Politik

Draghi warnt: EU verliert geopolitische Bedeutung – welcher Reformplan für Europa dringend nötig ist

Mario Draghi rechnet ab: Die EU habe ihre geopolitische Bedeutung überschätzt und sei heute schlecht gerüstet für die globalen Machtspiele zwischen USA und China. Nur mit Reformen, gemeinsamer Verschuldung und technologischer Souveränität könne Europa seine Handlungsfähigkeit sichern – und verhindern, dass es endgültig zum Zuschauer degradiert wird.
Autor
avtor
18.09.2025 12:23
Aktualisiert: 01.01.2030 11:21
Lesezeit: 4 min
Draghi warnt: EU verliert geopolitische Bedeutung – welcher Reformplan für Europa dringend nötig ist
Laut Draghi sind Reformen zwingend nötig, um die EU-Handlungsfähigkeit zu sichern. (Foto: dpa) Foto: Wiktor Dabkowski

Die EU-Handlungsfähigkeit wird zurückgeschnitten

Was müsste die EU tun, um sich von einer Beobachterin zu einer Akteurin auf der globalen Bühne zu wandeln? Der ehemalige EZB-Präsident und frühere italienische Premierminister Mario Draghi erläuterte in einer Rede in Rimini seine Sicht auf notwendige Maßnahmen, Verantwortlichkeiten und Strategien.

„Die Europäische Union war lange überzeugt, dass ihre wirtschaftliche Größe mit 450 Millionen Verbrauchern ihr geopolitische Macht und Einfluss in internationalen Handelsbeziehungen verleiht … 2025 aber ist das Jahr, in dem die Illusion über die Bedeutung der EU zerplatzt ist“, erklärte Draghi auf dem Jahrestreffen der einflussreichen katholischen Bewegung Comunione e Liberazione in Rimini. Das Redemanuskript veröffentlichte Corriere Della Sera.

Draghi sagte, die EU habe sich mit den von den USA verhängten Zöllen abfinden müssen – von ihrem wichtigsten Handelspartner und langjährigen Verbündeten. „Die gleiche Verbündete drängte uns, die Militärausgaben zu erhöhen, und zwar in einer Form, die kaum den Interessen Europas entspricht.“ Obwohl die EU den größten finanziellen Beitrag zum Krieg in der Ukraine geleistet habe und am meisten an einem gerechten Frieden interessiert sei, habe sie bislang in den Friedensverhandlungen eine eher marginale Rolle gespielt. Ebenso sei sie Beobachterin geblieben, als iranische Atomanlagen bombardiert wurden und das Blutvergießen in Gaza eskalierte.

Diese Ereignisse, so Draghi, hätten gezeigt, dass wirtschaftliche Größe allein keine geopolitische Macht verleihe. „Es ist daher nicht überraschend, dass der Skeptizismus gegenüber Europa seinen Höhepunkt erreicht hat.“ Dieser Skeptizismus richte sich jedoch nicht gegen europäische Werte wie Demokratie, Frieden, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Wohlstand, Gleichheit und Sozialstaat – sondern gegen die Fähigkeit der EU, diese Werte zu verteidigen.

Die EU sei gegründet worden, weil die Nationalstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beim Schutz dieser Werte versagt hatten, was im Zweiten Weltkrieg mündete. Es sei für die Europäer daher natürlich gewesen, eine Form kollektiver Verteidigung von Demokratie und Frieden zu entwickeln.

Draghi fordert neue politische Organisation

Nach 1945 habe sich die EU weiterentwickelt und sich ab den 1980er-Jahren zunehmend der neoliberalen Phase angepasst: Vertrauen in Freihandel, offene Märkte, die Achtung multilateraler Regeln und eine bewusste Verringerung staatlicher Macht zugunsten unabhängiger Behörden. „Während wir früher auf Märkte vertrauten, existieren heute Industriepolitiken. Während Regeln früher geachtet wurden, werden heute militärische Macht und wirtschaftlicher Druck eingesetzt, um nationale Interessen zu schützen. Während staatliche Macht einst reduziert wurde, nutzen heute Regierungen alle Instrumente direkt“, sagte Draghi.

