Personalbindung: Maßnahmen scheitern, wenn Unternehmen an alten Denkweisen festhalten
Die Menschen wollen nicht mehr zu Unternehmen „gehören“. Sie suchen nach sinnstiftender Arbeit und Führungskräften, die sie darin unterstützen, diese Arbeit noch besser zu meistern. Im Zeitalter des „nomadischen Professionalismus“, wie Petriglieri es nennt, wird klassische Personalbindung zur Utopie – und sollte laut ihm auch nicht länger das Ziel von Unternehmen sein.
Gianpiero Petriglieri, einer der 50 führenden Management-Denker weltweit, beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Frage, was gute Führung ausmacht. Im Gespräch mit dem litauischen Wirtschaftsportal Verslo žinios erklärt er die zentralen Trends der modernen Mitarbeiterführung: Statt auf starre Maßnahmen zur Personalbindung setzen erfolgreiche Unternehmen auf kluge Führung, die Geschäftssinn mit echter Fürsorge verbindet. Die besten Ergebnisse erzielen laut ihm Führungskräfte, die „mit Hingabe lieben“ – ihre Organisation ebenso wie die Menschen darin.
Tipp: Als Unternehmer und als Teamleiter sollten Sie regelmäßig hinterfragen, ob Ihre Führungsstruktur noch auf Zugehörigkeit statt auf Sinn basiert. Mitarbeitende bleiben, wenn sie sich weiterentwickeln dürfen. Sie bleiben nicht, weil sie „treu“ sein müssen.
Wie Sie Personal binden: „Loyalität ist längst überbewertet“
In Unternehmen wird viel über Loyalität gesprochen, Petriglieri sagt dagegen, dass Loyalität heute so bedeutungslos geworden sei, dass man sie getrost ignorieren könne. Die Loyalität gegenüber Organisationen nehme in den meisten Wirtschaftsräumen seit den 1970er-Jahren ab. Die Menschen wurden mobiler. Mit wachsender Globalisierung, technischen Fortschritten und immer mehr beruflicher Mobilität sei es selbstverständlich geworden, seinen Wohnort oder Job zu wechseln. Die Corona-Pandemie habe diesen Trend beschleunigt. Plötzlich wurde klar: Viele Jobs lassen sich remote erledigen. Man muss weder in derselben Stadt noch im selben Land leben wie das Büro.
„Ich glaube zudem, dass sowohl Arbeitgeber als auch Mitarbeiter verstanden haben: Man kann seiner Arbeit sehr wohl verbunden sein, ohne einer bestimmten Organisation loyal zu bleiben.“ Die Erwartung an klassische Personalbindungsmaßnahmen schwinde, weil alle Seiten wüssten, dass sich die Arbeitswelt massiv verändert habe – jede Loyalitätsbekundung wäre letztlich nur ein leeres Versprechen.
In diesem Zusammenhang ist es also wichtig, die Führungskultur im eigenen Unternehmen ständig zu prüfen: Wird noch Loyalität als Voraussetzung erwartet – oder fördert das Unternehmen echte Verbundenheit durch Vertrauen und Entwicklungschancen?
Sinnvolle Arbeite schlägt Zugehörigkeit zum Unternehmen
Wenn Loyalität nicht mehr zählt – was dann? „Die Menschen suchen Sinn in ihrer Arbeit. Ihnen geht es um den Job, nicht um die Organisation dahinter. Früher definierte man sich über das Unternehmen, das Team, die Zugehörigkeit. Heute ist diese Verbindung schwächer. Die Pandemie und das Homeoffice haben das verstärkt“, so Petriglieri. Fragen Sie sich als Unternehmer, ob Ihre Mitarbeiter den Sinn ihrer Arbeit im Unternehmen erkennen können. Wenn das nicht der Fall ist oder Sie zumindest befürchten müssen, dass nicht alle Mitarbeiter einen sinnvollen Platz im Unternehmen für sich erkennen können, dann kommunizieren Sie diesen Sinn besser oder schaffen Sie ihn. Im Idealfall schauen Sie sich die individuelle Situation jedes einzelnen Angestellten genau an – und verbessern sie.
