Weltwirtschaft

Energiestratege Jonathan Waghorn: „Russisches Gas wird keine zentrale Rolle mehr im europäischen Energiemix spielen“

Lesezeit: 6 min
10.11.2024 16:12
Jonathan Waghorn, Energiestratege und Portfoliomanager beim Londoner Vermögensverwalter Guinness Global Investors, spricht im DWN-Interview über die Zukunft der globalen Energienachfrage, die Schlüsselfaktoren, die Investitionen in erneuerbare Energien und fossile Brennstoffe beeinflussen – und warum russisches Gas keine primäre Rolle mehr im europäischen Energiemix spielen wird.
Energiestratege Jonathan Waghorn: „Russisches Gas wird keine zentrale Rolle mehr im europäischen Energiemix spielen“
Alexej Miller, Chef des russischen Gaskonzerns „Gazprom“, nimmt an einer Unterzeichnungszeremonie auf dem Internationalen Gasforum teil (Foto: dpa).

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DWN: Herr Waghorn, wie schätzen Sie die kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen des Klimawandels auf die weltweite Energienachfrage ein, insbesondere auf fossile Brennstoffe wie Erdöl?

Jonathan Waghorn: Der Klimawandel hat zweifellos Auswirkungen auf die globale Energielandschaft. Wir bei Guinness beschäftigen uns sowohl mit konventionellen als auch mit erneuerbaren Energien und sind daher weder für die eine noch für die andere Seite voreingenommen. Tatsache ist, dass der weltweite Ölbedarf derzeit bei etwa 102 Millionen Barrel pro Tag liegt. Unsere Prognosen bis zum Jahr 2050 geht davon aus, dass der Bedarf auf etwa 80 Millionen Barrel pro Tag sinken wird, also um etwa 20 bis 25 Prozent. Momentan wird der Ölverbrauch vom Verkehrssektor dominiert, auf den rund 70 Prozent des Gesamtverbrauchs entfallen, davon 25 Prozent auf private Pkw.

Trotz zunehmender Elektromobilität, die bis 2030 einen Anteil von 50 Prozent und bis 2040 von 100 Prozent erreichen soll, wird der Ölbedarf also weiterhin hoch bleiben. Wir gehen davon aus, dass im Jahr 2050 weltweit noch rund 500 Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs sein werden. Wir gehen davon aus, dass die Ölnachfrage um das Jahr 2030 ihren Höhepunkt bei etwa 108 Millionen Barrel pro Tag erreicht und danach allmählich zurückgehen wird.

DWN: Angesichts dieser Prognose: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Reduzierung des Ölverbrauchs?

Waghorn: Eine der größten Herausforderungen bei der Reduzierung des Ölverbrauchs liegt in der langsamen Umstellung in bestimmten Sektoren. Während die Elektrifizierung bei Pkw rasch voranschreitet, bleiben andere Verkehrssektoren wie Lkw, Luftfahrt und Schifffahrt noch stark auf Öl angewiesen. Auch die Industrie, insbesondere die Petrochemie, ist weiterhin stark vom Öl abhängig. Erneuerbare Energien und Elektromobilität werden langfristig die Nachfrage beeinflussen, aber es wird dauern, bis sich diese Veränderungen in einem deutlichen Rückgang des Ölverbrauchs niederschlagen.

DWN: Welche Rolle spielen politische Faktoren wie geopolitische Spannungen und die bevorstehenden US-Wahlen bei Investitionen in erneuerbare Energien und fossile Brennstoffe?

Waghorn: Geopolitische Spannungen und Wahlen beeinflussen definitiv die Energieinvestitionen. So ist beispielsweise die Energiesicherheit zu einer der wichtigsten Triebfedern der Energiewende geworden, die die Länder dazu veranlasst, sich von der Abhängigkeit von externen Lieferanten fossiler Brennstoffe wie der OPEC oder Russland zu lösen. Stattdessen werden erneuerbare Energieträger zunehmend als Möglichkeit gesehen, die Energieunabhängigkeit zu erhöhen, was ihr Wachstum unabhängig von politischen Unsicherheiten unterstützt. Fossile Brennstoffe werden jedoch weiterhin eine Rolle spielen, da die globale Energiewende in den einzelnen Regionen unterschiedlich schnell voranschreitet.

