Wirtschaft

„Tag X wird kommen“ – wie deutsche Unternehmen eine Rückkehr nach Russland vorbereiten sollten

Viele deutsche Unternehmen haben Russland nie ganz verlassen. Doch lohnt sich der Blick nach Osten noch? Ulf Schneider, Geschäftsführer der SCHNEIDER GROUP, erklärt im Interview, warum deutsche Unternehmen trotz geopolitischer Unsicherheiten in Russland präsent bleiben, welche Chancen sich im Fall einer Entspannung auftun könnten – und wie man sich schon jetzt strategisch auf den „Tag X“ vorbereiten sollte.
10.06.2025 05:56
Lesezeit: 6 min
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„Tag X wird kommen“ – wie deutsche Unternehmen eine Rückkehr nach Russland vorbereiten sollten
Von der Moskwa aus sind hinter der Brücke der Kreml und das Geschäftsviertel Moskwa City zu sehen (Foto: dpa). Foto: Ulf Mauder

Deutsche Wirtschaftsnachrichten (DWN): Herr Schneider, bevor wir auf die konkreten Perspektiven deutscher Unternehmen in Russland eingehen – können Sie uns kurz schildern, wofür die SCHNEIDER GROUP heute steht, in welchen Märkten Sie aktiv sind und wie sich Ihr Beratungsansatz in den letzten Jahren verändert hat?

Ulf Schneider: Mit mehr als 500 Mitarbeitern betreiben wir 18 Büros in Mittel- und Osteuropa, Zentralasien, dem Kaukasus und dem Balkan und begleiten deutsche Unternehmen beim Markteinstieg und der weiteren Entwicklung in diesen Märkten. Wir sind das einzige westliche Beratungsunternehmen, das sowohl in Russland als auch der Ukraine weiterhin mit der gleichen Firmierung „SCHNEIDER GROUP“ auftritt. Wir möchten auf geschäftlicher Ebene Brücken bauen, gerade in diesen politisch äußerst schwierigen Zeiten.

In Russland und Belarus begleiten wir Unternehmen auch beim Verlassen des Landes, wobei nicht vergessen werden sollte, dass die große Mehrzahl westlicher Unternehmen in Russland geblieben ist. Verständlicherweise agieren diese Unternehmen in angepasster Form. Gerade für Zentralasien sehen wir in den letzten drei Jahren ein viel größeres Interesse der deutschen Wirtschaft. Allerdings hat dies bisher nicht zu signifikanten zusätzlichen Investitionen geführt, eher wird Zentralasien als Absatzmarkt gesehen, der den Geschäftsrückgang in Russland teils kompensieren soll.

DWN: Wie schätzen Sie derzeit die realistischen Chancen für eine Rückkehr deutscher Unternehmen auf den russischen Markt ein – sowohl wirtschaftlich als auch politisch?

Ulf Schneider: Etwa 70% der deutschen Unternehmen sind weiterhin in Russland aktiv, agieren aber häufig im Stillen. Interessant, auch unter den DAX-Unternehmen sind fast die Hälfte in Russland verblieben. Diejenigen DAX-Player, die Russland verlassen haben, werden sich voraussichtlich mehr Zeit für eine Rückkehr nehmen. Der klassische Mittelständler wird vermutlich pragmatischer entscheiden. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele deutsche Unternehmen zunächst externe Vertriebspartner einsetzen, bevor sie wieder eigene Strukturen vor Ort aufbauen.

DWN: Wie viel Zeit, glauben Sie, wird nach einem formalen Ende des Ukraine-Krieges vergehen müssen, bis deutsche Unternehmen wieder realistisch in Russland aktiv werden können – und welche politischen, wirtschaftlichen oder regulatorischen Phasen erwarten Sie auf diesem Weg?

Ulf Schneider: Das kann sehr schnell gehen. Sobald Firmen keinen größeren Reputationsschaden mehr fürchten müssen, werden Unternehmen die Chancen auf dem russischen Markt wieder nutzen. Wann dieses formale Ende kommen wird, wissen wir nicht, aber vermutlich wird es plötzlich und unerwartet von einem Moment auf den anderen kommen. Daher sollte man sich auf diesen Moment bereits heute vorbereiten, z.B. indem man eine Checkliste erstellt und durchspielt.

Die regulatorischen Hürden sind allerdings noch beträchtlich. Auf EU- und US-Ebene sind nach wie vor die russlandbezogenen Sanktionen in Kraft. Aktuell wissen wir nicht, wie schnell diese wieder aufgehoben werden. Auf russischer Seite erfordert die Gründung neuer und der Erwerb von Anteilen an russischen Gesellschaften durch Unternehmen aus sogenannten „unfreundlichen“ Staaten eine Genehmigung einer staatlichen Regierungskommission.

