Die vorgezogenen Neuwahlen symbolisieren den zerrissenen Zustand des Landes: Politik und Gesellschaft driften auseinander. Deutschland ist buchstäblich von der großen Transformation erschöpft und ausgelaugt. Regierende und Medien erreichen den Bürger schon lange nicht mehr. Viele Menschen werfen den Regierenden Realitätsferne vor und fühlen sich von den Volksparteien nicht gehört oder repräsentiert. Umfrageergebnisse sagen einen alarmierenden Anstieg der Nichtwähler auf 25 Prozent für das Bundestagswahl 2025 voraus. Es herrscht Misstrauen und Politikverdrossenheit. Umso wichtiger, als Bürger nicht nur zu schimpfen, sondern selbst politisch zu handeln, damit sich was ändert. Und das ist dringend notwendig. Es braucht wieder viel mehr bodenständige Vernunft und Normalität. Wie das gehen kann?
Nicht nur reden, sondern handeln: Politik selbst aktiv gestalten
Allein zur Bundestagswahl am 23. Februar sind bundesweit mehr als 675.000 ehrenamtliche Wahlhelferinnen und Wahlhelfer im Einsatz. Doch das politische Engagement muss danach nicht enden, denn auch andere politische Ämter können in Städten und Landkreisen ehrenamtlich ausgeübt werden. Das ist die Basis jeder politischen Partei, das freiwillige Engagement der Menschen in den Orts- und Kreisverbänden. Dort können Sie als Ehrenamtlicher sogar den verantwortungsvollen Posten als Bürgermeisterin und Bürgermeister ausüben – und das auch ohne Parteibuch.
Der ehrenamtliche Bürgermeister – das unbekannte Wesen
In Deutschland gibt es rund 11.475 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Was die wenigsten wissen: 8035 von ihnen führen das Amt ehrenamtlich aus – und das oft neben ihrem Beruf. Fast 60 Prozent opfern ihre Freizeit für die Gemeinde! Sie sind nicht hauptamtlich tätig und werden direkt von der Bürgerschaft oder dem Rat zum Bürgermeister einer Gemeinde oder Stadt gewählt.
Doch wie lassen sich Beruf, Ehrenamt und familiäre Verpflichtungen miteinander vereinbaren? Wer sie sind, was sie antreibt und wo der Schuh drückt, beleuchtet eine aufschlussreiche Studie der Ruhr-Universität Bochum.
Ehrenamt Bürgermeister – volksnah und ohne Partei im Nacken
Der typische ehrenamtliche Bürgermeister ist männlich, verheiratet, über 50 und Vater von Kindern über 14. Nur 19 Prozent der ehrenamtlichen Bürgermeister sind Frauen.
Die Amtsinhaber haben eine vermittelnde und repräsentative Funktion als Fürsprecher der Bürger – parteipolitische Programme spielen für sie keine große Rolle. Allerdings schränken Überregulierung und fehlende finanzielle Mittel ihren Gestaltungsspielraum oft stark ein. Auch ist die Vereinbarung von Familie, Hauptberuf und Ehrenamt nicht ganz einfach. Das freiwillige Engagement erfordert im Schnitt pro Woche 20 Stunden Zeitaufwand. 45 Prozent der Befragten haben ihren Hauptberuf sogar zugunsten des Ehrenamts reduziert. 27 Prozent gaben an, nicht berufstätig zu sein, die meisten von ihnen sind bereits Rentner.
Das Ehrenamt als Bürgermeister oder Gemeindevorsteher wird mit einer Aufwandspauschale vergütet. Die Höhe ist in jedem Bundesland unterschiedlich und hängt auch von der Größe der Kommune ab.
Ehrenamtliche Bürgermeister in den Bundesländern
In Hessen, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg gibt es diese Position nicht. In den anderen Bundesländern gibt es erhebliche Unterschiede im Anteil der Kommunen mit ehrenamtlichen Bürgermeister – von 98 Prozent in Rheinland-Pfalz bis zu 6 Prozent in Baden-Württemberg.
Die meisten ehrenamtlichen Bürgermeister stehen kleinen Kommunen in ländlichen Gebieten vor. Die durchschnittliche Einwohnerzahl beträgt 1.230. Wenn auch 60 Prozent aller Kommunen in Deutschland von ehrenamtlichen Bürgermeister verwaltet werden, so leben nur 10 Prozent der Bevölkerung Deutschlands in einer solchen Kommune.