DWN: In den Schwellenländern steigt die Energienachfrage weiterhin schnell an. Wie können diese Länder ihr Wirtschaftswachstum und den Übergang zu nachhaltigen Energiequellen miteinander vereinbaren?

Waghorn: Tatsächlich stehen Schwellenländer vor der Herausforderung, Wachstum und Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen. Dafür müssen Sie in zugängliche und erschwingliche Energielösungen investieren, was bedeutet, dass erneuerbare Energien eine wichtige Rolle spielen können. Kurzfristig werden jedoch weiterhin fossile Brennstoffe benötigt, um ihren Bedarf zu decken. Um dieses Gleichgewicht zu erreichen, müssen die Regierungen Investitionen in erneuerbare Energien und Verbesserungen der Energieeffizienz unterstützen.

DWN: Die Kosten für erneuerbare Energien sind erheblich gesunken. Wie sehen Sie die Wettbewerbsfähigkeit von Öl gegenüber Wind- und Solarenergie in den nächsten zehn Jahren?

Waghorn: Wind- und Solarenergie gehören heute in vielen Stromnetzen zu den günstigsten Energiequellen, und wir erwarten, dass sich ihre Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden zehn Jahren weiter verbessern wird. Das Erreichen eines Stromnetzes, das zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien besteht, wird jedoch immer kostspieliger, da erhebliche Speicherkapazitäten erforderlich sind. Mit dem Wachstum der erneuerbaren Energien müssen die Stromnetze flexibel bleiben, und Erdgas wird wahrscheinlich weiterhin eine wichtige Rolle als Backup spielen. Wir gehen davon aus, dass ein Mix aus Technologien, einschließlich erneuerbarer Energien, deren Speicherung sowie Gas, eine wirtschaftlich machbare Energiewende ermöglichen wird.

DWN: Während der Markt für Elektrofahrzeuge wächst, sind andere Sektoren wie die Industrie und die Luftfahrt immer noch stark von Öl abhängig. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Ölnachfrage in diesen Sektoren in den kommenden Jahren entwickeln?

Waghorn: Die Abkehr vom Öl in Sektoren wie der Luftfahrt, der Schifffahrt und der Schwerindustrie vollzieht sich deutlich langsamer, da es in diesen Sektoren technische und wirtschaftliche Hindernisse für die Umstellung auf Alternativen wie Wasserstoff oder Erneuerbare gibt. Es werden zwar Fortschritte gemacht, aber die Ölnachfrage in diesen Bereichen dürfte mittelfristig stabil bleiben. Langfristige Veränderungen werden von der Geschwindigkeit der technologischen Durchbrüche und der politischen Entwicklungen abhängen.

DWN: Welche Strategien sollten Energieunternehmen verfolgen, um in diesem Umfeld aus Energiewende, Klimawandel und geopolitischen Herausforderungen wettbewerbsfähig zu bleiben?

Waghorn: Energieunternehmen müssen ihre Portfolios diversifizieren und in erneuerbare Energien und kohlenstoffarme Lösungen investieren. Wir bei Guinness verfolgen einen ausgewogenen Ansatz und investieren auf der Grundlage unserer Angebots-Nachfrage-Modelle in konventionelle und erneuerbare Energiequellen. Die Unternehmen sollten finanzielle Disziplin wahren, flexibel auf geopolitische Veränderungen reagieren und sich auf die Verbesserung der Effizienz konzentrieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

DWN: Derzeit erlebt die Kernenergie ein Comeback, auch aufgrund des steigenden Energiebedarfs durch KI. Wie bewerten Sie die künftige Rolle von Atomkraft und welche Auswirkungen könnten steigende Investitionen in die Kernenergie auf den Energiemarkt haben?

Waghorn: Die Kernenergie erfährt in der Tat ein neues Interesse, da die Nachfrage nach stabilen, kohlenstofffreien Energiequellen steigt. Mit dem wachsenden Energiebedarf, der durch KI und Rechenzentren getrieben wird, wenden sich Unternehmen wie Microsoft der Kernenergie zu, um eine zuverlässige und saubere Energieversorgung zu gewährleisten. Allerdings sollten wir pragmatisch bleiben. Nuklearprojekte sind nach wie vor mit hohen Kosten und erheblichen Verzögerungen verbunden, was ihre Rentabilität beeinträchtigt. Selbst die kürzlich entwickelten kleinen modularen Reaktoren (SMR) werden frühestens Mitte des nächsten Jahrzehnts in Betrieb gehen. Trotz dieser Herausforderungen bleibt die Kernenergie eine kohlenstofffreie Basistechnologie und wird auch in Zukunft eine Rolle spielen, insbesondere bei der Stabilisierung des Stromnetzes.

