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BDI: „Staaten sind finanziell faktisch nicht mehr handlungsfähig“

Lesezeit: 11 min
05.10.2012 23:49
Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Markus Kerber, glaubt, dass der reine Sparkurs die Krise in Europa nicht beenden kann: Er fordert einen Impuls für Investitionen. Weil Banken und Staaten wegen der Schuldenkrise handlungsunfähig seien, müsse die Industrie als Motor für Beschäftigung und Innovation wirken. Einer zunehmenden Zentralisierung in Brüssel erteilt Kerber eine klare Absage.
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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Deutschland spielt im Moment eine Schlüsselrolle in der Eurokrise. Die einen sagen, die Deutschen sind zu schwach, um zu führen; die anderen sagen, die deutsche Industrie ist zu stark für Europa…

Markus Kerber: Als der Euro eingeführt wurde, war Deutschland das Sorgenkind in Europa. Der Economist schrieb damals: „The sick man of the Euro“! Die Vorwürfe waren zu hohe Lohnstückkosten, zu geringer Offenheitsgrad, zu hohe administrative Sklerose, bürokratisch erstarrter Arbeitsmarkt. Es hieß, wenn Deutschland keine Reformen durchzieht, ist das Projekt Euro gefährdet. Eine Dekade später sieht man, dass wir diese Reformen gemacht haben. Wir haben Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse. Wir haben eine enorm wettbewerbsfähige Industrie. Und just diese Wettbewerbsfähigkeit ist jetzt im Moment wiederum der Hauptvorwurf aus Europa an Deutschland, diesmal eben mit anderem Vorzeichen. Jetzt sind wir zu wettbewerbsfähig. Jetzt geben wir das Tempo zu sehr vor. Die Industrie hat ein gewisses Gefühl der Irritation, dass man für eine Bestleistung, die eingefordert wurde, nun bestraft werden soll. Wir fordern ein entschiedenes Umsteuern in den anderen Volkswirtschaften der Eurozone.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also auch eine Agenda 2010 für die Südeuropäer?

Markus Kerber: Die meisten anderen Eurozone-Mitgliedsstaaten, wie Italien, wie Spanien, aber auch wie Frankreich, sind dort, wo sie Industrie haben, genauso wettbewerbsfähig wie wir. Insbesondere der norditalienische Industriesektor zählt auf dem Weltmarkt zu unseren größten Konkurrenten. Was aber in anderen Eurozonen-Mitgliedsstaaten auffällt: Der Anteil der Industrie am Sozialprodukt ist zu gering.

Wir haben in Deutschland etwa 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch industrielle Fertigung. Wenn sie die industrienahen Dienstleistungen dazu zählen, kommen wir auf fast 33 Prozent. Das ist ein Spitzenwert unter den großen Eurostaaten. Der Durchschnitt bei der industriellen Wertschöpfung in der EU liegt um die 19 Prozent. Das bedeutet: Es gibt zwar eine wettbewerbsfähige Industrie in diesen Ländern. Aber sie ist zu klein.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum sind die Deutschen hier weiter als die Franzosen oder Italiener? Können die anderen von Deutschland lernen?

Markus Kerber: Die deutsche Volkswirtschaft ist wegen ihrer Offenheit heute schon extrem exponiert auf den Weltmärkten. Was die Länder der Eurozone lernen können: Sie müssen stärker industrialisieren und sie müssen sich mit ihren Produkten an den Bedürfnissen der Schwellenländer – Russland, Brasilien, China – orientieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Würden Sie sagen, dass Deutschland eine etwas stärkere, selbstbewusstere Führungsrolle übernehmen sollte?

Markus Kerber: Ja, in gewisser Weise ganz sicher. Aber man muss dieses Thema von der Frage der Nationen lösen. Es gibt viele Faktoren, die die deutsche Industrie so stark gemacht haben. In unseren Unternehmen gibt es eine enorme Internationalisierung, auch auf Management-Ebene. Wir haben, etwa in der Automobilindustrie, sehr davon profitiert, dass ganze Teams im Einkauf oder Design aus anderen Ländern der Eurozone kommen. Wir haben eine nahezu einzigartige Verflechtung zwischen dem produzierenden Gewerbe in Deutschland und industrienahen oder anwendungsnahen Forschungsinstitutionen, wie etwa dem Fraunhofer Institut.