Voraussichtlich wird Russland neuen Investitionen keine dauerhaften Schranken auferlegen. Russland hatte immer ein großes Interesse an westlichen Investitionen. Daran hat sich durch die gegenwärtige Krisensituation nichts geändert. Die russischen Gegensanktionen sind nicht gegen westliche Investitionen gerichtet, sondern dienen im Gegenteil der Erschwerung des Rückzugs westlicher Unternehmen aus Russland, daneben aber auch dem Schutz der russischen Währung.

Der russische Präsident, Wladimir Putin, erläuterte in seinen Äußerungen bei der Veranstaltung der Wirtschaftsvereinigung „Delowaja Rossija“, dass die russische Regierung bei der Ausarbeitung von Rückkehrbedingungen berücksichtigen wird, in welcher Form sich Unternehmen vom russischen Markt zurückgezogen haben, vor allem in der Außenkommunikation, und inwiefern die Produkte im Land bereits selber ausreichend produziert werden können.

Somit wird die Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeiten in Russland abhängig von der jeweiligen Branche, sehr unterschiedlich sein. Reine Handelsunternehmen im B2B-Bereich werden vermutlich ohne große Schwierigkeiten ihre Tätigkeit schnell wieder aufnehmen, sofern diese nicht sanktioniert ist. Der Retail-Bereich wird höchstwahrscheinlich einen Wandel durchleben und noch mehr als zuvor auf den Online-Handel setzen. Neue Investitionen in Produktionsstätten werden wir so schnell sicherlich nicht sehen.

DWN: Welche Branchen – beispielsweise Automobilindustrie, Maschinenbau oder Konsumgüter – hätten Ihrer Einschätzung nach überhaupt noch eine realistische Chance, verlorene Marktanteile in Russland zurückzugewinnen?

Ulf Schneider: Russen würden sofort wieder deutsche Autos kaufen. Die Frage ist hauptsächlich wie schnell die deutschen Autobauer die Montage von PKWs und den Vertrieb vor Ort wieder aufbauen können und wollen. Sofern die relevanten Sanktionen fallen sollten, könnte zumindest der Vertrieb mit importierten Autos zügig starten. BMW hat mit seinem ehemaligen Partner in Kaliningrad sicherlich gute Voraussetzungen, schnell wieder lokale Produktion aufzunehmen. VW und Mercedes haben ihre Werke verkauft und bräuchten sicherlich länger.

Es gibt noch ein ABER: Bisher ist noch nicht klar definiert, ob für solch einen erneuten Vertriebsaufbau von Unternehmen, die ihre Produktion in Russland eingestellt hatten, ggf. eine erneute Lokalisierung als Voraussetzung für einen erneuten Markteintritt definiert wird. Die russische Regierung arbeitet zurzeit an einem Regelwerk, für das im Mai ein Entwurf vorliegen sollte.

Für Maschinen und Anlagen hängt eine Wiederaufnahme des Handels hauptsächlich von den Sanktionen zu Dual-Use-Gütern ab, die die meisten Geschäfte mit Maschinen und Ersatzteilen zurzeit unmöglich machen. Sollten diese Sanktionen fallen, könnte der Verkauf sehr zügig wieder Fahrt aufnehmen. Die Erfahrung mit chinesischen Wettbewerbern ist in Hinblick auf Qualität nicht schlecht, aber der After-Sales Service lässt sehr zu wünschen übrig. Deutsche Maschinenbauer sollten beobachten, wie zügig vor allem südkoreanische Anbieter den russischen Markt erneut bearbeiten.

DWN: Die russische Regierung arbeitet offenbar an Bedingungen für die Rückkehr westlicher Unternehmen, u. a. mit hohen Anforderungen an Lokalisierung und Technologietransfer. Wie bewerten Sie diese Vorgaben aus Sicht potenzieller Rückkehrer?

Ulf Schneider: In der Tat wird es wohl solche Anforderungen für Unternehmen geben, die in den letzten drei Jahren ihre Produktionsanlagen in Russland eingestellt oder verkauft haben. Bereits vor der derzeitigen Krisensituation bestanden aber hohe Anforderungen an die Lokalisierung und den Technologietransfer. Die Frage ist daher eher, in welchem Maße diese für Rückkehrer noch verschärft werden. Ich glaube nicht, dass die russische Regierung hier einen großen Handlungsspielraum hat. Wie gesagt, ist es letztlich auch so, dass Russland an westlichen Investitionen erhebliches Interesse hat. Die russische Regierung sollte daher im Auge behalten, dass westliche Unternehmen demnächst eher nicht Schlange stehen werden, um erneut Produktionskapazitäten in Russland aufzubauen.

DWN: Wie beurteilen Sie das Risiko, dass deutsche Unternehmen bei einer Rückkehr stärker in politische oder geopolitische Konfliktlinien geraten könnten als vor 2022?

