dem Gleichgewicht des Schreckens jedoch nicht erreicht werden, da immer mehr Länder eine eigene Atomwaffe entwickelten.
So verschaffte der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Annäherung an den Westen eine kurze Verschnaufpause — und in der Tat, die Russische Föderation und die USA bauten ihre Atomwaffenbestände in Teilen ab. Doch im Zuge der Proliferation, der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen, und der Eigenentwicklung etwa der pakistanischen, der indischen und der nordkoreanischen Atombombe, wurde das Gleichgewicht stetig wieder aufgewirbelt und zunichtemacht.
Nukleare Aufrüstung im 21. Jahrhundert: Die Angst vor dem Regime Change
Heute befindet sich die Welt in einer multipolaren Ordnung. Laut dem Politologen Herfried Münkler wird diese Weltordnung von fünf Großmächten bestimmt, namentlich den USA, China, Russland, Europa und Indien. Doch es gibt neun Atommächte, dazu zählen die USA, China, Russland, Indien, Pakistan, Nordkorea, Israel, Großbritannien und Frankreich. Mit dem Iran könnte eine zehnte hinzukommen. Der Grund für das neue atomare Wettrüsten liegt maßgeblich in der Angst vieler Staaten begründet, Opfer eines Regime Changes zu werden.
So gab die Ukraine nach Unterzeichnung des Budapester Memorandums im Jahr 1994 all ihre Atomwaffen auf. Die drei Vereinbarungen sollten als Gegenleistung die territoriale Integrität des ukrainischen Staates zusichern. Nur 20 Jahre nach Unterzeichnung der Vereinbarungen annektierte die Russische Föderation die Halbinsel Krim und verstieß gegen das Memorandum.
Saddam Hussein erfüllte bis 1998 alle UN-Resolutionen zu Atomwaffen und arbeitete nachweislich auch danach nicht an einer eigenen Atombombe. Die Hoffnung des Machthabers, dafür engere Beziehungen mit den USA knüpfen zu können, wurde bekanntlich durch einen US-amerikanischen Angriffskrieg zunichtegemacht, den Hussein selbst nicht überlebte.
Muammar al-Gaddafi stimmte im Jahr 2003 der Eliminierung aller libyschen Massenvernichtungswaffen zu. Nachdem er bei seinen westlichen Partnern in Ungnade gefallen war, war es den USA und Verbündeten somit ein Leichtes, sein gesamtes Regime in nur sieben Monaten zu Fall zu bringen.
Die Hoffnung unterschiedlicher Regime wie dem nordkoreanischen oder dem iranischen besteht in der Abschreckungskraft von Massenvernichtungswaffen. Kim Jong Uns Drohgebärden bleiben auch deshalb ungesühnt, weil die westliche Welt einen Atomkrieg mit dem Diktator fürchtet. Baschar al-Assad konnte sich auch deshalb an der Macht halten, weil er seine chemischen Massenvernichtungswaffen im Jahr 2012 gegen Zivilisten und Widerstandsgruppen einsetzte, woraufhin die Angst vor einer weiteren Eskalation des Krieges mit seinem Regime wuchs.
Mehr Atomwaffen, aber auch mehr konventionelle Kriege
Von diesen Fällen ausgehend kann behauptet werden, dass die Atombombe sich eine abschreckende Wirkung bewahrt hat, diese aber längst nicht mehr ausreicht, um Kriege zu verhindern. Die Angst vor einem russischen Atomschlag schwächt sich ab, ebenso wie die vor einem Erstschlag Israels auf den Iran oder Nordkoreas auf seinen benachbarten Süden. Die Weltgemeinschaft lernt auf bedauerliche Art und Weise, den Krieg in all seinen Spielformen neu zu bedienen, während Atomwaffen weitgehend ausgeklammert werden.
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj will derzeit einen „Frieden durch Drohungen“ gegen Russland erreichen. Selenskyj wünscht sich dafür präzise Raketensysteme, die das russische Hinterland empfindlich treffen, wohl aber nicht ausradieren würden. Sowohl die USA als auch Deutschland bremsten diese Bitte aus. Die Angst vor einer Eskalation des konventionellen Krieges scheint wieder in den Vordergrund der Gespräche zu treten.