EU startet 150-Mrd.-Rüstungsfonds ohne Parlament
Mit beispielloser Geschwindigkeit und unter Umgehung des Europäischen Parlaments hat die EU eine Verordnung verabschiedet, auf deren Grundlage nun ein 150 Milliarden Euro schweres Kreditprogramm für gemeinsame militärisch-verteidigungspolitische Beschaffungen in Kraft getreten ist. Und das wirft Fragen auf...
- Nach welcher Logik wurde das Programm mit dem Namen SAFE konzipiert?
- Woher will die EU das Geld nehmen?
- Unter welchen Bedingungen können Mitgliedstaaten Kredite für gemeinsame Rüstungsprojekte erhalten?
- Und welche Arten von Projekten sollen finanziert werden?
Zielsetzung: Beschleunigung gemeinsamer Rüstungsprojekte
Mit dem SAFE-Programm will die EU nicht nur die kollektive Beschaffung von Verteidigungsgütern beschleunigen, sondern auch die industrielle Rüstungsbasis stärken, Lieferketten absichern und die Produktion hochfahren. Es soll finanzielle Unterstützung für dringend notwendige und umfangreiche öffentliche Investitionen zur Förderung der europäischen Verteidigungsindustrie leisten – so die offizielle Begründung der EU-Kommission. Die Regelung ist befristet und gilt bis Ende 2030.
Ausnahmezustand als Rechtfertigung
Die EU begründet das Verfahren mit einer »dringenden und existenziellen Herausforderung«. Seit Anfang 2025 hätten sich die Sicherheitsbedingungen in der Union deutlich verschlechtert – aufgrund der anhaltenden Bedrohung durch Russland, dessen Umstellung auf Kriegswirtschaft und der Eskalation des Ukraine-Krieges. Zudem erhöhe die geopolitische Lage die Notwendigkeit, die autonome Verteidigungsfähigkeit der EU erheblich auszubauen.
Bedingungen für Kreditvergabe
Mitgliedstaaten können Kredite aus dem SAFE-Programm nur beantragen, wenn ihre Projekte strategischen Zielen dienen – etwa der Umstrukturierung der Verteidigungsindustrie, dem Aufbau neuer oder dem Ausbau bestehender Produktionskapazitäten, der Verkürzung von Lieferfristen, der Einrichtung von Produktionsreserven oder der Schaffung interoperabler Systeme innerhalb der EU.
Parlament ausgeschlossen, Klage angekündigt
Die Kommission hat sich für ein Notfallverfahren gemäß Artikel 122 des EU-Vertrags entschieden – normalerweise vorgesehen bei gravierenden Versorgungsproblemen oder Naturkatastrophen. Damit wurde das Europäische Parlament vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Eine von diesem angekündigte Klage hat keine aufschiebende Wirkung.
Finanzierung: Kreditaufnahme durch die EU
Die Kommission wird die 150 Milliarden Euro auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstitutionen aufnehmen. Der Vorteil: Die EU besitzt die Bestnote AAA und kann sich günstiger verschulden als viele Mitgliedstaaten. Die Mittel werden dann in Form von Darlehen an interessierte Länder weitergegeben.
Gemeinsame Beschaffung als Voraussetzung
Als »gemeinsames öffentliches Beschaffungsverfahren« gilt ein Projekt nur dann, wenn mindestens zwei Staaten beteiligt sind – darunter eine EU-Mitgliedstaat mit SAFE-Finanzierung und ein weiterer Partnerstaat aus der EU, dem EWR, der EFTA oder der Ukraine. Auch Drittstaaten mit Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaften zur EU – etwa Großbritannien, Japan oder Moldau – dürfen teilnehmen.
Fallbeispiel Großbritannien
Das kürzlich geschlossene Verteidigungspartnerschaftsabkommen vom 19. Mai 2025 berechtigt Großbritannien zur Teilnahme an gemeinsamen Beschaffungsprojekten. Kredite aus SAFE sind jedoch nur für EU-Mitglieder vorgesehen. Um auch britische Hersteller in geförderte Projekte einzubinden, müsste zusätzlich ein bilaterales Abkommen zwischen EU und Vereinigtem Königreich geschlossen werden.
Antragsverfahren und Fristen
Mitgliedstaaten müssen bis spätestens 30. November 2025 einen Förderantrag samt Investitionsplan bei der Kommission einreichen. Diese wird das Vorhaben unverzüglich prüfen und bei positiver Bewertung dem EU-Rat einen Durchführungsbeschluss zur Genehmigung vorlegen. Die Entscheidung soll innerhalb von vier Wochen erfolgen.
Vorfinanzierung möglich
Bis zu 15 Prozent des beantragten Kreditbetrags können vorab ausgezahlt werden, sobald ein gültiger Darlehensvertrag vorliegt. Die Vorfinanzierung kann in einer oder mehreren Tranchen erfolgen.
Steuerliche Vorteile
Beschaffungen, Importe und innergemeinschaftliche Erwerbe von Verteidigungsgütern im Rahmen von SAFE sind von der Mehrwertsteuer befreit. Ein standardisiertes Formular für die Steuerbefreiung wird in der Verordnung mitgeliefert und muss von den nationalen Behörden abgestempelt werden.
Förderfähige Produktkategorien
Die Verordnung definiert zwei priorisierte Produktgruppen:
Erste Kategorie:
- Munition und Raketen,
- Artilleriesysteme inkl. Präzisionswaffen,
- Landkampfsysteme inkl. Ausrüstung für Infanterie,
- kleine Drohnen (NATO-Klasse 1) und Abwehrsysteme,
- Schutz kritischer Infrastruktur,
- Cyberabwehr,
- militärische Mobilität.
Zweite Kategorie:
- Luft- und Raketenabwehr,
- maritime Fähigkeiten (Über- und Unterwasser),
- größere Drohnen (NATO-Klassen 2 und 3),
- strategische Unterstützungsressourcen: Lufttransport, Luftbetankung, C4ISTAR-Systeme, Raumfahrttechnologie,
- Schutz von Weltrauminfrastruktur,
- Künstliche Intelligenz und elektronische Kriegsführung.
Herkunftsregeln und »europäische Präferenz«
Förderfähig sind nur Beschaffungen, bei denen mindestens 65 Prozent der Komponenten aus der EU, der EFTA im EWR oder der Ukraine stammen. Maximal 35 Prozent dürfen aus Drittländern kommen – und keinesfalls aus Staaten, die den Sicherheitsinteressen der EU zuwiderlaufen.
Neue Ära: Merz kündigt militärisch-industrielle Kooperation mit Ukraine an
Schon vor Inkrafttreten der SAFE-Verordnung hatte Bundeskanzler Friedrich Merz ein neues Kapitel der europäischen Verteidigungspolitik eingeläutet. Am Montag erklärte er, dass Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA der Ukraine den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen auf russischem Gebiet erlaubten. Einen Tag später betonte er in Finnland, dass diese Entscheidung bereits 2024 getroffen worden sei. Merz sagte: »Nur wer militärische Stützpunkte des Aggressors angreifen kann, ist in der Lage, sich zu verteidigen.«
Am Mittwoch kündigte Merz bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Berlin die Unterstützung Deutschlands beim Aufbau einer gemeinsamen Langstreckenwaffenproduktion mit der Ukraine an. Dies sei der Beginn einer neuen Form militärisch-industrieller Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern.