Trotz deutlich niedrigerer Speicherfüllstände als im Vorjahr gibt es auf dem europäischen Gasmarkt keinerlei Anzeichen für Nervosität. Der Gas-Preis liegt am Boden, der Einfluss russischer Lieferungen auf die Preisbildung ist praktisch verschwunden. Institutionelle Finanzinvestoren senken ihre Positionen auf steigende Preise drastisch.
Aktuell sind die europäischen Gasspeicher zu etwas mehr als 75 Prozent gefüllt. Dies entspricht einem Volumen von rund 865 Terawattstunden – deutlich weniger als im Vorjahr, als der Füllstand zu diesem Zeitpunkt nahe 90 Prozent lag. Auch in Lettland zeigt sich dieser Trend: Der Speicher Inčukalns ist nur zu 51,85 Prozent gefüllt – ein Niveau, das eher an den Krisensommer 2022 erinnert.
Trotzdem gibt es keine Hinweise auf eine drohende Knappheit. Die Terminkontrakte auf der TTF-Plattform notierten zuletzt bei 31,03 Euro/MWh – dem tiefsten Stand seit Juli. Zwar erholte sich der Preis leicht auf rund 33 Euro/MWh, bleibt damit aber deutlich unter dem Vorjahresniveau und bewegt sich auf dem Level von 2023. Auch die Winterkontrakte liegen kaum höher – ein Hinweis auf anhaltenden Preisdruck.
Liberalisierung der Füllvorgaben verschärft den Trend
Die EU hat ihre Speicherziele für diesen Winter gelockert. Statt 90 Prozent bis zum 1. November gelten nun flexiblere Quoten – bei schwierigen Marktbedingungen sind Abweichungen bis zu 15 Prozent erlaubt. Dies verschafft Einkäufern mehr Spielraum – und dämpft saisonale Preisspitzen.
Hinzu kommt: Die geopolitische Dimension ist verblasst. Weder diplomatische Initiativen noch Verschärfungen im Ukraine-Konflikt beeinflussen den Gasmarkt derzeit. Selbst Gespräche über mögliche Lockerungen von US-Sanktionen gegen russisches Flüssiggas aus der Arktis erzeugen kaum noch Bewegung.
„Russisches Gas hat in Europa an Bedeutung verloren“, sagt Andreas Schroeder vom Analysehaus ICIS. Prognosen gehen davon aus, dass russisches Pipeline-Gas und LNG bis Ende 2027 vollständig aus dem EU-Markt verschwinden.
Deutschland setzt auf Flexibilität, aber Risiken bleiben
Auch für Deutschland hat diese Entwicklung Folgen. Die Entkopplung vom russischen Gas, der Ausbau von LNG-Terminals und die Absenkung der Speicherziele erhöhen kurzfristig die Versorgungssicherheit – drücken aber auch auf die Investitionsbereitschaft im Gassektor. Die niedrigen Gas-Preise machen viele Importverträge unattraktiv und gefährden langfristige Infrastrukturprojekte, etwa in Wilhelmshaven oder Stade.
Zudem warnen Analysten, dass bei einem unerwartet kalten Winter oder Lieferstörungen schnell neue Engpässe drohen könnten – da trotz niedriger Preise viele Speicher nur teilweise befüllt sind.
Globale Nachfrage sinkt – China bremst LNG-Importe
Neben Europa schwächelt auch die Nachfrage in China. Der weltgrößte LNG-Importeur reduzierte seine Einfuhren in den ersten sieben Monaten um 19 Prozent. Allein im Juli betrug der Rückgang 6,7 Prozent – verursacht durch eine sinkende Industrieproduktion und verstärkte Umlenkung von Lieferungen an profitablere Märkte.
Auch in Europa hält der Nachfragerückgang an. Zwischen 2017 und 2022 wurde der Verbrauch um 15,6 Prozent pro Jahr reduziert, so das IEEFA. Ember-Daten zufolge sank der Gasverbrauch von 2021 bis 2023 um 19 Prozent. Trotz eines kälteren Winters 2024 blieb der Verbrauch stabil – die Industrie erholte sich nur schwach. Bis 2030 könnte die Nachfrage um weitere 7 Prozent fallen, da erneuerbare Energien bis dahin zwei Drittel des Strombedarfs decken könnten.
Spekulative Kapitalströme brechen ein
Auch auf Investorenseite ist das Vertrauen in steigende Preise verschwunden. Die Zahl spekulativer Long-Positionen auf steigende Gaspreise sank laut ICE in den letzten fünf Wochen um mehr als 50 Prozent – der stärkste Rückgang seit Februar. Zuletzt war ein derartiger Trend im Sommer 2023 zu beobachten, als ebenfalls über mehrere Wochen Kapital aus dem Markt abgezogen wurde.
Dieser Strategiewechsel deutet auf eine tiefgreifende Stimmungslage unter institutionellen Investoren hin: Der europäische Gasmarkt wird nicht mehr als risikoanfällig, sondern als überversorgt eingestuft – und der Gas-Preis dürfte mittelfristig auf niedrigem Niveau verharren.