Ein weiteres herausragendes Element ist das System der dualen Ausbildung. Dieses System hat bewirkt, dass sich die Arbeitnehmer in den letzten 20 Jahren kontinuierlich fortgebildet haben. Dadurch sind sie den immer neuen Anforderungen gewachsen, die der Industrie durch die Spezialisierung entstehen. Und schließlich haben wir in allen wesentlichen Industrieunternehmen eine Flexibilisierung der Produktion durch die Mitbestimmung. Es hat sich ja nicht erst 2008 gezeigt, dass die engen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine entscheidende Rolle gespielt haben beim Überwinden der Krise.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In anderen Ländern ist das Verhältnis von Kapital und Arbeit bei weitem nicht so entspannt wie in Deutschland – wenn wir die aktuellen Unruhen auf den Straßen in Spanien sehen, die Ausschreitungen in Griechenland, die Demonstrationen in Portugal

Markus Kerber: Europa muss sich grundlegende Gedanken machen, ob das deutsche Modell „Zurückhaltung für Arbeitsplatzsicherheit“ nicht nachhaltiger ist als das von anderen Ländern verfolgte Modell „Lohnsteigerung um jeden Preis“. Es scheint ja so zu sein, dass, zumindest, was die Arbeitsplatzsicherheit angeht, Deutschland besser gefahren ist als viele andere Länder, die jetzt vor einem abrupten Abbau der Arbeitsplätze stehen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Nun befinden sich diese Länder allerdings in einer Todesspirale: Wegen der Schuldenkrise müssen immer mehr Arbeitsplätze abgebaut werden. Dadurch sinkt der Konsum – wie kommt man da heraus?

Markus Kerber: Man muss unterscheiden zwischen dem Bereich der öffentlichen Finanzen und dem Bereich der privaten Wirtschaft. Eine reine Spar- und Restrukturierungspolitik, die keine Wachstumsimpulse hervorruft, wird politisch mittel- und langfristig nicht durchhaltbar sein. Wir sehen in Europa durchaus sehr gute Wachstumsfelder - etwa bei den transeuropäischen Netzwerken oder den Kommissionsprojekten „Connecting Europe“. Im Bereich der Netzwerk-Ökonomie sind immense Strukturausgaben zu tätigen. Das sind mehrere 100 Milliarden Euro, die dafür sorgen könnten, dass Stromnetze, Telekommunikationsnetze, aber auch Verkehrsnetze, Straßen- und Schienen-Projekte, Europa noch stärker zusammenbinden und zusammenführen als das bislang der Fall ist.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wer soll denn das bezahlen?

Markus Kerber: In der Vergangenheit hätten diese Projekte alle durch den Staat finanziert werden können und müssen. Nun haben wir aber das Dilemma, dass das im Moment und auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, weil die Staaten konsolidieren müssen. Aber unseres Erachtens beim BDI könnte eine kluge Regulierung hierfür privates Kapital mobilisieren. Anleger sind im Moment auf Grund der Niedrigzinspolitik ohnehin auf der Suche nach attraktiven Investments. Das heißt, man bräuchte eigentlich einen Impuls auf der Investitionsseite in die Infrastruktur. Erstmalig sollte dies durch die private Hand finanziert werden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Bereiche könnten denn für private Anleger attraktiv sein?

Markus Kerber: Ohne Investitionen beispielsweise in die Breitbandnetze werden wir den Sprung, auch auf der industriellen Seite - Richtung Tertiarisierung und Hybridisierung - gar nicht so schnell vollziehen können wie unsere asiatischen oder amerikanischen Konkurrenten. Dasselbe gilt für die Energienetze. Wir müssen die erneuerbare Energie sehr viel stärker dort produzieren, wo die Sonne scheint, wo der Wind weht. Das ist nun mal eher im Süden, im mediterranen Raum und in Atlantikküsten-Nähe.