Ehrenamtliche Bürgermeister: Scharnierfunktion im System
Ehrenamtliche Bürgermeister nehmen eine wichtige Rolle für die politische Repräsentation zwischen verschiedenen Ebenen in Politik und Verwaltung, Akteuren und Interessen ein. Die wichtigsten Aufgaben sind Ansprechpartner und Fürsprecher der Bürger zu sein, die Beschlüsse des Gemeinderates umzusetzen, neue Projekte zu fördern und dabei die Selbstständigkeit der Gemeinde zu wahren.
Eigene politische Vorstellungen oder das Programm ihrer Partei umzusetzen, spielte für die meisten eine geringere Rolle. Parteien sind in kleinen Gemeinden sogar noch unwichtiger. Nur etwa ein Drittel der ehrenamtlichen Bürgermeister sind Mitglied einer Partei oder Wählervereinigung – und das überwiegend schon lange, im Durchschnitt knapp 20 Jahre. Die meisten wurden auch von diesen Institutionen als Bürgermeisterkandidat nominiert, aber nicht alle: Besonders in kleinen Gemeinden scheint die Personenorientierung bei der Direktwahl bedeutender zu sein als die Mitgliedschaft.
Bürgermeisteramt: Anspruchshaltung der Bürger wächst
Die ehrenamtlichen Bürgermeister werden in ihren Gemeinden mehr respektiert als die Regierenden in Berlin. Doch auch vor Ort zeigt sich, dass die Erwartungen der Bürger an das Amt in den vergangenen Jahren gewachsen sind. Diese Anspruchshaltung und auch die hitzige Diskussionskultur im Alltag hält viele Ehrenamtliche davon ab, erneut zu kandidieren: Nur 34 Prozent möchten erneut kandidieren, 37 Prozent sind unsicher. 27 Prozent schließen eine weitere Kandidatur aus. Über 70 Prozent befürchten sogar, dass sich künftig keine passenden Nachfolger für das Amt finden werden. Ein Grund könnten die steigenden Anfeindungen sein und auch das veraltete Bild, das viele noch von dem Bürgermeisteramt im Kopf haben.
Michael Bergrab aus Lisberg: Plötzlich Bürgermeister!
Bürgermeister Michael Bergrab ist da eine große Ausnahme: Er wurde mit 22 Jahren als Deutschlands jüngster Bürgermeister vor zehn Jahren ins Amt gewählt. Und obwohl der Ton rauer geworden ist, macht ihm das Amt Freude: „Man hat einen Blumenstrauß an Möglichkeiten, die Kommune zu prägen und zu gestalten.“
Zwischen 15 und 40 Stunden in der Woche widmet Michael Bergrab seinem Ehrenamt als Bürgermeister – und das neben einer 30-Stunden-Teilzeitstelle beim Leibniz-Institut. Bergrab wurde vor zehn Jahren als Bürgermeister in Lisberg, einer 1.700 Einwohner starken Gemeinde im Landkreis Bamberg in Bayern, gewählt.
Aber auch ihm sind Anfeindungen nicht fremd: „Der Vorteil vom Ehrenamt, dass man in seiner Gemeinde verwurzelt ist, zählt für viele auch gar nicht mehr“, so Bergrab. „Man merkt schon, dass man keinen Respekt mehr gegenüber Amtsträgern hat.“ Er habe mit Kolleginnen gesprochen, die sogar Schweinsköpfe vor der Tür hatten. Aus seiner Sicht sei es in erster Linie wichtig, miteinander zu sprechen und zu diskutieren.
Unsere Demokratie steht unter Druck
Auch die jüngste Statistik zur politisch motivierten Kriminalität in Deutschland 2023 bestätigt: Unsere Demokratie steht unter Druck. Leidtragende sind leider oft Ehrenamtliche, die die Wut der Bürger oft direkt vor Ort auffangen: Über die Hälfte (55 Prozent) der Befragten gaben an, mindestens einmal Erfahrungen mit Anfeindungen oder Hass im Amt gemacht zu haben, ein Drittel sogar mehrfach. Und das, obwohl sie ehrenamtlich und für wenig Geld Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Sie handeln aus Idealismus und haben eine starke Bindung zu ihrer Gemeinde. Der Staat und die Politik müssen das Ehrenamt besser schützen. Es ist ihre Verantwortung.
Innenministerin Faeser: „Das Ehrenamt ist das Rückgrat unserer Demokratie! Es knüpft ein Band des Miteinanders, das unsere Gesellschaft verbindet und stärker macht.“
Dem gewachsenen Anspruchsdenken der Bürger und der verhärteten Diskussionskultur im Alltag sollte man durch bessere Aufklärung über die Aufgaben und Kompetenzen von Bürgermeister entgegentreten, um mehr Verständnis für die ehrenamtliche Position zu erzeugen.