Politik

EU könnte Griechenland mit „Panik-Paragraph“ zu Gehorsam zwingen

Lesezeit: 7 min
30.06.2015 16:12
Alexis Tsipras hat den letzten Troika-Vorschlag abgelehnt. Die jüngste Wortmeldung von Angela Merkel lässt nichts Gutes erahnen: Die EU könnte nun den sogenannten „Panik-Paragraphen“ aus den EU-Verträgen aktivieren. Dieser erlaubt auch Zwangsmaßnahmen außerhalb der Rechtsordnung der EU.

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Der Machtkampf der EU mit der Syriza-Regierung steuert auf eine neue Eskalation zu. Am Dienstag hat der griechische Premier Alexis Tsipras erklärt, auch weitere Ideen der EU abzulehnen.  Im Lauf des Tages hatte bereits die Luxemburger Börse den Handel mit griechischen Staatsanleihen ausgesetzt. Angela Merkel hat in einer sehr kalten Wortmeldung wissen lassen, dass ihr keine Vorschläge bekannt seien, die zu einer gemeinsamen Lösung der Krise führen könnten. Auch den Plänen für einen Zwischenfinanzierung erteilte Merkel eine Absage.

Der Druck auf die Syriza-Regierung hat sich in den vergangenen Stunden deutlich erhöht. Während die Euro-Retter entweder seltsame Vorschläge machen oder in der Sache überfordert sind, wird im Hintergrund abgewogen, welche Zwangsmaßnahmen man gegen Griechenland verhängen kann.

Und es gibt einige sehr wirkungsvolle. Man sollte nicht unterschätzen, dass sich die EU im Lauf der Zeit ein beträchtliches Arsenal zugelegt hat, um gegen unbotsame Mitgliedsstaaten vorzugehen.

Ein Austritt Griechenlands aus dem Euro ist rechtlich nicht möglich. Die Mitgliedschaft an der Währungsunion ist unwiderruflich, darüber sind sich die meisten Juristen einig. Natürlich gebe es Möglichkeiten aus dem Euro faktisch auszuscheiden, etwa in Form einer Parallelwährung. Doch dies löst keine Probleme.

Besonders ist die Lage, weil Griechenland zwar im Euro verbleiben muss, jedoch aus der EU austreten könnte. Eine entsprechende Passage ist in den EU-Verträgen vorgesehen. Allerdings ist auch diese im konkreten Fall nicht praktikabel. Denn der geordnete Austritt sieht vor, dass das austrittswillige Land und die EU sich in einem zweijährigen Prozess auf eine Übereinkunft verständigen, mit der alle Fragen gelöst werden. Doch weder die EU noch Griechenland haben zwei Jahre Zeit.

Die Amerikaner wollen, dass Griechenland im Euro bleibt. Es geht den Amerikanern um die Sicherung der Nato-Stützpunkte an der europäischen Südflanke. Im Konflikt mit Russland ist diese strategische Position wichtig. Die New York Times hatte erst vor wenigen Tagen die politische Zukunft Angela Merkels mit dem Zusammenhalt der Euro-Zone verknüpft.

Daher besteht nun die Möglichkeit, dass die EU auf den sogenannten Panik-Knopf drückt, also einen politischen Prozess in Gang setzt, der ihr im Grunde die Möglichkeit gibt, auch gegen den Willen einer Regierung Maßnahmen zu erzwingen. Diese Möglichkeit versteckt sich unter der Nummer 352 in den EU-Verträgen. Er lautet:

Artikel 352 AEUV

(1) Erscheint ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften. Werden diese Vorschriften vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so beschließt er ebenfalls einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Euro-päischen Parlaments.

(2) Die Kommission macht die nationalen Parlamente im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Artikel 5 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union auf die Vorschläge aufmerksam, die sich auf diesen Artikel stützen.

(3) Die auf diesem Artikel beruhenden Maßnahmen dürfen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Fällen beinhalten, in denen die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen.

(4) Dieser Artikel kann nicht als Grundlage für die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dienen, und Rechtsakte, die nach diesem Artikel erlassen werden, müssen innerhalb der in Artikel 40 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Grenzen bleiben.

Dieser Artikel versetzt die EU in die Lage, auch ohne rechtliche Grundlage Zwangsmaßnahmen gegen Mitgliedsstaaten vorzunehmen. Die Regelung entspricht in etwa dem, was man aus der nationalen Gesetzgebung als Notstandsgesetzgebung kennt. Die einzige Einschränkung in den Paragraphen ist, dass er nicht als Grundlage für die Verwirklichung von Zielen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verwendet werden darf. Es ist also quasi ein Paragraph zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der EU. Es ist interessant, dass dieser Paragraph ausgerechnet von dem in Washington und seit neuestem auch in Brüssel sehr einflussreichen US-Magazin Politico als Lösungsvorschlag auftaucht - in einer im übrigen sehr lesenswerten Analyse der unübersichtlichen Gesetzeslage zum Euro-Austritt.

