Panorama

Totarbeiten für den Traumjob: Wenn Freizeit zur Schwäche wird

Wer heute nicht bis Mitternacht arbeitet, gilt morgen als verzichtbar. Unternehmen fordern grenzenlosen Einsatz – und nennen das Unternehmenskultur.
24.07.2025 11:31
Lesezeit: 4 min
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Totarbeiten für den Traumjob: Wenn Freizeit zur Schwäche wird
70-Stunden-Wochen, Null Urlaub: Burnout ist der neue Normalzustand. (Foto: dpa/Lehtikuva | Antti Aimo-Koivisto) Foto: Antti Aimo-Koivisto

Überstunden als Statussymbol: Warum Burnout längst Teil des Systems ist

Work-Life-Balance gilt als eine der wichtigsten nicht-monetären Leistungen. Doch in manchen Ländern geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung: Wer nicht bereit ist, unbegrenzt Überstunden zu machen, wird schnell ersetzt – durch jemanden, der es ohne Widerrede tut. In vielen Firmen leeren sich die Büros pünktlich zum Feierabend. Und das ist gut so – denn wer nicht ausgeruht ist, arbeitet weniger produktiv, als es sich der Arbeitgeber erhofft. Deshalb wird über Work-Life-Balance immer lauter diskutiert. Viele Fachkräfte wählen ihren Arbeitsplatz genau danach aus.

Was für viele europäische Angestellte zur Normalität wird, bleibt in anderen Ländern Wunschdenken. So sucht Shopify etwa einen Produktmanager, der „mit dem unaufhörlichen Tempo mithalten kann“. Die Gesundheitsplattform Solace schreibt unverblümt: „Wenn Sie eine Balance zwischen Arbeit und Privatleben suchen, ist das hier nichts für Sie.“ Die Softwarefirma Rilla verlangt von Senior Engineers 70 Wochenstunden – „bitte bewerben Sie sich nicht, wenn das nicht passt“, zitiert das Wall Street Journal. Immer mehr Unternehmen betonen in Stellenausschreibungen lange Arbeitszeiten, Wettbewerbsdruck und Eile – besonders in den USA, wo Jobangebote seltener werden. Bewerber konkurrieren oft monatelang mit einer wachsenden Zahl entlassener Arbeitskräfte. Das stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitgeber. Flexibilität und Homeoffice werden gestrichen. Und Führungskräfte sagen offen, dass das Team bereit sein muss, hart zu arbeiten. Google-Mitgründer Sergey Brin etwa erklärte intern, dass 60 Stunden pro Woche „optimal für die Produktivität“ seien – nicht 40. Rilla gibt Bewerbern ein „Kulturpapier“, in dem steht: „Es gibt keine strengen Regeln, aber wir arbeiten üblicherweise 60 bis 80 Stunden pro Woche.“ Und eine Regel ist klar: Gearbeitet wird, solange Arbeit da ist. Rilla-Manager Will Gao fordert Bewerber auf, sich gar nicht erst zu melden, wenn sie nicht bereit sind, so viel zu arbeiten, wie nötig ist. Kürzlich spottete er über Kollegen, die nicht im Büro schlafen würden – wie er selbst zehn Nächte im Juni in New York. Kein Wunder: Der Firmenchef geht mit schlechtem Beispiel voran – vor seiner Hochzeitsreise hatte er acht Jahre lang keinen Urlaub gemacht. Nicht nur Start-ups warnen Bewerber vor einem harten Arbeitsumfeld. Die Unternehmensberatung McKinsey macht klar, dass Meetings zu ungewöhnlichen Uhrzeiten und spontane Projekte dazugehören.

Nicht aus Gier

Überstunden hängen eng mit der Funktionsweise eines Unternehmens zusammen. Entscheidend ist der Führungsstil – aber Überstunden entstehen oft nicht aus Ausbeutung, sondern aus schlechter Organisation. „Überstunden sind kein Zeichen von Gier des Eigentümers – vielmehr erreicht das Unternehmen ohne sie kein optimales Ergebnis, vielleicht überlebt es nicht. Ursache sind ineffiziente Prozesse, veraltete Technik oder schlechte Führung und falsche Entscheidungen“, sagt Živilė Valeišienė, Direktorin der Beratungsfirma WitMind gegenüber dem Wirtschaftsportal Verslo žinios.

Überstunden sind kein Einzelfall. Längere Arbeitszeiten steigern weder die Produktivität einzelner Mitarbeiter noch die eines ganzen Landes. Effiziente Staaten wie die skandinavischen haben Überstunden abgeschafft, als sie gelernt haben, klüger zu arbeiten. Entscheidend ist also nicht, wie viele Stunden man arbeitet, sondern wie effizient.

