Vorne im Saal erzählt Bernd Schmelzer von der bitteren Zeit nach der Deutschen Einheit. Mit einem Hungerstreik stemmten sich seine Kollegen und er 1993 gegen die Schließung des Kalibergwerks im thüringischen Bischofferode. Politiker hätten damals „das Blaue vom Himmel“ versprochen, sagt der 65-Jährige. Das Kombinat wurde trotzdem abgewickelt. Damals habe er gelernt: „Ich hab' da kein Vertrauen mehr in die Politik“, sagt Schmelzer. Hinten im Publikum nicken viele. Der Saal ist voll.
35 Jahre nach der Vereinigung geht es an diesem Abend im Berliner Stadtteilzentrum Weißensee noch einmal um die Treuhandanstalt, um Massenentlassungen und den Untergang der DDR-Betriebe. Es geht um den Schock der Vereinigung, um eine verlorene Heimat. So viel ist schiefgelaufen, da sind sich hier viele einig. Und irgendwie scheinen die Fehler nie zu verjähren. Die Stimmung ist trüb vor dem Einheitsjubiläum am 3. Oktober.
Drei von vier Ostdeutschen sehen eher das Trennende
In einer Forsa-Umfrage für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sagen 2025 bundesweit nur noch 35 Prozent, Ost- und Westdeutschland seien weitgehend zu einem Volk zusammengewachsen. 2019 waren es schon einmal 51 Prozent – seither sackt die Zahl wieder ab. Heute überwiegt für 61 Prozent der Befragten eher das Trennende. In Ostdeutschland sagen das sogar 75 Prozent. Drei von vier.
Dabei herrschte Euphorie am 3. Oktober 1990, als Raketen in den Berliner Nachthimmel schossen. In den turbulenten Monaten zuvor hatten die Ostdeutschen sich der SED-Diktatur entledigt, an der Wahlurne das Signal für die rasche Vereinigung gesetzt, die Einführung der D-Mark erreicht. Viele bejubelten das Ende von 40 Jahren deutscher Teilung, den Abbau der tödlichen Grenze und die friedliche Revolution in der DDR, die das alles zuwege brachte.
Nach dem neuen ZDF-“Politbarometer“ finden zwar neun von zehn Befragten in Ost und West die Vereinigung heute grundsätzlich richtig. Aber 47 Prozent im Westen und 57 Prozent im Osten sehen die Probleme auch 35 Jahre später noch zu einem großen Teil ungelöst.
Ungleiche Lebensverhältnisse
Der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau, Autor des Buchs „Ungleich vereint“ erinnert im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur daran, dass die Lebensverhältnisse weiter ungleich seien. „In Ostdeutschland ist zum Beispiel der Niedriglohnsektor besonders groß, und die Vermögen sind so schief verteilt, dass im Osten nur ein Bruchteil der Erbschaftssteuer anfällt“, sagt Mau.
Das Ifo-Institut nennt in einem Faktenmonitor weitere Beispiele: Die Stundenlöhne liegen im Osten um zwölf Prozent unter Westniveau, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erreicht 86 Prozent vom Westen. Auch die Arbeitslosigkeit ist nach offiziellen Daten im Osten immer noch etwas höher. So weit der Blick von Ost nach West: Da bleibt ein wirtschaftliches Gefälle.
Befremden über die politische Entwicklung
Aus der anderen Richtung schauen viele Westdeutsche befremdet auf die politische Entwicklung. In Sachsen-Anhalt verzeichnet die jüngste Umfrage 39 Prozent für die AfD, in Mecklenburg-Vorpommern 38 Prozent. Die Rechtsaußenpartei punktet zwar auch im Westen. Doch in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg ist sie in Umfragen eben nur halb so stark.
