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Anwerbeabkommen wie vor 60 Jahren: Der Kanzler wirbt in Indien jetzt höchstselbst um Fachkräfte

Lesezeit: 7 min
24.10.2024 15:30
Die Wirtschaftslage vor 60 Jahren war eine andere als heute. Die Antwort der Politik ist dieselbe. Deutschland versucht, Fachkräfte anzuwerben, um die Lücken in den Firmen und Einrichtungen zu füllen. Was früher mal Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum waren, sind inzwischen Arbeitsmigranten aus Asien und Südamerika. Die Frage, ob unsere Gesellschaft bereit ist, da mitzuziehen, stellt sich die Regierung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) gar nicht mehr. Er hat sich diese Woche beim Arbeitgebertag verpflichtet, zu liefern und den Firmen für die benötigten Arbeitskräfte alle denkbaren Brücken zu bauen. Heute reist er eigens nach Indien. Will Olaf Scholz unbedingt mit dem Kopf durch die Wand?
Anwerbeabkommen wie vor 60 Jahren: Der Kanzler wirbt in Indien jetzt höchstselbst um Fachkräfte
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) trifft sich jungen Menschen aus Indien, die am Goethe-Institut Deutsch lernen. Heil wirbt dort um Fachkräfte – auch der Kanzler begibt sich jetzt zusammen mit Heil auf den Weg. (Foto: dpa)
Foto: Christophe Gateau

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Der Kanzler begibt sich heute auf eine heikle Mission. Vor Ort will Scholz mit einem Tross seiner Minister in Indien Arbeitskräfte anwerben und nach Deutschland lotsen. Hubertus Heil kommt mit und auch Robert Habeck, sogar mit unterschiedlichen Fliegern. Dass das Thema Priorität hat, versuchte Scholz bereits am Dienstag gegenüber den Wirtschaftsvertretern auf dem Arbeitgebertag 2024 zu verdeutlichen. Die Wirtschaft habe bei ihm Führung bestellt, gewissermaßen.

Deshalb gehe er nun persönlich voran, um das Arbeitskräfte-Defizit Deutschlands zu schließen. Ob die Bürger von der Notwendigkeit gleichermaßen überzeugt sind wie er, ist für die Ampel-Regierung längst keine Frage mehr. Es wird geliefert. Die Stellen müssen dringend besetzt werden. Das Wirtschaftswachstum erfordere dies! Es könnte womöglich noch zum großen Missverständnis zwischen den Bürgern und ihrer Regierung beitragen.

Dienstag am Alexanderplatz bei seiner Rede vor den Arbeitgeber-Vertretern des BDA im Berliner Congress Center hat der Kanzler jedenfalls wieder die schöne Geschichte und das Foto von Armando Rodrigues de Sá hervorgekramt. Wie der junge Gastarbeiter damals in Köln-Deutz zu einer zu seiner Zündapp Sport Combinette gekommen ist.

Die Geschichte von einem Moped und einem Zimmermann aus Portugal

Im September 1964 war das – also vor ziemlich genau 60 Jahren. „Rodrigues war ein portugiesischer Zimmermann, und er war im September 1964, übrigens nach den Berechnungen der BDA, der millionste Gastarbeiter, der in die Bundesrepublik kam, um hier zu arbeiten, ein besseres Leben zu finden und um hier zu Wachstum und Wohlstand beizutragen“, stimmte Scholz seine Zuhörer ein, um sein Versprechen zu geben. „Wie schon 1964 besteht auch heute wieder ein großer Bedarf an Arbeitskräften. Trotz der wieder leicht ansteigenden Arbeitslosigkeit ist das der große Trend, der uns in diesem Jahrzehnt und wahrscheinlich den nächsten Jahrzehnten am meisten herausfordern wird. Wie damals brauchen wir auch heute wieder einfache, pragmatische Lösungen, um die Nachfrage deutscher Unternehmen nach Arbeitskräften zu decken.“

Es geht um nichts weniger als die große Frage, ob Deutschland die Erfolgsgeschichte der 196oer-Jahren wiederholen kann. Als 14 Millionen Menschen erst aus Italien (anno 1955), Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und schließlich dem damaligen Jugoslawien (1968) ins Land geholt wurden, um der mit Volldampf laufenden Industrie genug Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Heute fehlen tatsächlich auch inzwischen fast überall helfende Hände, insbesondere in Kliniken, der Pflege und auch der Gastronomie. Doch das hat bekanntlich ganz andere Ursachen.

Die Deutschen mögen überwiegend nicht mehr so viel schuften, achten daher verstärkt auf das Einhalten ihrer persönlichen Work-Life-Balance, studieren lieber (oder wollen Stars und Influencer werden), statt einfach eine traditionelle Lehre zu absolvieren und auf der Fachhochschule noch etwas länger die Schulbank zu drücken. Die Jugend von heute hat, das wissen Unternehmer aus leidvoller Erfahrung und Dutzenden frustrierender Vorstellungs- und Bewerbungsgespräche, haben häufig schon zu Beginn finanzielle Vorstellungen, die den internationalen Rahmen sprengen und die deutsche Wirtschaft noch tiefer ins Abseits führen.