Wir haben aber in Europa keine Übertragungsnetze, etwa zwischen Spanien und Frankreich. Dort gibt es gerade mal zwei Grenzkoppelstellen für Strom! Hier gibt es enorme Wachstumspotentiale für die europäische Wirtschaft. Sie würden gerade in den „notleidenden“ Ländern neue Arbeitsplätze schaffen. Ihre Frage konkret beantwortet: Europa braucht neben der Sparpolitik im öffentlichen Bereich dringend einen Investitionsimpuls im privatwirtschaftlichen Bereich, auch und gerade um Arbeitsplätze zu schaffen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum geschieht das nicht einfach? Ist das ein strukturelles Problem?

Markus Kerber: Ich glaube, dass die Politik im Moment viel zu beschäftigt ist mit der Überwindung des naheliegenden Problems, sprich der Versorgung der Schwerstverletzten. Die Regierungen in Europa sind so sehr mit der Lösung der Staatsschuldenkrise beschäftigt, dass ihnen der Fokus auf nachhaltige Wachstumsimpulse fehlt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wer soll diese Investitionen dann finanzieren?

Markus Kerber: Was im Moment ebenfalls schmerzlich fehlt, sind die großen Geschäftsbanken, die im Moment ebenfalls vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Ich erinnere mich an die 60er und 70er Jahre, als die großen Infrastrukturprojekte finanziert werden mussten – etwa der Eurotunnel. Damals wurden diese Projekte kurioserweise durch das Instrument des Eurobonds finanziert. Länder wie Italien hatten ein Finanzierungsdefizit. Länder wie Deutschland hatten durch ihre Exporte einen Finanzierungsüberschuss und mussten aus ihrem Exporterlös Dollars recyclen.

Da haben die findigen Banker in London den Offshore-Eurobond erfunden. Plötzlich floss privates Kapital aus dem Norden in den Süden, um dort eine sinnvolle Infrastruktur zu bauen. Wir brauchen genau diese Impulse wieder. Meines Erachtens wäre das der große Ansatzpunkt für die Banken zu zeigen, dass sie noch eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufgabe haben. Das könnte den Banken sehr nutzen, weil heute jeder daran zweifelt, ob wir die Banken, wie wir sie heute kennen, überhaupt noch brauchen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Das Problem der Banken ist, dass sie sich auch um jede Menge Schwerstverletzter kümmern müssen…

Markus Kerber: Seit Bretton Woods, also seit knapp 40 Jahren, haben wir eine asymmetrische Entwicklung zwischen der Geldwirtschaft und der Realwirtschaft. Seitdem haben sich die Kapitalmärkte und die Geldwirtschaft prächtig entwickelt. Die Entwicklung der Geldmenge ist zu einem endogenen Prozess geworden, der aus dem System heraus entwickelt werden konnte. Er war an nichts mehr gebunden, auch an keine politischen Vorgaben.

Die reale Weltwirtschaft dagegen war bis 1989 zweigeteilt: Wir hatten den Bereich der westlichen Ökonomien und wir hatten den Bereich der Staatsplanwirtschaften im Großbereich der ehemaligen Sowjetunion und der Volksrepublik China. Das heißt, 40 Jahre freie Kapitalmärkte, 20 Jahre freier globaler Markt. Daher ist die Geldwirtschaft viel stärker integriert und agiert globaler als die Realwirtschaft.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Kluft wächst aber wieder, denn nun werden die Banken gerettet, während ein normales Unternehmen überhaupt keine Chance hat auf staatlichen Bailout…

Markus Kerber: Wir haben durch die unterschiedlichen Rettungsmaßnahmen natürlich extrem großen Liquiditätsumlauf im geldwirtschaftlichen Bereich. Hier besteht tatsächlich die Gefahr der Bildung von Blasen - wenn es uns nicht gelingt, Teile der Liquidität zu überführen in Investitionen in echte Wirtschaftsgüter. Da haben die Staaten und die Regierungen die Aufgabe, durch kluge Regulierung diese Kapitalstöcke entstehen zu lassen, um einen Teil der im Geldkreislauf gefangenen Liquidität in echte Investitionen in der realen Wirtschaft zu überführen. Das wären für mich solche Projekte wie die europäischen Netzwerke.

