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DWN-Exklusiv: Merkel setzt in Libyen auf die falsche Karte

Lesezeit: 7 min
21.07.2020 08:37  Aktualisiert: 21.07.2020 08:37
Die Bundesregierung hat sich im Libyen-Konflikt und im östlichen Mittelmeer für Frankreichs Interessen einspannen lassen. Damit begeht sie aus verschiedenen Gründen einen eklatanten Fehler - mit möglichen schweren Folgen für deutsche Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen.
DWN-Exklusiv: Merkel setzt in Libyen auf die falsche Karte
19.01.2020, Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfängt Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, vor dem Bundeskanzleramt zur Libyen-Konferenz. (Foto: dpa)
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Deutschland, Frankreich und Italien drohen mit der Bestrafung von Ländern, die gegen das für Libyen geltende UN-Waffenembargo verstoßen. „Wir sind bereit, eine mögliche Verhängung von Sanktionen in Betracht zu ziehen, sollten Verstöße gegen das Embargo zur See, an Land oder in der Luft anhalten“, hieß es am Samstagabend in einer gemeinsamen Erklärung von Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Giuseppe Conte.

Konkrete Staaten, die für Sanktionen in Frage kommen könnten, wurden in der Erklärung nicht genannt. Frankreich bezichtigt allerdings schon länger die Türkei, mit Waffenlieferungen an die Truppen der libyschen Regierung, die jedoch auch von der UN unterstützt wird.

Frankreich selbst bricht Waffenembargo in Libyen

Die gemeinsame Erklärung birgt einige Risiken in sich. Frankreich selbst gehört nämlich zu jenen Staaten, die den Söldner-General Chalifa Haftar militärisch unterstützen. Doch Haftar wird im Gegensatz zur libyschen Regierung nicht von der UN unterstützt. Im Juli 2019 wurden auf einem Militärstützpunkt in Libyen, der von Haftars Söldnern kontrolliert wurde, Panzerabwehrraketen gefunden, die nachweislich von Frankreich geliefert wurden, berichtet die BBC.

Die Vereinigten Arabischen Emirate, Frankreich, Russland und Ägypten unterstützten nach Angaben der Brookings Institution die Militärkampagne Haftars zur Eroberung der libyschen Hauptstadt Tripolis. Sie versorgten Haftar mit „erheblicher militärischer und politischer Unterstützung“.

„Aufgrund der langjährigen Unterstützung von Paris für Haftar könnte die EU Schwierigkeiten haben, sich als glaubwürdiger und ehrlicher Friedensvermittler zu positionieren“, so die Brookings Institution.

Tatsächlich schwieg die EU zur militärischen Unterstützung Haftars durch Frankreich, bis die Türkei im aktuellen Jahr eine Wende im Libyen-Konflikt herbeiführte, um Haftars Söldner zurückzudrängen.

Haftar geriet in Libyen ins Hintertreffen. Die USA, Russland und die Türkei gingen dazu über, trilaterale Verhandlungen über die Zukunft Libyens zu führen.

Es sah so aus, als ob sich in Libyen eine Neuaufteilung der Einflusssphären nach dem Vorbild Syriens unter Beteiligung Washingtons, Ankaras und Moskaus abzeichnen würde. Dies beunruhigte nicht nur Macron, sondern auch Kanzlerin Merkel.

Deutschlands wirtschaftliche Interessen in Libyen

Im Juni 2020 traf sich der deutsche Botschafter in Libyen, Oliver Owcza, mit Haftar in der Stadt Al-Rajma, um ihn dazu zu überreden, dem politischen Prozess in Libyen beizutreten, berichtet der Libya Observer. Im Januar 2020 hatte die Bundesregierung die „Berliner Libyen-Konferenz“ veranstaltet, weil sie frühzeitig erkannt hatte, dass Haftars Söldner nicht mehr die Kraft aufbringen würden, Tripolis zu erobern. Doch die Konferenz blieb erfolglos, weil Haftar weiterhin auf die militärische Karte setzen wollte.

Diesen diplomatischen Bemühungen lagen unter anderem wirtschaftliche Interessen zugrunde.