DWN: In Deutschland schwelt die Debatte über die Wiedereinführung von russischem Gas, vor allem durch den jüngsten Wahlerfolg des Bündnisses Sarah Wagenknecht (BSW), das sich für dessen Rückkehr einsetzt. Wie realistisch ist es, dass russisches Gas in Deutschland wieder eine zentrale Rolle spielen wird, und welche Auswirkungen könnte dies auf die europäische Energiesicherheit haben?

Waghorn: Das ist ein interessantes Thema, aber bei Guinness gehen wir nicht davon aus, dass russisches Gas wieder eine zentrale Rolle in der europäischen Energieversorgung spielen wird. Sorgen um die Energiesicherheit treiben die Energiewende voran. Die europäischen Länder konzentrieren sich jetzt darauf, ihre Energieunabhängigkeit durch erneuerbare Energien und Effizienzsteigerungen zu verbessern. Zwar gibt es immer noch bestehende Verträge für russisches Gas, wie der derzeitige Anteil von 10 Prozent an der europäischen Nachfrage, doch rechnen wir mit einem weiteren Rückgang, da sich die Länder von der Abhängigkeit von externen Lieferanten lösen.

DWN: Die deutsche Regierung hat kürzlich ihre Wasserstoff-Strategie vorgestellt, mit dem Ziel, bis 2030 eine umfassende Infrastruktur aufzubauen. Wie fügt sich Wasserstoff in den breiteren Energiewandel ein, und welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie beim Hochfahren der Wasserstoffproduktion?

Jonathan Waghorn: Wasserstoff wird oft als das „Schweizer Taschenmesser“ der Energiewende bezeichnet, weil er so vielseitig einsetzbar ist. Er spielt eine entscheidende Rolle bei der Dekarbonisierung von Sektoren wie der Schwerindustrie und dem Transport, wo Eletromobilität nicht praktikabel ist. Die Herausforderung liegt in den derzeitigen Kosten – die Produktion von grünem Wasserstoff durch Elektrolyse ist noch sehr teuer. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energiekapazitäten ergibt es jedoch Sinn, überschüssigen Ökostrom zur Wasserstoffproduktion mittels Elektrolyse zu nutzen. Dies ermöglicht es, überschüssige Elektrizität in grünen Wasserstoff umzuwandeln, das gut in die bestehende Energieinfrastruktur, von Pipelines bis hin zu industriellen Prozessen, passt. Der Schlüssel zum Erfolg wird jedoch die Unterstützung durch die Regierung, Investitionen und die schrittweise Senkung der Kosten sein.

DWN: Letzte Frage. Wie sehen Sie die Rolle internationalen Klimaabkommen bei der Gestaltung der zukünftigen globalen Energiepolitik?

Waghorn: Internationale Klimaabkommen wie das Pariser Abkommen sind wichtig, um das Tempo der Energiewende vorzugeben, aber letztlich sind es die wirtschaftlichen Faktoren, die die Investitionen antreiben. Erneuerbare Energien sind heute schon günstiger als viele andere Energiequellen, und Elektrofahrzeuge erreichen bald die Kostengleichheit mit Verbrennungsmotoren. Die Klimapolitik dient dabei als Beschleuniger und lenkt die Märkte in Richtung nachhaltiger Lösungen. Als Investoren konzentrieren wir uns jedoch darauf, dass diese Lösungen wirtschaftlich tragfähig sind, und verlassen uns nicht nur auf politisch motivierte Subventionen.

DWN: Herr Waghorn, vielen Dank für das Gespräch.

Info Zur Person: Jonathan Waghorn ist Portfoliomanager für die Guinness Global Energy Strategy und die Guinness Sustainable Energy Strategy bei Guinness Global Investors in London. Vor seinem Wechsel zu Guinness war er Co-Leiter der Energieaktienforschung bei Goldman Sachs und Co-Portfoliomanager des Investec Global Energy Fund. Seine Karriere begann er als Bohringenieur in der niederländischen Nordsee bei Shell. Jonathan Waghorn hat einen Master-Abschluss in Physik und gilt als ausgewiesener Experte für die Märkte traditioneller und erneuerbarer Energien.


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