Seine Einschätzung: „Europa ist schlecht gerüstet in einer Welt, in der internationale Handelsbeziehungen weniger von Effizienz, sondern mehr von Geoökonomie, Sicherheit und Versorgungssicherheit bestimmt werden. Unsere politische Organisation muss sich den existenziellen Herausforderungen der Gegenwart anpassen.“ Ein Zerfall der europäischen Integration und eine Rückkehr zur nationalen Souveränität würden die Europäer nur noch mehr der Willkür der Großmächte aussetzen.

Um den heutigen Herausforderungen zu begegnen, müsse die EU von einer Beobachterin zu einer Akteurin werden. Dazu sei ein Wandel ihrer politischen Organisation nötig, die untrennbar mit ihrer Fähigkeit verbunden sei, wirtschaftliche und strategische Ziele zu erreichen. Wirtschaftliche Reformen seien eine Grundvoraussetzung – und die Zugehörigkeit zur EU hänge davon ab, ob sie den Bürgern Zukunftsperspektiven biete, insbesondere Wachstum, das in Europa weit niedriger sei als in anderen Regionen der Welt.

Draghi verwies auf seinen im Auftrag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erarbeiteten Wettbewerbsbericht. Handlungsbedarf gebe es in zwei Dimensionen: dem Binnenmarkt und der Technologie.

Binnenmarkt, Technologie und gemeinsame Finanzierung

Im Binnenmarkt müsse die EU Hindernisse abbauen, die Handel und Ausschreibungen verlangsamen und Kosten erhöhen. Interne Barrieren entsprächen faktisch Zöllen von 64 Prozent auf Maschinen und 95 Prozent auf Metalle, sagte Draghi. „Das führt zu höheren Kosten, langsameren Verfahren und mehr Käufen bei Drittstaaten – ohne unsere eigene Wirtschaft zu fördern.“ Die zweite Dimension betreffe die Technologie: „Es ist klar geworden, dass kein Land, das Wohlstand und Souveränität will, sich aus kritischen Technologien ausschließen darf. Die USA und China setzen ihre Kontrolle über strategische Ressourcen ein, um sich Vorteile auf anderen Feldern zu verschaffen. Jede übermäßige Abhängigkeit ist unvereinbar mit unserer Souveränität.“

Europa müsse neue Integrationsformen entwickeln. Draghi nannte den sogenannten „28. Rechtsrahmen“ – einen supranationalen legislativen Rahmen, der nationale Unterschiede überwindet. Er sprach zudem von Projekten gemeinsamen europäischen Interesses, deren Finanzierung unabdingbar sei, um technologische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern. Darüber hinaus forderte er gemeinsame europäische Schulden. „Nur gemeinschaftliche Verschuldung kann große Projekte tragen, die nationale Anstrengungen niemals leisten könnten – in der Verteidigung, insbesondere in Forschung und Entwicklung; in der Energie, bei Investitionen in Netze und Infrastruktur; und bei revolutionären Technologien, wo Risiken hoch, potenzielle Erfolge aber entscheidend für die Transformation unserer Wirtschaften sind.“

Früher habe er zwischen guter und schlechter Verschuldung unterschieden – schlecht sei jene für Konsum, gut jene für produktive Investitionen. Heute sei nationaler „guter“ Kredit in manchen Bereichen nicht mehr möglich, da nur gemeinsame europäische Investitionen die nötige Größenordnung erreichen könnten. Zum Schluss erinnerte Draghi daran, dass die EU in Krisen durchaus handlungsfähig gewesen sei: mit dem Corona-Wiederaufbauprogramm Next Generation EU, mit der schnellen Impfkampagne und mit der Geschlossenheit nach Russlands Invasion in der Ukraine. „Doch nun gilt es, ebenso entschlossen in normalen Zeiten zu handeln.“

Der Privatsektor habe sich bereits angepasst, indem er modernste digitale Technologien wie Künstliche Intelligenz einsetze. Europas Produktionsbasis sei stark genug, um mehr heimische Nachfrage zu bedienen. Der öffentliche Sektor jedoch hinke hinterher und brauche die größten Reformen. Die Regierungen müssten festlegen, in welchen Bereichen Industriepolitik notwendig sei, überflüssige Hürden beseitigen, Genehmigungsstrukturen im Energiesektor überarbeiten und Wege finden, die für die Zukunft geschätzten Investitionen von 1,2 Billionen Euro pro Jahr zu finanzieren. „Wir müssen jetzt handeln – nicht erst dann, wenn die Lage unhaltbar geworden ist, sondern jetzt, solange wir noch die Kraft haben, unsere Zukunft zu gestalten“, schloss Draghi in Rimini.