Das deutsche Interesse an Libyen hat mehrere Gründe:

Die BASF-Tochter Wintershall ist bereits seit 1958 in Libyen aktiv und betrieb bisher Ölfelder in der libyschen Wüste. „Über ihr Tochterunternehmen Wintershall Aktiengesellschaft (WIAG) ist Wintershall Dea an der Erdölproduktion aus neun Feldern in den Areas 91 (vormals Konzession 96) und 107 (vormals Konzession 97) im östlichen Sirte-Becken, rund 1.000 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis im Munizip Al-Wahat beteiligt. Seit 2008 hält Gazprom E&P International einen Anteil von 49 Prozent an diesen Aktivitäten. Mit einer Brutto-Produktionskapazität von derzeit rund 40.000 Barrel Öl pro Tag ist das As-Sarah-Feld nahe der Oasensiedlung Jakhira die bedeutsamste Lagerstätte“, teilt das Unternehmen auf seiner Webseite mit.

Das deutsche Bau- und Dienstleistungsunternehmen Bilfinger Berger baute vor dem Sturz von Präsident Muammar Gaddafi libysche Autobahnen und führte die Ingenieurarbeiten für ein großes Gasturbinenkraftwerk in der Industriestadt Zawia, 40 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis, durch. Der Auftrag umfasste die Fundamentarbeiten für die Installation von Generatoren und Turbinen für den Kühlturm und die Wassertanks.

Im Jahr 2009 veröffentlichte die FAZ einen Bericht, aus dem hervorgeht, wie wichtig Libyen für deutsche Unternehmen und Investoren ist. „Geld ist in Libyen auch in der Krise mehr als genug da (…) Ausländische Investitionen und entsprechendes Knowhow sind daher hochwillkommen (…) Längst balgen sich alle um ein großes Stück des libyschen Kuchens“, so die FAZ. Wenn der Libyen-Konflikt vorübergehen sollte, wäre beim Wiederaufbau des Landes viel Geld zu verdienen, um gleichzeitig einen „Coup“ für die europäische Energiesicherheit zu landen.

Der zweite Grund, warum Libyen wichtig ist für Deutschland und die EU, betrifft die Flüchtlings-Krise. Der Sturz von Gaddafi hat dazu geführt, dass das „libysche Flüchtlings-Tor nach Europa“ weit geöffnet wurde. Die US-Wissenschaftlerin von der Tufts University in Boston, Kelly Greenhill, führt in ihrem Buch „Weapons of Mass Migration“ aus: „Im Falle des Sturzes von Gaddafi in Libyen spielte Gaddafi trotz seiner vielen unangenehmen Eigenschaften eine bedeutende Rolle bei der Regulierung der Migrationsströme über das Mittelmeer“. Die Zeitung Christian Science Monitor bestätigt, dass erst der vom Westen initiierte Sturz von Gaddafi zur aktuellen Flüchtlings-Krise im Mittelmeer geführt hat.

Deutschland und die EU haben kein Interesse daran, dass die USA, Russland oder die Türkei Libyen kontrollieren. Sie wissen, dass die „Flüchtlings-Karte“ erneut als Druckmittel eingesetzt werden könnte - aber diesmal über das Mittelmeer.

Der dritte Grund für das europäische Interesse an Libyen liegt in den Handelswegen im Mittelmeer. Ende November 2019 unterzeichneten die Türkei und Libyen ein Seerechtsabkommen. Das Abkommen würde, wenn die Türkei ihren Einfluss über die libysche Regierung festigen kann, einen „Scharnier“ durch das östliche Mittelmeer schaffen, der sich von der türkischen Küste bis zur libyschen Küste erstreckt. Damit würde die Türkei als Verbündeter der USA und Partner Russlands die Möglichkeit erhalten, einen Einfluss auf den Seeweg im Mittelmeer, der wichtig ist für den internationalen Handel, zu erhalten. Das Seerechtsabkommen erfolgte als Antwort auf die griechischen Provokationen im östlichen Mittelmeer (Ägäis und Zypern). In gewisser Weise hat die Regierung in Athen das Gegenteil von dem ausgelöst, was sie eigentlich erreichen wollte.

Das Seerechtsabkommen zwischen der Türkei und Libyen stieß in der Bundesregierung auf Kritik. „Wir rufen die Türkei und Libyen auf, die Souveränität und die souveränen Rechte aller EU-Mitgliedstaaten zu respektieren“, sagte die Sprecherin des Auswärtigen Amtes, Maria Adebahr, im Dezember 2019 in Berlin mit Blick auf Griechenland und Zypern. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die Türkei das Seerechtsabkommen unterzeichnet hat, ohne diesen Schritt zuvor mit Moskau und Washington abgestimmt zu haben.

