Panorama

Dornröschen der Altmark: Wie Stendal nach Jahren im Abseits Wirtschaftsstandort wird

Der Zug von Berlin in den Westen führt schon lange Jahre über Stendal nach Wolfsburg und dann Hannover. Neuerdings hält auch der ICE von Hamburg dort, weil auf der Stammstrecke über Wittenberge an Gleisen und Anlagen gewerkelt wird. Beste Chancen, einmal auszusteigen, um die Mittelstadt in Sachsen-Anhalt zu besichtigen und kennenzulernen. Das dachte sich auch der Berliner Journalistenverband im DJV und organisierte eine Exkursion. Stellt sich danach die drängende Frage: Wieso hat Deutschland die Perle der Altmark so lange übersehen können?
17.11.2024 16:32
Lesezeit: 7 min
Dornröschen der Altmark: Wie Stendal nach Jahren im Abseits Wirtschaftsstandort  wird
Plötzlich sichtbar und eine Überraschung: Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) begrüßt Teilnehmer des Festumzuges am Sachsen-Anhalt-Tag in Stendal. (Fotos: dpa) Foto: Matthias Bein

Die Historie hat Stendal gleich mehrfach übel mitgespielt. Vom Krieg fast vollständig verschont geblieben, ist die Perle der Altmark Jahrzehnte lang übersehen worden - von Wirtschaftsansiedlungen unbeleckt und Touristen nahezu unberührt, und ja, man möchte sagen, auch glücklich verschont geblieben. Die DDR hatte die Altstadt verrotten lassen. Im Wendejahr standen die Bagger bereit, tabula rasa zu machen und Platz zu schaffen, für eine typisch sozialistische Musterstadt. Dann kam die Wende - und alles anders. Ein Glücksfall der Geschichte, der freilich die Stadt und den Verantwortlichen in eine eigenartige Lethargie versetzte. Die einstige Hansestadt (1356-1518), im Mittelalter eine der zehn größten Städte in deutschen Landen und für seine Stendaler Laken bekannt (wie Manchester später für den Tweed), was tatsächlich nur wenige überhaupt wissen, fiel in einen wirtschaftlichen Dornröschenschlaf.

Das hatte viel damit zu tun, dass zu DDR-Zeiten die SED-Oberen und vor allem der Ministerrat der DDR der Stadt eine strahlende Zukunft aufzeichneten und versprochen hatten. Im wahrsten Sinne des Wortes! Bei Arneburg, 15 Kilometer nördlich der Altstadt Stendals, wurde Mitte der 70er-Jahre der Ort Niedergörne am östlichen Ufer der Elbe weggebaggert und ein künstlicher Hafen angelegt, um dort ein Kernkraftwerk sowjetischer Bauart zu errichten. Das Kraftwerk sollte das größte Atomkraftwerk der DDR werden. Nach der Fertigstellung wäre die Anlage mit einer elektrischen Gesamtleistung von 4000 Megawatt sogar eines der größten Kernkraftwerke Deutschlands geworden. Stendal sollte auf mehr als 50,000 Bewohner anwachsen. Deshalb wurde am südlichen Stadtsee eine sozialistische Plattensiedlung geplant und vorausschauend auf die grüne Wiese gestellt. Doch dann kam alles anders.

Warum die zur DDR-Zeiten geplanten Plattenbauten am Stadtsee zu gut 90 Prozent abgerissen wurden

Bedingt durch den Mauerfall in Berlin vor 35 Jahren, wurde das Projekt jedoch kurz vor Fertigstellung ad acta gelegt, Kraftwerk und Kühltürme wurden größtenteils abgerissen. Heute werden dort am Elbufer Papier- und Zellstoffprodukte hergestellt. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) ist einst persönlich eingeflogen worden, um die von der Treuhand vorbereitete Ost-Ansiedlung zu eröffnen und als großen Erfolg der Einheit zu feiern. Lange ist es her. Immerhin verfügt Stendal dort aber heute über ein riesiges Gewerbeareal, dass über all die Jahre (weitflächig auf über 1000 Hektar) sogar von Windkraftanlagen verschont geblieben ist und nun nach einer Neubestimmung und wirtschaftlichen Perspektive trachtet. Die Mustersiedlung mit den Plattenbau-Wohnungen wurde nie bezogen, stand lange leer und wiurde schließlich zu fast 90 Prozent rückgebaut, sprich abgerissen. Was für eine Verschwendung - damals ahnte noch niemand, dass es für den Wohnraum heute durchaus Bedarf geben würde.