Und das alles unter dem verheerenden gesellschaftlichen Eindruck, dass das Land seit 2015 von Migranten überlaufen wird. Wobei es freilich nur die Falschen seien, heißt es dann immer. Faulfelze, heißt es inzwischen nicht mal mehr kleinlaut, sondern aggressiv. Fachkräfte seien indes willkommen und werden dringend gebraucht. Mag sein, dass das die Wirtschaft so sieht und die Politik das denn auch zu ihrer Handlungsmaxime macht. Die Realität ist indessen durchaus eine andere – und die Probleme verschärfen sich sogar noch, statt dass das Miteinander besser und verständnisvoller wird. Eine Debatte darüber findet jedoch nicht statt, gewisse Dinge seien nun einmal selbstverständlich. Die Realität in unseren Städten sieht anders aus.

Wie ein Dienstleister aus Trittau Fachkräfte auf den Philippinen und in Indien rekrutiert

Das erkennen mittlerweile selbst die um Problemlösung bemühten Dienstleister, die die Probleme bei der Arbeitsvermittlung in aller Welt für uns übernehmen sollen. So wie Frank-Uwe Schneider aus Trittau in Schleswig-Holsten, der seit 2019 mit einer Firma GP Care Solutions gezielt Facharbeiter auf den Philippinen und in Indien rekrutiert und an Betriebe in Deutschland vermittelt.

Schneider ist jahrelang zur See gefahren und hatte zuletzt im Personalwesen von Reedereien beste Kontakte nach Asien aufgebaut. Dass daraus ein veritables Business-Modell geworden ist, hätte er anfangs gar nicht für möglich gehalten. „Doch das Geschäft boomt, die Nachfrage von Arbeitgebern wächst rasant“, sagt er. Wohl wissend, dass seine unternehmerische Erfolgsgeschichte (wie in vielen Recruiting-Agenturen im Lande) ein zweischneidiges Schwert ist. Einerseits ist es für ihn und sein Team erfüllend, Menschen hier und im Ausland zu helfen, Kliniken zu unterstützen bei der Arbeitsvermittlung hoch motivierter Arbeitskräfte und den Menschen, die ins Land kommen, dabei zu helfen, hier eine Existenz aufzubauen.

Doch eitel Sonnenschein herrscht da längst nicht mehr. „Es häufen sich in letzter Zeit die Fragen nach der politischen Situation in Deutschland. Die Bewerber machen sich Sorgen“, gesteht Astrid Schneider, die das Integrationsmanagement bei GP Care Solutions leitet und von ihren ambivalenten Erfahrungen zu berichten weiß. „Wir haben in den Philippinen und Indien eigene Internate, in denen Arbeitskräfte auf ihre Stellen in Deutschland vorbereitet werden und Deutsch lernen“, sagt sie. „Auf den Philippinen etwa werden von uns bis zu 100 Fachkräfte gleichzeitig betreut.“ Über 600 Einreisen konnte GP Care so bereits vermitteln. „Hoch motivierte, fleißige Menschen, wie uns die Arbeitgeber immer wieder gerne versichern. Zu 98 Prozent sind die Arbeitskräfte bislang auch hier in Deutschland geblieben.“

Die Frage, ob sie sich gut integriert fühlen, sei freilich eine andere. „Die Reaktionen der Patienten in Kliniken und der Pflege haben sich schon verändert“, gibt Schneider zu. So sehr, dass die (zumeist sehr gut Englisch oder auch Spanisch sprechenden) Filipinos inzwischen vernehmlich über Ausgrenzung und zunehmende Ausländerfeindlichkeit klagen würden. De facto muss Deutschland sogar aufpassen, dass nicht die mittels der neuartigen Anwerbeabkommen (von Vietnam, über Usbekistan bis Mexiko und Brasilien, wohin Robert Habeck und Annalena Baerbock unlängst in gleicher Mission gereist waren) neu aufgestoßenen Türen nicht wieder gleich in Schloss zurückfallen. „Gerade die Filipinos sind ja auch in den USA und Großbritannien sehr gefragt und hätten insofern beste Alternativen“, weiß Schneider und macht sich so ihre Gedanken, ob es mit dem Modell der Arbeitsmigration vorangeht in Deutschland. Auch andere Länder werden unter dem demographischen Druck überalternder Gesellschaften wohl nachziehen müssen - „Finnland etwa“, wie Schneider zu berichten weiß.

Arbeitsminister Heil will in Indien beim Brotbacken mithelfen und für positive Stimmung sorgen

Vertrauensbildende Maßnahmen sollen nun helfen. Arbeitsminister Heil hat das erkannt. Konkret werden soll es für ihn diese Woche in einer indischen Bäckerei, die mit deutschen Rezepten arbeitet. Heil will dort beim Brotbacken helfen. Dabei versucht er beispielhaft junge Inder bei ihrer Berufsausbildung zu motivieren und für Deutschland einzunehmen. In einer Schule will Heil zudem mit Schülern über eine Zukunft in Deutschland sprechen, so die Mitteilung von Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Deutschland möchte mit vereinfachten Visa auf digitalem Weg locken. Deutschkurse und Jobmessen in Indien sowie der Abbau bürokratischer Hürden sollen die Anwerbung und Vermittlung beschleunigen. Der Kanzler habe den nächsten Turbo gezündet, hört man allenthalben von Regierungsvertretern.