Der Aufstieg der AfD bereite Sorge, sagt Mau. Die Gesellschaft im Osten werde „infiltriert“ – da stehe die Demokratie auf der Kippe. „Menschen, die sich der Zivilgesellschaft zugehörig fühlen, ziehen sich zurück, weil sie sich bedroht fühlen, weil es ein Klima der Angst und der Einschüchterung gibt“, sagt der Soziologe. „Das ist eine äußerst gefährliche Entwicklung.“
Die große Enttäuschung
Über die Gründe wird viel spekuliert – von der Diktatur-Erfahrung unter der SED bis hin zum Schock des Umbruchs und der Massenarbeitslosigkeit, der im Westen kaum registriert wurde. Die Migration und die Corona-Jahre haben Misstrauen in die Politik genährt. Und dann ist da das Gefühl der Bürger zweiter Klasse, von Zurücksetzung und Enttäuschung, wie es der Leipziger Dirk Oschmann in seinem Bestseller „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ beschreibt.
Der frühere thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) thematisiert das im Buch „Die neue Mauer“ mit dem ostdeutschen Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der den bemerkenswerten Satz zu Protokoll gibt: „Viele im Westen ahnen gar nicht, wie tief der Hass in weiten Kreisen des Ostens auf den Westen ist.“ Kowalczuk selbst findet das schlimm.
Ramelow, selbst im Westen geboren, sagt es im Gespräch mit dpa so: „Mit der Deutschen Einheit hat das Land wirtschaftlich sehr stark prosperiert, trotz aller Unterschiede zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West.“ Doch die gefühlte Einheit sei in Ostdeutschland anders. „Der emotionale Teil der Deutschen Einheit, der geht gerade richtig krachen.“
„Unser Land ist stark“
Das klingt alles ziemlich niederschmetternd. Aber es gibt auch die andere Sicht. Soziologe Mau erinnert daran: „Es ist eben nicht so wie in Spanien mit Katalonien oder in Großbritannien mit Schottland: Hier gibt es keine Sezessionsbewegungen, es ist nicht so, dass man die DDR zurückhaben oder sich abspalten will.“
Der thüringische Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) hält nach eigenen Worten überhaupt nichts von der These einer angeblich wachsenden Spaltung. „Unser Land ist stark, wenn man sich auf Zuversicht und Zusammenhalt konzentriert“, sagt Voigt der dpa. Die einst von Kanzler Helmut Kohl angekündigten „blühenden Landschaften“ gebe es tatsächlich: Ostdeutschland sei Innovationsstandort.
„Zusammenhalt unter Druck“
„Vieles ist in 35 Jahren erreicht worden, vieles zusammengewachsen“, sagt die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, die an diesem Freitag als Bundesratspräsidentin die Einheitsfeier in Saarbrücken ausrichtet. Aber natürlich blieben Herausforderungen. „Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist unabhängig von Ost und West unter Druck.“ Zum Jubiläum wünscht sich Rehlinger vor allem Wertschätzung für die Demokratie.
Genau das thematisiert auch der Bundespräsident. Er sehe mit Sorge, dass „die politische Mitte nicht nur, aber mehr noch im Osten unseres Landes immer weniger Rückhalt hat“, sagt Steinmeier mit Blick auf die Deutsche Einheit. „Lassen wir nicht zu, dass unsere Demokratie noch weiteren Schaden nimmt. Halten wir dagegen.“ Und er formuliert einen Appell: „Sollten wir heute, anlässlich von 35 Jahren Deutscher Einheit, nicht einmal innehalten und uns vor Augen führen, was uns gelungen ist in diesen 35 Jahren?“
„Ein Gewinn für alle Deutschen“
An jenem Abend im Stadtteilzentrum Weißensee tut das sogar der ehemalige Kalikumpel Bernd Schmelzer. Am Ende klingt er überraschend versöhnlich. Nach dem Aus für das Bergwerk und zwei Umschulungen fand er schließlich Arbeit als Techniker im Nachbarort und blieb 21 Jahre.
„In der Zeit, in der ich da gearbeitet habe, ist mein Auto gewachsen, mein Bauch gewachsen und mein Portemonnaie gewachsen“, sagt Schmelzer lachend. Sein Dorf sei um ein Drittel geschrumpft, aber er spüre dort jetzt wieder mehr Zusammenhalt. 35 Jahre Deutsche Einheit? „Natürlich feiern wir da auch. Es war ja ein Gewinn, für alle Deutschen. Finde ich. Im Nachhinein.“

