Verteidigungsminister Boris Pistorius pocht auf eine schnellere Aufrüstung der deutschen Armee in den kommenden Jahren. Die Bundesrepublik müsse sich zügig auf mögliche Bedrohungen vorbereiten. Kann diese Aufrüstung des Landes gelingen, das seine Wehrpflicht ausgesetzt und sich seit seiner Gründung vehement gegen die Teilnahme an größeren Kriegen gewehrt hat? Und was würde die schnelle Aufrüstung für den Sozialstaat bedeuten?
Kriegsgefahr in Westeuropa zurückgekehrt
Bis 2029 könnte die russische Armee ihre volle Kampfkraft wiedererlangt haben, mutmaßen Experten. Wäre sie dann gewillt, NATO-Territorien wie das Baltikum oder Finnland anzugreifen? Auszuschließen ist das wohl nicht, obwohl Russlands Bestrebungen auch in Richtung der Arktis oder Zentralasien zielen könnten. Doch die Nähe der NATO an Russlands Westgrenze gilt im Kreml als Affront, der zudem die russischen Minderheiten und den Zugang der russischen Flotte zur Ostsee gefährde. Ein russischer Angriff in diesen Gebieten ist also nicht mehr undenkbar.
Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht und bevölkerungsreichstes Land Westeuropas kommt in diesem Grenzgebiet eine besondere Rolle zu. Nicht nur sind die USA geschwächt und fokussieren sich immer mehr auf den Pazifik, während sie die westeuropäischen Partner zu mehr Eigenverantwortung bewegen wollen. Auch wächst die Zahl der Krisenherde vor der europäischen Haustür. Ob Ukrainekonflikt, hybride Kriegsführung im Baltikum, nicht enden wollende Migrationgsströme aus der Türkei, Syrien und Afghanistan, der eskalierende Konflikt im Nahen Osten oder die terroristische Gefahr in Subsahara-Afrika: Europa wird mit mehreren Konfliktherden konfrontiert, die es selbst lösen muss. Doch wer zahlt die Kosten dafür, dass sich der Alte Kontinent wieder zu einer veritablen Ordnungsmacht aufschwingt?
Aufrüstung: Wider die Schuldenbremse, den Klimaschutz und den Sozialstaat?
Der Anteil der Verteidigungsausgaben betrug in der jungen Bundesrepublik 4,1 Prozent. Als die Bundeswehr 1955 ins Leben gerufen wurde, konnte sie somit schnell zu einer schlagkräftigen Grenzarmee geformt werden. Heute betragen die Verteidigungsausgaben nur etwa 1,7 Prozent (stand 2023) des BIP, und es fehlen die mächtigen amerikanischen Truppen des Kalten Krieges, die den Deutschen helfend zur Seite stehen könnten, käme es zu einem Angriff.
NATO-Partner wie die Esten und Polen investieren spätestens seit dem Russischen Angriff auf die Ukraine deutlich mehr; beide Länder unterstützen nicht nur die Ukraine mit Material, sondern haben ihre Verteidigungsetats auf je 3,4 beziehungsweise vier Prozent des eigenen BIP aufgestockt. Dasselbe fordern sie nun auch von der deutschen Politik. Doch das würde die Finanzierung anderer Projekte bedrohen.
Etwa der Klimaschutz würde durch die erhöhten Verteidigungsausgaben ausgehöhlt, schreibt eine Forschergruppe im Magazin Der Spiegel. Die NATO-Aufrüstung könnte einen jährlichen Ausstoß von 300 Tonnen CO2 bewirken, womit die übrigen Klimaschutzziele der Mitgliedsländer usurpiert würden, auch die von Deutschland. Der Vorwurf blieb von der Politik bislang unbeantwortet.
Hitzig verlaufen hingegen die Debatten hinsichtlich der Harmonisierung von Verteidigung und Schuldenbremse: Die Verteidigungsausgaben müssten von der Schuldenbremse ausgenommen werden, so Boris Pistorius (SPD) und andere Politiker wie Politiker wie Agnieszka Brugger (B90/Die Grünen). Etwas radikaler formulierte es Christian Lindner (FDP): Die Sozialausgaben müssen notfalls stagnieren. Durch ein Moratorium sollten die Ausgaben auf dem derzeitigen Stand eingefroren werden. Lindners Vorschlag stieß sofort auf vehementen Widerstand der Grünen und der Sozialverbände, die seine Idee als „unanständig“ abwiesen.
Übrig bleiben also weitere Debatten um die Verteidigungsausgaben als solche. Dabei lässt sich allerdings, so das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), keine besondere Dringlichkeit für die Verteidigungsausgaben identifizieren. So will keine Partei die Kürzung von Renten oder dem Bürgergeld ins Spiel bringen, ist die Stimmung im Land ohnehin aufgeheizt und zu großen Teilen gegen die amtierende Regierung gerichtet. Doch ein Blick auf die Verhältnisse zeigt, dass Deutschland sich ein größeres Militärbudget durchaus leisten könnte, würde es die enormen Sozialausgaben von 35 Prozent seines BIP verringern und dafür den Wehretat auf die geforderten zwei oder besser vier Prozent anheben.
Polen, Russland, USA und Co.: Wie spart man für die Rüstung?
Verteidigungsvorreiter wie Polen nehmen derweil schon horrende Schulden auf sich, um den Kauf modernster militärischer Gerätschaften zu finanzieren. Die Regierung Donald Tusks hat auch wenig andere Optionen, um ihre Rüstung zu finanzieren, denn der ohnehin schmale Haushalt Polens lässt kaum weitere Kürzungen zu. Die Netto-Sozialausgaben betrugen dort im Jahr 2019 nur 18 Prozent des BIP.
Die USA haben mit 3,4 Prozent einen traditionell starken Wehretat, der durch die hohen Staatseinnahmen finanziert und zulasten der Netto-Sozialausgaben aufrechterhalten werden kann: Diese lagen in dem Land im Jahr 2019 bei 29,4 Prozent. Im Jahr 2023 betrug der Verteidigungsetat Russlands hingegen rund 5,9 Prozent — ein Wert, der NATO-Partnern zu denken geben sollte. Denn auch wenn Russlands Wirtschaft marode scheint, ist sie doch zu großen Teilen auf Krieg ausgelegt.
Die Bundesrepublik hingegen investiert nur leidlich mehr Geld für Rüstung als in den frühen 2000er Jahren, als die Politik auf Entspannung statt auf Krieg setzte. Es stellt sich die Frage, ob die deutsche Politik willens ist, den Zorn der Wähler auf sich zu ziehen und die Sozialausgaben nicht zu erhöhen. Tut sie das nicht, riskiert sie, die Peripherie der NATO im Stich zu lassen. Denn auch wenn Esten oder Polen ein enormes Verteidigungsbudget aufbringen, ohne ihre deutschen Partner sind sie der russischen Armee gnadenlos unterlegen.