Das sei auch „dringend erforderlich“, betont Frank-Uwe Schneider von GP Care in Trittau. „Tatsächlich wird es immer schwieriger und dauert alles immer länger“, klagt sie. „Bis zu vier oder sechs Monate und teilweise sogar länger“, so lange benötigen Behörden und Konsulate, um Abschlüsse anzuerkennen, Visa zu genehmigen und die arbeitswilligen Fachkräfte bei uns endlich ins Land hereinzulassen. Besonders ärgerlich ist für Schneider „diese Kleinstaaterei bei der Anerkennung von Abschlüssen“. „Da hatman es endlich in Schleswig-Holstein geschafft nach Monaten, dann dauert es in einigen Bundesländern noch mal bis zu acht weitere Monate, das gleiche Dokument dort gleichfalls zu erwirken", schüttelt Schneider den Kopf.

Der Arbeitsminister hingegen gibt sich betont optimistisch, dass er die „Erfolgsgeschichte“ seines einstigen Amtsvorgängers Anton Storch anno 1955 fortgeschrieben wird. Storch war es, der die ersten Italiener in die Bundesrepublik geholt hat, jene Gastarbeiter-Gruppe, die bis heute als überragender Integrationserfolg und Vorbild gelten. 873.000 Deutsche mit italienischen Wurzeln konnten so eingebürgert worden, weitere 646.000 haben nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung darüber hinaus ihre italienischen Staatsbürgerschaften behalten hätten – so viele wir nirgendwo sonst in Europa.

Die Begeisterung der Bürger ist nicht nur begrenzt, die Vorbehalte nehmen bedenklich zu

Ob das auch mit Indern, Vietnamesen und Mexikanern so laufen wird, ist die Frage. Eine halbe Million Jobs sollen besetzt werden. Alternativen gebe es nicht, auch in den anderen EU-Staaten sei nicht mehr zu holen. Nicht mal mehr in Polen, die über Jahrzehnte Deutschland und insbesondere die Hauptstadt nach der Einheit 1990 wieder aufgebaut haben, bleiben lieber daheim und werkeln dort. Anders als nach dem anfänglichen Rotationsverfahren, das einst den Begriff der Gastarbeiter begründet hat und erst angesichts der Ölkrise anno 1973 mit einem plötzlichen Anwerbestopp endete, kommen die heutigen Zuwanderer nach Deutschland und hoffen, „binnen Jahresfrist ihre Angehörigen und Familie nachholen zu können und hier zu bleiben“, lauten die Erfahrungswerte von Astrid Schneider.

Heil und seine Verwaltung haben das mit gut 30 Maßnahmen und Verwaltungsvorschriften abgesichert, heißt es angesichts der Indienreise des Kabinetts. Im Februar waren schon bereits 137.000 Inder in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nur 3,7 Prozent in Deutschland seien davon aktuell arbeitslos gemeldet. Wobei aus statistischen Gründen Selbstständige, Beamte und Grenzpendler nicht mal enthalten seien, so die Einschränkung. Heil ist jedenfalls zuversichtlich, dass Indien die Recruiting-Probleme der deutschen Wirtschaft löst. „In Indien kommen pro Monat eine Million Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt.“ Warum die indische Seite die Arbeitsmigration auch aktiv unterstützt: „Deshalb sieht Deutschland in Indien beim Thema Fachkräfte-Einwanderung einen besonders wichtigen Partner.“

Asylmissbrauch oder qualifizierte Zuwanderung - in der Wahrnehmung vieler wird da nicht differenziert

Ob in Deutschland hingegen von den Bürgern überhaupt noch zwischen illegaler Migration, Asylmissbrauch und qualifizierter Zuwanderung unterschieden wird, erscheint zumindest in den drei Bundesländern fraglich zu sein, die im Spätsommer die AfD und das wohl nicht minder ausländerfeindliche BSW zur stärksten politischen Kraft in Ost- und Mitteldeutschland gewählt haben. Deren Parteienvertreter wie der AfD-Vorsitzende in Thüringen, Björn Höcke, haben bekanntlich selbst die Unternehmerschaft deutlich wissen lassen, dass sie deren Personalprobleme weder teilen noch lösen möchten. Kritischen Unternehmern aus Reihen der Familienunternehmer und namentlich etwa des Werkzeugherstellers Stihl wünschte Höcke öffentlich alles nur erdenklich Schlechte. Die womögliche Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über Migration und Zuwanderung scheint in der Koalition indessen keiner mehr für nötig zu halten. Deutschland wird offiziell seit 2001 als Einwanderungsland wie etwa die USA geführt - und das war es dann. Ob sich dazu ein Konsens wirklich verfestigt im Lande, wäre zwar wünschenswert, bleibt jedoch abzuwarten.

 

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Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.


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