Übrigens sie es laut Petriglieri aus genau diesem Grund längst nicht mehr so „dramatisch“ wie früher, den Job zu kündigen, entlassen zu werden oder den Arbeitgeber aus anderen Gründen zu verlassen. „Wichtig ist: Ich möchte etwas Sinnvolles tun. Wenn das Unternehmen diesen Sinn nicht vermittelt, verliert es an Bedeutung.“ Loyalität werde durch Lernen ersetzt. Firmen versprächen ihren Mitarbeitern heute nicht mehr einen sicheren Arbeitsplatz für Jahrzehnte – sondern die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Angesichts des rasanten technologischen Wandels wachse dieses Versprechen der Personalbindung durch Qualifizierung stetig.
Fluktuation als Zeichen von Entwicklung statt Verlust
Viele Unternehmen setzen weiterhin auf Personalbindung und Fluktuationsvermeidung. Ist das vergebliche Liebesmüh? „Ich halte reine Personalbindung oder niedrige Fluktuationszahlen nicht für das ultimative Ziel. Im Zeitalter der Mobilität geht es darum, den natürlichen Wechsel klug zu steuern“, betont der Experte. Mitarbeitende sollten das Unternehmen aus den richtigen Gründen verlassen – stolz darauf, dort gearbeitet zu haben, bereichert durch neue Erfahrungen, die ihnen bessere oder sinnvollere Jobs ermöglichen.
Wichtig: Messen Sie Ihre Erfolge nicht nur an der Fluktuationsrate. Stolze Ex-Mitarbeitende sind wertvolle Botschafter – manchmal mehr als unmotivierte Verbleibende.
Ein Unternehmen mit dem Ruf, Mitarbeitende wirklich weiterzubringen, werde keine Mühe haben, gute Leute anzuziehen – selbst wenn die Fluktuation hoch bleibe. Andersherum könne es sein, dass 95 Prozent der Belegschaft bleiben, aber 70 Prozent unzufrieden oder ineffektiv sind – weil sie keinen anderen Job finden oder aus Angst vor dem Wechsel bleiben. „Hohe Personalbindung bedeutet also nicht automatisch Produktivität – im Gegenteil: Oft steht sie für Stillstand und sinkende Effizienz. Ich kenne Fälle, wo Unternehmen stolz auf nur fünf Prozent Fluktuation waren, bis auffiel: Die Untalentierten bleiben, die Besten gehen.“
Sinnvolle Personalbindung: „Die Besten halten – aber richtig“
Wie gelingt es, Talente gezielt zu halten? „Personalbindung funktioniert nicht über Zwang. Studien zeigen: Je einfacher Mitarbeitende theoretisch wechseln könnten, desto eher bleiben sie – wenn sie dem Unternehmen vertrauen, sich sicher fühlen und Entwicklungsmöglichkeiten sehen.“ Wollen Unternehmen Personalbindung nachhaltig gestalten, müssten sie den Menschen Freiräume geben. Die wertvollste Bindung entstehe, wenn sich Mitarbeitende nicht gehalten, sondern freiwillig verpflichtet fühlten. Das klingt nach reifer, moderner Führung – doch viele Chefs denken noch anders. Für sie zählt: Wer in Mitarbeitende investiert, will nicht, dass sie zur Konkurrenz wechseln. „Solche dominante Führung wird es immer geben – sie wirkt kurzfristig oft effizienter als adaptive oder empathische Führung, die auf Mitgestaltung und Fürsorge setzt.“
Kurz gesagt: Unternehmer, Chefs und Teamleiter sollten Bindung durch Sicherheit und Freiraum fördern. Wer geht, obwohl er bleiben könnte, ist oft besser als jemand, der bleibt, weil er nicht gehen kann.