Vom Krieg verschont, zu DDR-Zeiten im Märchenschloss gefangen, sucht Stendal eine Perspektive

Im Rathaus hat man sich mit Ideen für eine Nachnutzung Zeit gelassen. Die Mittelstadt nahe der Elbe und ihre nur noch 38.000 Bürger (oder auch 41.000 nach Angaben aus dem Rathaus, wo der Zensus in Frage gestellt wird) war seit dem Aus des AKW überwiegend erst einmal mit sich selbst beschäftigt und hat mit viel Sinn fürs Detail ihre pittoreske Altstadt saniert. Man fragt sich unweigerlich, wie es die Stadt dabei - still und heimlich - geschafft hat, sich beinahe so wie Görlitz an der Neiße herauszuputzen, ohne freilich zum von West-Rentnern überlaufenen Touristen-Hotspot geworden zu sein. Erst seitdem der typische Backstein-Bahnhof wieder saniert ist und die altehrwürdigen Bahnsteig-Dächer in alter Pracht erstrahlen, steigen plötzlich mehr und mehr neugierige Besucher aus, um den Ort zu erkunden. Mit dem Bildhauer Arne Marzahn hat das Rathaus inzwischen sogar einen Stadtbilderklärer fest angestellt, der täglich um Punkt 11 Uhr Besuchern zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt führt. Auch Dompfarrer Markus Schütte freut sich, Besuchern den Stendaler Dom zu zeigen, an dessen Frontseite „wie selbstverständlich zwei Davidsterne prangen - wo sonst gibt es das?"

Jetzt, nach absolvierter 1000-Jahr-Feier und reichlich Aufmerksamkeit wegen eines Besuches von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers und dem Sachsen-Anhalt-Tag im August 2024 (in Anwesenheit des Ministerpräsidenten Reiner Haseloff von der CDU), hat der junge, ehrgeizige, parteilose neue Bürgermeister Bastian Sieler entschieden, endlich nicht länger abzuwarten und passiv zu verharren, sondern aktiv um Firmenansiedlungen zu werben. In Berlin präsentierte er sich und die aufstrebende Stadt. Vertreter des Deutschen Journalisten-Verbandes war so beeindruckt, dass sich ein Stoßtrupp Journalisten der Sektion Berlin/Brandenburg zu einer Exkursion nach Stendal aufgemacht hat. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten waren mit dabei auf Landpartie und wurden von Möglichkeiten und Ansichten in Stendal regelrecht verblüfft.

So hat die Stadt mit der bic-Altmark ein Innovations- und Gründungszentrum aus der Taufe gehoben, dass künftig auf Messen, Kongressen und wirtschaftlichen Präsentationen der Landesregierung in die Offensive gehen soll. Die Ratio ist recht eindringlich: Nachdem sich nämlich das „mit der erhofften Chip-Fabrik von Intel in Magdeburg als trügerisch erweist“ und plötzlich „selbst die Zukunft von VW in Wolfsburg fragwürdig“ scheint, ist Stendal angesichts immer niedriger werdenden Einahmen bei durch höhere Sozialkosten steigenden Ausgaben zum Umdenken gezwungen. So fasst es Matthias Schulz, der Geschäftsführer des Innovationszentrums, zusammen.

Bei Kürbissuppe und Kaffee bekannte Schulz in einer städtischen Galerie am Winckelmannplatz, dem aus Stendal stammenden Archäologen, offen und freimütig: „Noch sind wir auf der Suche nach unserem Profil“, so Schulz, „Stendal steht bislang für noch nichts!" Doch die von seinem Team gesammelten Fakten nähren die Zuversicht, dass Stendal als Spätstarter in punkto Wirtschaftsansiedlung zügig aufholen könnte. Als Geheimwaffe muss Schulz eigentlich nur seine stilisierte Landkarte mit den Entfernungen zu den umliegenden Ballungsräumen auf den Bildschirm zaubern und die mit Eddingstift markierten Verkehrsanbindungen aufzeigen, die derzeit entweder wie die Autobahn neu gebaut oder wie der alte Bahnknoten reaktiviert werden.

„Halt im Nirgendwo“? Nur wenn man nie zuvor ausgestiegen ist - am Hauptbahnhof

Was Sieler und Schulz potenziellen Investoren anzupreisen haben, kann sich sehen lassen. „Wir produzieren hier 460 Prozent mehr Strom durch Wind- und Solaranlagen, als wir selbst verbrauchen, sind damit energetisch autark“, so Schulz. Wo in ganz Deutschland gibt es noch („für gerade mal 35 Euro den Quadratmeter“) Reserve- und Freifläche für gleich zwei Gewerbegebiete, die Ansiedlung und den Bau von Einfamilienhäusern am Stadtsee, Wohnraum für junge Studenten und sogar Berufspendler aus den nicht mal eine Stunde entfernten Großstädten Berlin, Hamburg und Hannover? „Wir brauchen junge Leute, das Humankapital fehlt“, gesteht Bürgermeister Sieler. Im Gegenzug bietet Stendal „die Vollversorung bei Kita-Plätzen“.