Das Geld muss in Investitionen fließen, die wir im Bereich der entwickelten Wirtschaften brauchen - aber auch in einem gigantischen Umfang in die Entwicklung von ganzen Kontinenten, wie dem afrikanischen beispielsweise. Das heißt: Die Realwirtschaft muss sich der von den Zentralbanken ausgeschütteten Liquidität auch bedienen können und dürfen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Das Gegenteil ist der Fall – die Banken horten das Geld, und machen damit gute Geschäfte oder hoffen, Risiko-Polster zu bilden für die möglichen Zeitbomben, die sich in ihren Derivate-Geschäften verstecken…

Markus Kerber: Das Phänomen, dass die Liquidität zu einem großen Teil im Bankensystem bleibt, ist dadurch zu erklären, dass Banken ihre Eigenkapitalpositionen im Moment relativ elegant aufstocken können - indem sie sich die Liquidität von den Zentralpunkten holen und in Staatsanleihen investieren, die das Drei- oder Vierfache an Basispunkten bringen.

Daher braucht die Eurozone dringend ein zwischen allen Eurozonen-Mitgliedern abgestimmtes, makroökonomisches Businessmodell. Damit können auch die Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Eurozonen-Staaten abgebaut werden. Es genügt eben nicht, dass Deutschland, Holland und ein paar andere in die Weltmärkte exportierten und Überschüsse generieren, während andere Eurozonen-Mitglieder viel stärker auf ein binnenwirtschaftliches Modell setzen - mit geringer Wettbewerbsfähigkeit und einem mit hohen Schulden finanzierten Konsum. Die Eurozone muss ein einheitliches Produktions- und Absatzmodell entwickeln und kann nicht wie ein Mischkonzern weitermachen, mit starken Ungleichgewichten und unterschiedlichen Cashflows.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Einige sagen sich natürlich: Warum sollen wir etwas ändern? Lasst mal die Deutschen dafür zahlen, wir gehören ja alle zum selben Konzern…

Markus Kerber: Ich verstehe vor allem nicht, wie andere Länder sagen können: Man kann die Situation nicht ändern, die Ungleichgewichte sind nun mal so, wie sie sind. Vor zehn Jahren hatten wir die Wachstumsprobleme in Deutschland und es ging den Industrien in anderen Ländern mindesten so gut wie der deutschen, wenn nicht sogar besser. Das heißt, „the proof of the pudding“, wie man so schön sagt, den gab's ja vor zehn Jahren. Das scheinen diese Länder vergessen zu haben.

Und zweitens, was ich vorhin schon sagte, unsere stärksten Konkurrenten sitzen beispielsweise in Oberitalien. Die modernsten und effizientesten Textilherstell- und -distributionsfirmen sitzen in Spanien. Zara und andere machen das tagtäglich vor. In manchen deutschen Einkaufsstraßen bestimmen diese Anbieter das Bild. Das heißt, es gibt in allen Eurozonen-Ländern Nischen und Industrien („pockets of industries“), die ganz klar zeigen: Es gibt ein europäisches Industriemodell und nicht nur ein deutsches.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum wird dann so viel gejammert?

Markus Kerber: Vielleicht fehlt einigen der südeuropäischen Länder das Zutrauen, ihre erfolgreichen Sektoren vergrößern zu können. Leider sehen wir in diesen Ländern einige fundamentale Hindernisse: Das sind administrative, staatliche Hindernisse. Ich beneide die italienischen Kollegen nicht um ihren Kampf mit den Behörden.