Draghi warnt: Die EU ist nur noch Zuschauerin der Weltpolitik

Für Deutschland ist Draghis Analyse besonders brisant: Als Exportnation hängt die Bundesrepublik am funktionierenden Binnenmarkt, an fairen Handelsregeln und am Zugang zu kritischen Technologien. Gleichzeitig ist sie in besonderem Maße von den US-Zöllen und globalen Lieferkettenverwerfungen betroffen. Deutschland steht damit vor der doppelten Aufgabe, seine industrielle Basis zu schützen und innerhalb der EU auf gemeinsame Finanzierungslösungen zu drängen – sonst droht ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Souveränität.

Draghis Rede in Rimini ist ein Weckruf: Die EU kann sich nicht länger auf ihre wirtschaftliche Größe verlassen. Nur durch tiefere Integration, gemeinsame Investitionen und eine Reform ihrer politischen Organisation wird sie ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Europa muss jetzt beweisen, dass es mehr ist als ein Beobachter – sonst bleibt es Spielball der Großmächte.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
avtor1
Albina Kenda

Zum Autor:

Albina Kenda ist eine erfahrene Journalistin, die sich auf die Berichterstattung über Geldpolitik und EU-Themen für die slowenische Wirtschaftszeitung Casnik Finance spezialisiert hat. Sie arbeitet sich regelmäßig durch endlose Stapel von Berichten, Vorschlägen, Reden und Diskussionen, um so klar wie möglich darzustellen, wie internationale und insbesondere europäische Themen uns alle betreffen, auch wenn wir uns nicht dafür interessieren.

DWN
Finanzen
Finanzen EZB-Zinsen: Warum Europas Geldpolitik zur Falle werden könnte
17.12.2025

Die EZB signalisiert das Ende der Zinssenkungen – und plötzlich zieht die Eurozone die Risiken einer neuen Straffung an. Europas...

DWN
Politik
Politik Drohnenabwehrzentrum startet: Bund und Länder bündeln Kräfte zur Gefahrenabwehr
17.12.2025

In Berlin startet ein neues Drohnenabwehrzentrum, das Behörden, Bundeswehr und Nachrichtendienste enger verzahnen soll. Drohnensichtungen...

DWN
Politik
Politik EU-Parlament macht Weg für Verzicht auf russisches Gas frei
17.12.2025

Die EU steuert auf einen harten Schnitt zu: Spätestens 2027 soll Schluss sein mit russischem Gas. Doch Ausnahmen, LNG und der Streit mit...

DWN
Politik
Politik Aus Bürgergeld wird Grundsicherung: Kabinett schickt mehrere Reformen auf die Strecke
17.12.2025

Letzte Kabinettsrunde vor Weihnachten: Von Grundsicherung über Rente bis Kurzarbeitergeld treibt die Regierung mehrere Reformen an. Auch...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Deutsche Bank bringt den Wero-Bezahldienst zu Millionen Kunden
17.12.2025

Der Wero-Bezahldienst erreicht jetzt Millionen Bankkunden: Deutsche Bank und Postbank schalten den vollen Funktionsumfang frei. Europa...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Eurozone: Inflation im November bei 2,1 Prozent
17.12.2025

Die Eurozone-Inflation wirkt auf den ersten Blick stabil – doch eine neue Eurostat-Schätzung verändert den Blick auf den November. Auch...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Steve Jobs und die Zukunft der Führung: Warum Chefs jetzt umdenken müssen
17.12.2025

Der Mittelstand arbeitet noch nach Regeln von gestern – doch die Herausforderungen von heute lassen sich damit kaum lösen. Der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutschland: Ifo-Index schwach – Jahr endet ohne Aufbruchsstimmung
17.12.2025

Der Ifo-Index sendet zum Jahresende ein klares Warnsignal für Deutschlands Wirtschaft. Sinkende Erwartungen, enttäuschte Hoffnungen und...