Eine der mächtigsten Frauen Europas warnt – und hofft
Margrethe Vestager kennt Europa wie kaum eine andere. Zehn Jahre lang war sie EU-Kommissarin für Wettbewerb, fünf davon Vizepräsidentin der Kommission. Nun ist sie zurück auf der öffentlichen Bühne – mit einer radikalen Analyse und optimistischen Zukunftserwartungen, die aber klare Brüche verlangen.
In einem Vortrag auf einer Konferenz der Jyske Bank – und in einem anschließenden Interview – erklärte sie nüchtern: „Das Verhältnis zu den USA ist vorbei. Wir haben das Licht hinter uns ausgemacht. Es gibt keine Beziehung mehr, zu der wir zurückkehren können.“ Das ist mehr als eine außenpolitische Einschätzung. Es ist die Grundlage für eine Neuvermessung Europas.
Kalte Erkenntnis: Die USA wollen Europa nicht mehr als Partner
Für Vestager ist klar: Das transatlantische Vertrauen war ein europäisches Wunschbild – besonders in Dänemark. Doch spätestens mit der Trump-Präsidentschaft wurde klar, dass Europa für Washington kein gleichwertiger Partner mehr ist. Strafzölle, NATO-Zweifel, Ukraine-Skepsis – all das sei kein Ausrutscher, sondern ein Strukturbruch.
Selbst unter Joe Biden blieb der wirtschaftspolitische Schulterschluss aus. In Gremien mit US-Ministern wie Blinken oder Raimondo stieß die Kommission mit Vorschlägen für gegenseitige Maschinenzulassungen auf taube Ohren. Fazit: Auch die demokratisch regierte USA wollten „sehr, sehr wenig“, so Vestager.
Die goldene Ära kommt – aber nur mit tiefen Einschnitten
Ausgerechnet dieser Bruch eröffnet laut Vestager die Chance auf ein neues europäisches Zeitalter. Denn: „Europa verändert sich nur in der Krise. Wenn es keine Krise gibt, fahren wir ins Sommerhaus.“
Die Wirtschaftsdaten sprechen eine deutliche Sprache: In den letzten 25 Jahren wuchs die EU real nur um 0,4 Prozent jährlich – die USA dagegen um 2,2 Prozent. Für Vestager ist klar: Nur tiefgreifende Reformen können Europas Wachstum wiederbeleben – und genau jetzt sei der Moment, in dem politische Bewegung möglich werde.
Kapitalmärkte, Klimaziele und Produktivität als Schlüssel
Vestager benennt die Hebel konkret. Ein europäischer Kapitalmarkt müsse her – mit integrierten Regeln und grenzübergreifender Investitionsfähigkeit. Die von ihr vorgeschlagene öffentlich-private Wachstumsfonds-Idee sei ein Schritt in diese Richtung. Auch die Kapitalmarktunion müsse endlich umgesetzt werden – doch dafür brauche es ein gemeinsames europäisches Finanzaufsichtssystem, das bisher am Widerstand der Mitgliedstaaten gescheitert sei.
Gleichzeitig setzt Vestager auf strategische Souveränität – aber nicht auf Autarkie. Europa müsse etwa bei Chips nicht alles selbst machen, aber bei Schlüsseltechnologien mitgestalten und mitbestimmen.
Trump als unbeabsichtigter Katalysator
Für Vestager hat Donald Trump – indirekt – den nötigen Schub ausgelöst. Seine aggressive Rhetorik zwingt europäische Regierungen dazu, über ihre Komfortzone hinauszugehen. „Alle Politiker in Europa wurden jetzt gedrängt, sich zu bewegen“, sagt sie. Wenn dieser Druck genutzt werde, könne eine „goldene Ära“ beginnen: mit klarer Klima- und Digitalstrategie, Technologieförderung, Innovation und Wachstum.
Draghi-Bericht als strategischer Bauplan
Den zentralen Fahrplan für diesen Aufbruch sieht Vestager im „Draghi-Report“, verfasst vom früheren EZB-Chef Mario Draghi. Die Analyse benennt klar die strukturelle Schwäche Europas: zu wenig Innovation, veraltete Lieferketten, langsames Reagieren auf globale Veränderungen.
Die knapp 400 Seiten umfassende Studie empfiehlt technologische Aufholjagd, eine bessere Koordinierung der EU-Staaten und den Umbau der Wohlstandsmodelle. Doch selbst Vestager zweifelt an Europas Fähigkeit zum Multitasking: „EU und Mitgliedstaaten haben Mühe, Dinge gleichzeitig zu tun.“
Trotz aller früheren Spannungen lobt Vestager EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausdrücklich: Sie habe den Mut gehabt, Draghi mit der Analyse zu beauftragen – und mit António Costa als neuem Ratspräsidenten sei die Spitze derzeit stark besetzt.
China: Notwendige Kooperation bei gleichzeitiger Rivalität
Ein weiterer Aspekt von Vestagers Analyse: Die Abwendung der USA wird Europa näher an China heranführen – zumindest rhetorisch. Sie erwartet eine „wärmere Sprache“ gegenüber Peking, warnt aber zugleich vor realen Problemen: Überkapazitäten, Marktzugang, geopolitische Konflikte.
Aus EU-Sicht sei China zugleich Partner beim Klima, wirtschaftlicher Konkurrent und strategischer Rivale. Eine politische Dreiecksbeziehung – unausweichlich, aber anspruchsvoll.
Regelwerk für die Union – mit Austrittsmöglichkeit durch Zwang
Einen besonders radikalen Punkt bringt Vestager am Ende ins Spiel: Die EU brauche eine neue Vertragsgrundlage, in der nicht nur der freiwillige Austritt wie bei Großbritannien geregelt ist – sondern auch die Möglichkeit, ein Mitglied aktiv auszuschließen. „Wer die Weiterentwicklung der EU blockiert, muss gehen können – oder müssen.“
Als Beispiel nennt sie Ungarn. Wer nicht mehr Teil der Clubregeln sein wolle, dürfe nicht länger auf Vetorechte pochen. Europa müsse handlungsfähig werden – auch gegen nationale Bremsklötze.
Fazit: Europa muss sich neu gründen – oder zerfallen
Margrethe Vestagers Analyse ist kompromisslos: Die transatlantische Ära ist vorbei. Die EU muss daraus Konsequenzen ziehen – wirtschaftlich, politisch, institutionell. Die Chance auf eine goldene Ära ist real – aber sie erfordert schmerzhafte Einschnitte, geopolitische Eigenständigkeit und institutionelle Reform.
Nur wenn Europa lernt, seine eigenen Regeln zu setzen – auch gegenüber internen Störern – kann es wieder zu einer dynamischen, souveränen Macht werden. Die nächste EU-Vertragsreform könnte zum Scheideweg werden: Rückfall in die Lähmung oder Sprung in eine neue Epoche. Vestager hat sich entschieden. Bleibt die Frage: Tut Europa es auch?