Und es gibt Missverständnisse auf der Gewerkschaftsseite, in welche Richtung der Prozess der Industrialisierung führen wird. Ich bin nicht der Meinung, dass eine stärkere Industrialisierung die Wettbewerbsfähigkeit der Eurozonen-Ökonomien zu einer negativen Entwicklung der Lebensgewohnheiten der Menschen führen muss. Das zeigt doch das deutsche Beispiel. Deutschland hat nicht die längsten Arbeitszeiten. Deutschland hat nicht die meisten Überstunden in der Eurozone, ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass wir in Deutschland einen relativ hohen Lebensstil mit hoher Wettbewerbsfähigkeit verbunden haben.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Hindernisse, die Sie beschreiben, sind auch Teil eines weiteren grundsätzlichen Konflikts, der derzeit allerorten in Europa aufbricht: Es geht um den Konflikt der Staatswirtschaft mit der Privatwirtschaft. Viele Regierungen haben kein Interesse an einer unbürokratischen Förderung von Privatinitiativen, weil sie glauben, dass die Wirtschaft ohnehin beim Staat in den besten Händen ist…

Markus Kerber: Es ist unbestritten, dass Nationen und Volkswirtschaften wie die deutsche, wie die holländische, wie die britische, ein ganz klar anderes Verständnis haben von der Rolle des Staates und der Rolle des privaten Marktes. Das drückt sich ja in unterschiedlichen Staatsquoten aus. Offenbar fahren jene Länder und Volkswirtschaften, die eher einen zurückhaltenden Staat - keinen völlig verschwundenen, aber zurückhaltenden! - Staat haben, in der Zeit der Globalisierung besser als jene, die die weniger offen sind, die inflexible Arbeitsmärkte und relativ starke und wirkungsmächtige Regierungen sowie hohe administrative Eingriffe in die Privatautonomie haben. Und das ist vielleicht der Kampf, der in der Eurozone und in der EU in den nächsten zehn Jahren noch geführt werden muss.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie stellen sich also auf einen Kampf ein, der zehn Jahre dauern wird?

Markus Kerber: Ich gehe davon aus, dass wir nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, nachdem das Pendel ja in den Augen vieler eher Richtung Staat ausschlagen wird, klar erkennen werden: Es wird eher der gezügelte, aber eben der private Markt dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt. Die Staaten sind finanziell faktisch nicht mehr handlungsfähig.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Dennoch kommt es jetzt immer mehr zum Ruf nach mehr Staat. Das ist doch eigentlich komplett widersinnig…

Markus Kerber: Ich kann es nachvollziehen, dass in den Augen der breiten Öffentlichkeit der Ruf nach dem Staat kommt. Die breite Öffentlichkeit interpretiert das Fehlverhalten einiger weniger privatwirtschaftlicher Akteure so, als wäre das ganze System so. Umso wichtiger ist, dass jetzt die Realwirtschaft – also die Industrieunternehmen Europas - zeigen, dass sie die Wende herbeiführen können. Dass sie auch jetzt wieder sind, was sie immer waren: Nämlich die Stützen der Beschäftigung, die Stützen der Innovation und diejenigen, die für einen Großteil der Arbeitsplätze und der Wertschöpfung verantwortlich sind. Ich bleibe dabei, Europa braucht einen neuen, privatwirtschaftlichen Investitionsimpuls.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wer soll den Anstoß geben? Sie haben ja selbst gesagt: Die Banken sorgen nur noch für sich selbst, die Staaten sind pleite und handlungsunfähig?

Markus Kerber: Ich sehe eine Lösung in losen Zusammenschlüssen von herausragenden europäischen Unternehmen und Unternehmern. Das werden nicht nur Deutsche sein können. Es gibt in Europa viele Persönlichkeiten in der Industrie, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also Sie würden sagen, dass da die Industrie den Lead übernehmen kann?

Markus Kerber: Ja. Sie sollte zumindest mit einer ganzen Reihe von Investitionsprojekten glänzen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Nicht wenige Volkswirte sagen, die europäischen Volkswirtschaften sind so unterschiedlich, dass es eine Harmonisierung des europäischen Wirtschaftsraumes im strengen Sinn, so zentralistisch wie die EU sich das vorstellt, nicht geben kann. Könnte das der Fall sein?