Ulf Schneider: Das ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Sehr problematisch kann es werden, sollten die Amerikaner mit Russland einen Deal machen und gleichzeitig die Europäer Sanktionen gegen Russland weiter anziehen. Europäische Unternehmen würden dann in der Zwickmühle stecken. Daher liegt es aus meiner Sicht nahe, dass die Europäer zumindest auf mittlere Sicht auf die Linie der Amerikaner einschwenken werden.

DWN: Gibt es bereits erste westliche Unternehmen, die konkrete Schritte in Richtung Wiedereinstieg auf dem russischen Markt unternehmen oder vorbereiten – möglicherweise diskret?

Ulf Schneider: Zunächst einmal gibt es hier viel Gerede. Konkrete Ankündigungen westlicher Firmen über eine Rückkehr auf den russischen Markt sehe ich bisher nicht. Allerdings gibt es gewisse Rauchzeichen, im Moment mehr von US- und südkoreanischen als von EU-Unternehmen. Diverse Firmen in der Liquidationsphase habe die technische Schließung Ihrer Tochtergesellschaften in Russland pausiert. Viele Firmen haben in den letzten Wochen ihre Markenrechte erneut registriert oder haben eingemottete Produktionslinien für Testzwecke hochgefahren. Dies kann nach drei Jahren grundsätzlicher Natur sein, könnte aber auch als ein Anzeichen für konkrete Überlegungen einer Rückkehr gewertet werden.

DWN: Welche Rolle spielen lokale Joint Ventures oder Kooperationen mit russischen Partnern beim potenziellen Wiedereinstieg? Könnte das ein Modell für viele deutsche Firmen sein?

Ulf Schneider: Nein, das glaube ich nicht. Die Zeit von Joint Ventures ist vorbei, die gab es hauptsächlich in den 90er-Jahren. Seitdem ist die damalige Euphorie einer Ernüchterung gewichen. Joint Venture wurden danach nur noch eingegangen, wenn die Beteiligung des russischen Partners unabdingbare Voraussetzung für die Geschäftstätigkeit war, wie etwa bezüglich des Vertriebs an staatliche Unternehmen oder beim Erfordernis anderweitig schwer zugänglicher Lizenzen. Auch bei Kooperationen mit russischen Partnern erwarte ich zunächst große Zurückhaltung, zumindest werden wir jetzt keine längerfristigen Bindungen sehen. Einfache Agenten- oder Vertriebsvereinbarungen sind sicherlich effektiver.

DWN: Wie unterstützt die SCHNEIDER GROUP aktuell Unternehmen, die sich auf eine mögliche Rückkehr in den russischen Markt vorbereiten wollen? Gibt es bereits konkrete Projekte oder Szenarien, an denen Sie mit Kunden arbeiten?

Ulf Schneider: Ja, unseren Mandanten zeigen wir derzeit auf, welche Vorbereitungen man jetzt vornehmen sollte. Allerdings gehen diese nicht nur in die Richtung einer potenziellen Entspannung der politischen Situation, die ein erneutes Engagement auf dem russischen Markt erlauben könnte. Man sollte auch einen Plan für den Worst-Case einer weiteren Eskalation auf politischer Ebene haben, auch wenn wir alle dieses Szenario nicht wünschen.

In welche Richtung auch immer es gehen wird, es erscheint uns am wichtigsten, dass man über eine durchdachte Checkliste und eine Roadmap verfügt. Diese gestaltet sich wie ein Entscheidungsbaum, der auf verschiedene politische Entwicklungen entsprechend angepasste geschäftliche Szenarien darstellt.

Für den positiven Fall enthält diese Checkliste Fragen wie: Sind alle Lizenzen und Genehmigungen weiter gültig, welche Wettbewerber – z.B. aus China, aber auch Südkorea – haben inzwischen Marktanteile gewonnen, gibt es Parallelimporte und wer betreibt diese, etc. Für den hoffentlich nicht eintretenden Fall einer weiteren Verhärtung stehen Fragen wie Abzug der in Russland verbliebenen Vermögenswerte, Krisenkommunikation etc. als Priorität auf der Checkliste.

Ich erinnere mich an den 16. Januar 2016, den „Implementation Day Iran“. Die Sanktionen wurden teilweise aufgehoben und es begann ein großer Run auf die Geschäftsmöglichkeiten mit dem Iran. Ich war damals einige Male in Teheran. SCHNEIDER GROUP unterstützt Unternehmen dabei, sich auf einen solchen „Implementation Day“ vorzubereiten.

DWN: Abschließend: Wenn Sie deutschen Unternehmern in Bezug auf Russland einen einzigen strategischen Ratschlag geben müssten – wie würde dieser lauten?

Ulf Schneider: Bereiten Sie alles gut für den Tag X vor, denn dieser Tag kommt plötzlich und unerwartet, erfordert dann aber vermutlich schnelles Handeln.

Info zur Person: Ulf Schneider ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Schneider Group. Das Unternehmen hat Büros in Berlin, Mittel- und Osteuropa, Zentralasien und dem Kaukasus. Die Schneider Group berät westliche Firmen in diesen Ländern.

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