Wer einmal am Hauptbahnhof aussteigt, um sich selbst ein Bild zu machen, wird perplex sein. „Jobmesse - Rückkehertag am 27. Dezember im Landratsamt STendal", heißt es da auf einem blauen Plakat, mitten auf dem Bahnhofsvoplatz platziert. Die Stadt verfügt über beste Anbindungen an das ost-westliche ICE-Netz und schon bald wird endlich auch der Autobahnanschluss zur A14 von Schwerin nach Mitteldeutschland freigegeben. Dann ist Stendal nicht mehr jottwede, weder Terra incognita, noch ein „Halt im Nirgendwo“, wie es in einem Beitrag der Zeit“ hieß, sondern wahrscheinlich für Entwickler und Investoren ein echter Geheimtipp.

Wobei die Sache mit der Eisenbahn derzeit noch ein zweischneidiges Schwert ist. Die Ost-West-Verbindung mit quicken ICE von Berlin nach Niedersachsen, den auch mittlerweile so einige in Stendal lebende Pendler zum VW-Werk in Wolfsburg nutzen, ist seit Sommer nämlich für gut zwei Jahre in Frequenz und Zuverlässigkeit erheblich beeinträchtigt. Der Grund: Die 278 Kilometer lange Eisenbahnverbindung zwischen Hamburg und Berlin gilt als hochbelastet. Dort ist die Frequenz in den vergangenen Jahren auf 230 Züge und bis zu 30.000 Fahrgäste täglich gestiegen, womit die Direktverbindung der beiden größten deutschen Metropolen absoluter Spitzenreiter in Deutschland ist.

Gerade mal 20 Jahre ist erst her, als die Achse - in Folge der Deutschen Einheit - ausgebaut worden und vorübergehend sogar für eine Transrapid-Verbindung im Gespräch war. Nun ist sie bereits dermaßen verschlissen, dass sie gut zwei Jahre lang für den von Bahn in Aussicht gestellten bundesweiten Deutschlandtakt ertüchtigt werden muss. Die Generalsanierung soll von August 2025 bis April 2026 andauern - also gut neun Monate lang. Seit August 2024 sind schon erste Erneuerungsmaßnahmen in vollem Gange, weshalb die Stammstrecke Berlin-Hamburg über Wittenberge und Büchen derzeit total gesperrt ist. Die Umleitung läuft noch bis Mitte Dezember (und dann im kommenden Jahr richtig lange) über die alte „Amerikabahn“ und den Knoten Stendal westwärts an die Nordsee. Plötzlich scheint es so, als wäre ein Scheinwerfer auf die fast vergessene Hansestadt nahe der Elbe und ihre verkehrstechnische Scharnier-Funktion während des Kaiserreiches und Weimarer Republik gerichtet.

Als der Knoten Stendal Zwischenstopp für Auswanderer auf der Amerikabahn nach Bremerhaven war

Apropos Amerikalinie: Was nostalgisch an die historische, früher vielfach von USA-Einwanderern genutzte Bahnstrecke zu den Nordsee-Häfen erinnert, wird in wenigen Jahren eine neue Bedeutung als Resilienzstrecke (Ostkorridor Nord) der Bahn und insbesondere den Güterverkehr in Richtung Hamburg und Küste bekommen. Die alte Amerikalinie führt über die Altmark von Salzwedel, Uelzen über Soltau nach Langwedel an die Weser - und wird derzeit endlich zweispurig ausgebaut, was der Stecke neue Perspektiven und verkürzte Fahrtzeiten in Aussicht stellt. Wie einst im Kaiserreich wäre damit wieder die Verbindung zu den Seehäfen an der Deutschen Bucht wiederhergestellt. Wie einst, als Auswanderer aus dem Osten des Reiches, ja sogar aus Russland und Galizien, über Spandau-Ruhleben (bei Berlin) nach Bremen und Bremerhaven dampften, um an der Lloydhalle und ab 1927 an der berühmten Columbuskaje Anschluss an die Auswandererschiffe nach Amerika zu erlangen.

Noch ist vieles Zukunftsmusik. Die A14 etwa wird noch lange Jahre brauchen, bis auch die letzten fehlenden Abschnitte in Richtung Schwerin und endlich über die Elbe hinweg fertigestellt werden. Auch der Deutschlandtakt ist bislang eher ein Hoffnungsposten, an dem sich unsere Politik und die Bahn AG bei ihren Klimaschutz-Zielen klammern. Auch Bauministerin Klara Geywitz von der SPD, die stets die Wohnungssuchenden in die Provinz und dort leerstehende Wohnungen umleiten wollte, hat ihre Chance für eine Modellprojekt in Stendal verpasst und ist nun schon bald wieder eine vergessene Person der Zeitgeschichte. Doch immerhin hat sich Stendal mit seinen vier stattlichen Kirchen in der Altstadt berappelt, um endlich inmitten der Deutschland-Karte zu reüssieren - für Besucher, oder auch Familen, die ein idyllisches neues Zuhause suchen - mit perspektivisch allerbestem Anschluss nach Berlin, Hamburg, Hannover.

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Peter Schubert

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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