Markus Kerber: Da bin ich hin und hergerissen. Als Wirtschaftswissenschaftler fällt mir natürlich ein, was Robert Mundell 1962 in einem Aufsatz geschrieben hat: Je heterogener die Partner sind, desto schwerer wird eine Währungsunion. Ich glaube, die Politik hat nie richtig verstanden, dass auch eine Währungsunion nichts anderes ist als ein Wechselkurssystem. Nur haben Sie dabei ein ewig gefixtes Wechselkurssystem ohne geldpolitische Anpassungsmöglichkeiten. Das heißt, die realwirtschaftlichen Anstrengungen sind auch mit einer gemeinsamen Währung immer gegeben. Die heutige Eurozone kann man verstehen als fixes Wechselkurssystem zwischen 17 Teilnehmern – ohne aber geldpolitische Anpassung. Das heißt, alle Anpassungen müssen realwirtschaftlich laufen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele Theorien halten es für unmöglich, dass die Anpassung gelingen kann. Und wenn ja: Wozu werden die Anpassungen führen?

Markus Kerber: Es gibt nur in heterogenen Währungsräumen immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder kommt die Konvergenz und die Partner gleichen sich an. Das ist das Modell, das wir alle präferieren. Oder man sieht es wie Charles Kindleberger mit seiner hegemonialen Stabilitätstheorie: Einer oder zwei große Partner müssen die Stabilität für die ganze Gemeinschaft sicherstellen. Dann haben Sie aber eine asymmetrische Währungszone, wo ein oder zwei Länder - das wären in unserem Fall wahrscheinlich Deutschland und Frankreich - den Ton angeben. Das kann weder im deutschen, noch im französischen, noch im Interesse der anderen sein.

Zumal ich auch nicht glaube, dass die Deutschen in der Lage und willens wären, diese Rolle zu spielen. Es bleibt uns also in dieser heterogenen Zone nur eins: Über lange, schmerzhafte Anpassungsprozesse aller 17 Staaten die Konvergenz herbeizuführen und dann vielleicht in fünf oder sechs Jahren in einer homogeneren Währungszone des Euros zu leben.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wenn ich das jetzt richtig heraushöre: Sie würden auch nicht ausschließen, dass der Prozess nicht gelingt?

Markus Kerber: Das kann man nie ausschließen, aber ich bin traditionell ein Optimist und ich glaube, das wird uns gelingen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und wenn nicht? Muss Deutschland dann, wie George Soros sagt, zur „gutmütigen Hegemonial-Macht“ in Europa werden?

Markus Kerber: Es gibt in der englischsprachigen Presse auch den Begriff des „widerwilligen Hegemons“ (reluctant hegemon). Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die deutsche Ökonomie ist auf Grund ihrer schieren Größe so etwas wie ein Pol, an dem sich bestimmte Entwicklungen ausrichten.

Aber es gibt kein politisches Projekt und auch keine Mehrheitsmeinung in Deutschland, die eine hegemoniale Stellung anstrebt oder gar zum Ziel erhebt. Wir haben vielleicht bestimmte Größenwirkungen, aber die sind unwillentlich. Es wäre wahrscheinlich am hilfreichsten, es gäbe Kapitalexporte aus den Überschussländern in die Defizitländer, um dort Kapitalstock aufzubauen, von dem dann ganz Europa profitiert. Das wäre die ideale Lösung. Daran muss Brüssel arbeiten mit den wesentlichen Akteuren in den nationalen Hauptstädten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Brüssel arbeitet derzeit eher in die gegenteilige Richtung: Ein gemeinsames Budget, politische Union, sogar eine gemeinsame Armee – das sind die Dinge, die dort diskutiert werden…

Markus Kerber: Ich glaube, eine zunehmende Zentralisierung hat in Europa wenig Chancen. Ich wage mal die Hypothese, dass wenn wir in zehn oder 15 Jahren auf das neue Europa schauen, könnte das sehr aussehen wie eine große Schweiz. Starke nationale Kantone mit hohem Eigenbestimmungsrecht und eine Zentralisierung von wenigen Aufgaben in der bundesstaatlichen Spitze. Das wäre dann in Brüssel. Das könne die Außenpolitik oder die Sicherheitspolitik sein, aber mit hoher Steuerautonomie in den verbleibenden nationalen Einheiten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Das ist ein schönes Bild, das werden die in Brüssel sicher nicht gerne hören.


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