Allein die Drohung mit diesem Mechanismus dürfte ihre Wirkung auf die Regierung Tsipras nicht verfehlen. Denn bisher hat die Regierung in Athen darauf spekuliert, dass die Aussicht auf 360 Milliarden Euro Verlust an Steuergeldern die EU entscheidend schwächen würde. Angesichts der Zwangsmaßnahmen, die der EU noch zur Verfügung stehen, dürfte bei der Syriza-Truppe eine gewisse Ernüchterung eingekehrt sein.

Zwar ist das Procedere zur Umsetzung scheinbar kompliziert, weil alle EU-Institutionen an einer entsprechenden Vorgehensweise mitwirken müssen. Doch dies dürfte im vorliegenden Fall kein besonderes Hindernis darstellen. Sowohl die EU-Kommission als auch das Parlament und erst recht der Rat sind davon überzeugt, dass das Vorgehen Griechenlands aus Sicht Brüssels inakzeptabel ist. Weiters sind alle Beteiligten überzeugt, dass ein ungeordnetes Vorgehen in Griechenland verheerende Folgen auf alle anderen Euro Staaten haben würde. Insbesondere sind alle regierenden Parteien, also die Konservativen und die Sozialdemokraten, der Auffassung, dass um jeden Preis verhindert werden muss, dass andere Parteien als sie selbst in irgendeinem Mitgliedsstaat an die Regierung kommen könnten.

Daher würde sich eine entsprechende Einstimmigkeit der Gremien relativ schnell herstellen lassen. Unklar ist freilich, ob eine Entscheidung unter der Ausgrenzung Griechenlands möglich ist. Denn eigentlich ist eines der Prinzipien der EU die Einstimmigkeit in allen Fragen. Jedes Land kann im Grunde ein Veto zu jedem Beschluss einlegen.

Hier haben wir bereits am Wochenende eine Veränderung der Rechtspraxis gesehen: Die Euro Finanzminister haben einen Beschluss gegen Griechenland gefasst, nachdem der griechische Finanzminister die Beratungen verlassen musste. Ob der griechische Finanzminister aus den Beratungen ausgeschlossen wurde oder diese freiwillig verlassen hat, ist fast nebensächlich. Tatsächlich verstößt das Vorgehen der Euro Finanzminister gegen die bisherige Rechtspraxis der EU. Allerdings könnte genau dieser Tabu-Bruch ein Testballon gewesen sein, um das von den großen Staaten verhasste Einstimmigkeitsprinzip in der EU quasi im Handstreich zu eliminieren.

Welche Zwangsmaßnahmen die EU nun gegen Griechenland verhängen kann, ist unklar. Denkbar ist zum Beispiel die Einsetzung eines Schuldenkommissars. Dieser könnte, von Brüssel entsandt, in Athen nach dem Rechten sehen. In der Geschichte sind solche Schuldenkommissare durchaus bekannt. So hatte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg viele Jahre einen solchen Kontrolleur in Berlin zu akzeptieren. Kurioserweise hatte dieser Mann die Alliierten rechtzeitig vor der drückenden Schuldenlast und der Gefahr einer sozialen Explosion in Deutschland gewarnt. Sie haben nicht auf ihn gehört.

Die EU hat vielfältige Druckmittel gegen Griechenland in Hand. Vor allem kann die europäische Zentralbank (EZB) je nach Belieben die griechischen Banken am Leben erhalten, oder alle gleichzeitig in den Abgrund stoßen. Der Zustand der Banken ist verheerend. Die massive Abwanderung von Kapital in den vergangenen Monaten hat die Banken ausgezehrt. Zugleich hat sich herausgestellt, dass 50 Prozent der Kredite als faule Kredite zu qualifizieren sind. Die Sicherheiten, die bei den Banken hinterlegt sind, sind Schiffe und Immobilien, wie Michael Bernegger höchst akkurat analysiert hat. Beide sind einem dramatischen Preisverfall ausgesetzt, weshalb eine flächendeckende Bankenpleite in Griechenland die Frage eines Federstrich in der EZB-Zentrale ist.

Der französische EZB-Direktor Benoit Coeuré hat die Griechen vorgewarnt: Ein Ausscheiden des Landes aus dem Euro sei möglich, wenn auch nicht das, was die Europäische Zentralbank (EZB) wolle, sagte Coeué in einem am Montagabend veröffentlichten Interview der französischen Zeitung Les Echos. Solche Wort aus der EZB sind unerhört. Noch vor zwei Jahren hatte Mario Draghi den Fortbestand des Euro mit den Worten gesichert, dass die Einheitswährung irreversibel sei.