Verantwortung statt Kontrolle fördert die Mitarbeiterbindung
Das „Wie ich sage oder gar nicht“-Prinzip sei eindeutig, scheint wirksam, könne aber auf Dauer toxisch werden, so Petriglieri. Führungskräfte, die auf Empathie setzten, hätten es schwerer. Mitarbeitende täten sich leichter, Anweisungen zu folgen, als selbst zu denken. Wer selbst Verantwortung übernehmen soll, habe Angst vor Fehlern. „Wir sind es gewohnt, für Fehler bestraft zu werden. Deshalb irritiert es viele, wenn ein Chef ermutigt: ‚Triff eigene Entscheidungen – auch wenn du scheiterst.‘“
Unternehmen würden Eigenverantwortung predigen, scheitern aber oft an der Umsetzung. Chefs gäben Kontrolle nicht ab, Mitarbeitende scheuen Verantwortung. Wahre Personalbindung erfordere eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens – und das aufzubauen, sei mühsam. Befehlen sei einfacher.
Tipp: Haben Sie den Mut und geben Sie Verantwortung in echten Schritten ab – inklusive Entscheidungsfreiheit. Vertrauen entsteht nur durch erlebte Autonomie.
Freiheit braucht klare Regeln – und Grenzen
Wie lässt sich verhindern, dass Freiräume im Unternehmen im Chaos enden? „Freiheit braucht Grenzen. Die Frage lautet: Welche Regeln brauchen Mitarbeitende, um sich frei, aber verantwortlich zu fühlen?“ Vergleichbar sei das mit Profi-Tennisspielern: Sie entfalten ihr Können – aber nur innerhalb klarer Linien. Absolute Freiheit gebe es nicht. Forschung und Erfahrung zeigten: Zu viele Regeln töten Freiheit, keine Regeln töten sie ebenso. Manche Jobs brauchten engere Grenzen, andere – etwa kreative Rollen – erforderten mehr Spielraum, um Talente nicht einzuschränken.
Wenn es für Ihr Unternehmen passt, dann setzen Sie besser auf flexible Strukturen mit klaren Erwartungen. So schaffen Sie Orientierung, ohne Kreativität zu ersticken.
Fürsorgliche Führung ist kein Widerspruch zu Effizienz – und schon gar nicht zur Personalbindung
Kann Fürsorge für Mitarbeitende den Geschäftserfolg gefährden? Nur wenn sie falsch verstanden würden. „Ich definiere Führung als Liebe – zu den Menschen und zur Organisation. Mal steht die Organisation im Vordergrund, mal die Mitarbeitenden. Die Balance ist herausfordernd.“ Müsse ein Unternehmen Stellen abbauen, diene das dem Erhalt der Organisation – und langfristig auch dem Wohl vieler. Wenn dabei nur Aktionäre profitieren, breche das Vertrauen – und echte Personalbindung. „Sich kümmern bedeutet nicht, private Gespräche zu führen. Liebe heißt nicht, Entscheidungen einseitig zu treffen.“
Auch im Privaten würden Emotion und Pragmatismus vereint: „Wir kümmern uns um Kinder, verzichten aber auf jedes Ereignis. Wir wollen, dass sie selbst wählen – fordern aber Leistung.“ Genauso bei Freunden: „Wir geben Rat, mischen uns ein, lassen gleichzeitig Freiheiten. Beziehungen verbinden Emotionales mit Praktischem.“ Im Business scheuten viele diese Mischung, aus Angst, Effizienz einzubüßen. Doch das sei ein Denkfehler. Führung bedeute: Psychologe, Politiker, Ingenieur und Mechaniker zugleich zu sein. Unsere Wohnungen sollen funktional und zugleich persönlich sein – im Unternehmen gelte dasselbe Prinzip. Nur wer beides vereine, schaffe echte Personalbindung – freiwillig, nachhaltig und erfolgreich.
Machen Sie sich klar: Gute Führung verlangt nicht nur Verstand, sondern auch Haltung. Es ist erlaubt, fürsorglich zu führen und dabei geschäftlich erfolgreich zu bleiben.
Personalbindung: Checkliste für moderne Mitarbeiterbindung
✅ Vertrauen vor Kontrolle
✅ Sinn statt Zugehörigkeit
✅ Entwicklung statt Loyalitätsversprechen
✅ Verantwortung statt Anweisung
✅ Orientierung statt Mikromanagement
✅ Fürsorge mit Pragmatismus verbinden