Ein Beispiel hierfür ist Litauen. Hier bestehe der Expertin zufolge Nachholbedarf. Eine nationale Studie von WitMind zeigt: Die Arbeitsbelastung ist vielerorts nicht optimal verteilt. „In vielen Branchen fehlt das Gleichgewicht. Beschäftigte im Transportwesen, in der Verwaltung und im Bildungssektor empfinden ihre Last als überdurchschnittlich hoch – das kann ein Anzeichen für schlechte Prozesse oder Ausbeutung sein. Besser sieht es in der IT, Telekommunikation und im Finanzsektor aus, wo die Belastung als angemessener wahrgenommen wird. Solche Unterschiede hängen oft von Führungsqualität und Reife der Organisation ab“, so Valeišienė. Besonders in Führungspositionen gehören Überstunden zum Alltag – meist unsichtbar. Obwohl sie theoretisch vergütet werden müssten, heißt es in vielen internen Regelungen, dass Vorgesetzten keine Entschädigung zusteht. Das untergräbt das Gleichgewicht und erhöht das Risiko von Burnout, das sich schnell auf ganze Teams ausbreiten kann.

Wie VŽ berichtet, resultieren Überstunden oft daraus, dass Firmen mit weniger Personal mehr erreichen wollen. Endlose Arbeitszeiten zeigen Wirkung: Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Apathie – typische Symptome für Burnout. Laut Karriereportal Glassdoor stieg die Zahl der von Burnout betroffenen US-Arbeitnehmer im ersten Quartal 2025 um 32 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – auf den höchsten Stand seit einem Jahrzehnt. „Das liegt oft daran, dass Verantwortung und Arbeitsvolumen über Jahre hinweg gestiegen sind“, sagt Daniel Zhao, Chefökonom von Glassdoor. Die Betroffenen sagen selten Nein – zu groß ist die Angst, den Job zu verlieren, da das Stellenangebot schrumpft und neue Bedingungen akzeptiert werden müssen.

Zeitdiebe

Manchmal bleibt man länger im Büro aus eigenem Verschulden: zu lange am Kaffeeautomaten, bei der Mittagspause oder in unnötigen Gesprächen. Häufiger aber ist schlechte Planung der Grund. Laut Valeišienė ließen sich Überstunden deutlich verringern, wenn die schädliche Meetingkultur zurückgefahren würde – Treffen ohne klare Agenda, ohne Ziel, ohne Vorbereitung, mit zu vielen Teilnehmern. „Den Mitarbeitenden fehlt der Mut, abzusagen. Allein das Ändern dieser Gewohnheit würde viel Arbeitszeit freisetzen – für viele“, so die WitMind-Chefin. Laut Microsoft-Daten stieg die Zahl der Meetings nach 20 Uhr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent. Fast ein Drittel nutzt bis 22 Uhr weiterhin dienstliche E-Mails. US-Angestellte erhalten laut Studie täglich 117 E-Mails und 153 weitere Nachrichten. Ein Grund für die Arbeit nach Feierabend ist die wachsende Zusammenarbeit über Zeitzonen hinweg.

Es geht noch schlimmer

In Europa wird laut Statistik weltweit am wenigsten gearbeitet. Und trotzdem klagen viele über zu lange Arbeitstage. Doch wer sich überlange Stunden vorstellen will, sollte einmal in Japan oder anderen asiatischen Ländern arbeiten. In Japan ist es nicht ungewöhnlich, dass Kollegen am Arbeitsplatz sterben. Dieses Phänomen heißt „Karoshi“ – Tod durch Überarbeitung. Dass es dafür einen eigenen Begriff gibt, zeigt seine Verbreitung, so news.com. In Korea spricht man von „Gwarosa“, in China von „Guolaosi“. Japanische Angestellte sind extrem loyal – viele bleiben ein Leben lang im selben Unternehmen. Doch die Arbeitszeit wächst, da die alternde Gesellschaft Druck erzeugt. 2024 sank die Geburtenrate im neunten Jahr in Folge auf ein Rekordtief – 720.988 Neugeborene. Auf jedes Baby kommen über zwei Todesfälle. Der daraus resultierende Arbeitskräftemangel zwingt viele zu längeren Tagen: Nachtschichten, Wochenendarbeit und unbezahlte Überstunden sind die Regel. Es gilt als unhöflich, vor dem Chef zu gehen – viele arbeiten das ganze Jahr über 80 Stunden pro Woche. Zudem nehmen japanische Angestellte kaum Urlaub – das Land gehört zu jenen mit den wenigsten freien Tagen. Der Satz „An Arbeit ist noch keiner gestorben“ gilt also nicht mehr. Der Ausgleich zwischen Arbeit und Erholung wird immer wichtiger – selbst wenn Europa noch weit von japanischen Verhältnissen entfernt ist.

 

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