Welche Strategie genau die EU in den kommenden Tagen verfolgt, wird davon abhängen, ob die Märkte weiter ruhig bleiben. Denn tatsächlich haben die Börsen auf die Aussicht eines Chaos in Griechenland relativ entspannt reagiert. Die Verluste hielten sich in Grenzen. Der Anstieg der Zinssätze für Staatsanleihen war zwar in Prozentzahlen dramatisch, in absoluten Zahlen müssen die südeuropäischen Schuldenstaaten immer noch sehr wenig für neue Schulden bezahlen. Außerdem kann die Europäische Zentralbank jederzeit mit ihrem Ankaufprogramm die Preise drücken. Sie hat dazu gerade rechtzeitig vom europäischen Gerichtshof grünes Licht erhalten und kann nun ihr OMT-Programm unbeeindruckt von allen Marktreaktionen durchziehen. Damit kann die EZB politische Aktionen im Euro Raum auf der Marktseite absichern. Abgesehen davon werden sich die Märkte dankbar zeigen, wenn die Ordnung hergestellt wird. Sie sind nicht für die Wahrung der demokratischen Prinzipien zuständig.

Es ist durchaus vorstellbar, dass die Euro-Retter vor allem die Reaktion der Märkte am Montag abwarten wollten, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Die globalen Reaktionen waren auch auf politischer Ebene überschaubar: In China, Indien oder Brasilien fand das Themen Griechenland auf den Titelseiten der großen Zeitungen nicht statt. Russland fordert Disziplin und Stabilität und ist ja bekanntermaßen auch nicht gerade der Staat, der sich unsterbliche Verdienste um die Subsidiarität von Teil-Staaten erworben hat. Russland denkt in Großmacht-Kategorien, und da ist Zwang immer noch das probateste Mittel, wenn irgendwelche Teil-Republiken aufmucken.

Die Härte der Tonart gegen über Griechenland am Dienstag ist jedenfalls unüberhörbar. Angela Merkel muss aus geopolitischen Gründen dafür sorgen, dass die Lage in der Eurozone unter Kontrolle bleibt. Der Euro ist ein gemeinsames Projekt, welches aus Sicht aller Beteiligten in der Troika unter keinen Umständen gefährdet werden darf. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erklärte daher auch am Dienstag, dass Griechenland in jedem Fall im Euro bleiben werde, egal wie das Referendum am Sonntag endet.

Am Ende hat sich beim Treffen der Finanzminister gezeigt, dass Politiker in der Krise nicht dazu neigen, den Verstand einzusetzen. Im speziellen Fall der Euro Finanzminister ist außerdem ein erstaunlicher Mangel an Fachkenntnis und Entscheidungsbereitschaft zu erkennen. Stattdessen sind die verschiedenen Staaten in einer bisher unbekannten Weise auf einander losgegangen. Noch nie in der Geschichte der EU wurde ein einzelner Staat dermaßen als Paria behandelt wie Griechenland im der vorliegenden Schuldenkrise. Ein ähnliches Verhalten haben die Staaten und Institutionen der EU zuletzt gegen Österreich gezeigt, als dort Jörg Haider in die Regierung aufgenommen wurde und Österreich quasi der Status eines vollwertigen Mitglieds vorübergehend aberkannt wurde.

Es ist in diesem Falle also durchaus denkbar, dass die EU schon bald den Panik-Knopf drücken könnte. Der Grund liegt auf der Hand. Die in allen Staaten und Gremien herrschenden, etablierten Parteien sehen in dem Verhalten der griechischen Regierung eine Bedrohung des Status Quo. Unter Status Quo verstehen Regierungen allerdings nicht, dass es allen europäischen Bürgern gleich gut gehen soll. Sie verstehen darunter, dass nur Regierungen als EU-konform gelten, in denen Konservative oder Sozialdemokraten führend vertreten sind. Um diesen Status zu erhalten, werden die Euro-Retter vor Zwangsmaßnahmen gegen Griechenland vermutlich nicht zurückschrecken.

Zu diesem Zweck dürfte dem griechischen Volk ein weiteres, strenges Austeritäts-Programm auferlegt werden. EU-Präsident Donald Tusk hat der griechischen Regierung bereits angeboten, sie könne jederzeit ein drittes Kredit-Programm beantragen.

Zugleich dürfte den europäischen Steuerzahlern ein saftiger Schuldenschnitt verordnet werden. Beide Maßnahmen sind jedoch nicht der Ausgangspunkt für eine gedeihliche Entwicklung in Griechenland und in der Eurozone. Beide Maßnahmen werden dazu führen, dass das aktuelle System der EU nur mit noch mehr Zwang aufrechtzuerhalten ist. Die Euro Retter sind verzweifelt. Daher werden sie vor illegalen Maßnahmen nicht zurückschrecken.

Es wäre nicht das erste Mal. Bereits bei der ersten Euro-Krise hatte IWF Chefin Christine Lagarde gesagt, dass die Troika ganz bewusst europäisches Recht verletzt habe. Es sei um das höhere Gut, nämlich das Aufrechterhalten der Eurozone in ihrer klassischen Form, gegangen.

Politiker und Technokraten, die so denken, sind zu allem fähig.


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