Libyen und das östliche Mittelmeer

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hatte der Bundesregierung im März 2020 empfohlen, Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen. Die SWP argumentiert: „Insbesondere die Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft von der EU ist offensichtlich und bietet eine starke Hebelwirkung im Umgang mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Wirtschaftssanktionen würden sich auch indirekt auf die am Konflikt beteiligten EU-Mitgliedstaaten auswirken. Denn eine Sanktionspolitik kann nur umgesetzt werden, wenn die EU-Mitgliedstaaten das UN-Waffenembargo strikt einhalten. Aber auch in diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass die führenden EU-Mitgliedstaaten nicht bereit sind, wegen Libyen einen Konflikt mit Ägypten und den Vereinigen Arabischen Emiraten zu riskieren. Selbst wenn sich die EU-Mitglieder auf Sanktionen gegen die Türkei einigen würden, hätte die EU immer noch keine Möglichkeit, Druck auszuüben, der sich auf die anderen zentralen Konfliktakteure auswirken könnte.“

Die SWP geht fehl in der Annahme, dass sich die Türkei durch Wirtschaftssanktionen beeindrucken lässt. Die türkische Intervention in Libyen steht in direkter Verbindung mit dem östlichen Mittelmeer. Griechenland, Zypern und Ägypten wollen die Grenzen in den Gewässern unter Ausschluss der Türkei bestimmen.

Sollte dies geschehen, würde der Zugang der Türkei zum Mittelmeer versperrt werden – mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft und die maritime Sicherheit des Landes. Internationale Konzerne würden in Zusammenarbeit der anderen Anrainerstaaten die enormen Öl- und Gasvorkommen ausbeuten, um dadurch einen exklusiven wirtschaftspolitischen Vorteil zu erlangen. Weiterhin würde die Türkei mittelfristig Nordzypern abtreten müssen. Ausgehend von diesen Fakten, ist die Präsenz der Türkei in den Gewässern und in Libyen offenbar überlebenswichtig.

Ein weiterer Faktor sollte nicht außer Acht gelassen werden: im Mai 2020 verurteilten Frankreich, die Vereinigen Arabischen Emirate und Ägypten die „illegalen Aktivitäten“ der Türkei im östlichen Mittelmeer. Dabei sind die Vereinigen Arabischen Emirate und Frankreich keine Anrainerstaaten. Die Erklärung bezog sich auf die Bohrungen der Türkei im östlichen Mittelmeer. Israel unterließ es, diese Erklärung zu unterzeichnen. Wenige Tage zuvor hatte das israelische Außenministerium über den Kurznachrichtendienst Twitter mitgeteilt: „Wir sind stolz auf unsere diplomatischen Beziehungen zur Türkei. Wir hoffen, dass unsere Beziehungen in Zukunft noch stärker werden. Liebe Grüße an alle unsere türkischen Follower“. Damit wollte Jerusalem seine Position bereits im Vorfeld deutlich machen.

Diese jüngste pro-türkische Haltung Jerusalems hängt in erster Linie damit zusammen, dass es eine Überlappung des israelischen Yishai-Gasfelds und des zypriotischen Aphrodite-Gasfelds gibt, die in der Vergangenheit zu Streitigkeiten zwischen Jerusalem und Nikosia geführt hatte. Einem Bericht zufolge erklärten sich israelische Regierungsbeamte bereits im Dezember 2019 bereit, gemeinsam mit der Türkei eine Gas-Pipeline nach Europa zu errichten, um Gas aus dem östlichen Mittelmeer zu transferieren, so TRT World. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Ankara auf mittelfristige Sicht ähnliche Botschaften aus Kairo erhält – trotz der aktuellen ägyptisch-türkischen Spannungen in Libyen.

Wenn dies geschehen sollte, würden die Sanktionsdrohungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens weitgehend hinfällig werden, weil in den Gewässern zwischen der Türkei und Libyen eine neue Lage entstehen würde. Vielleicht muss es in Libyen zu einer türkisch-ägyptischen Konfrontation kommen, bevor Kairo im östlichen Mittelmeer seine Position anpasst. Die Entwicklungen müssen an dieser Stelle genau beobachtet werden.

Italien tanzt auf allen Hochzeiten

Die Position Italiens in Libyen ist widersprüchlich. In den vergangenen Jahren stand das Land auf der Seite der Türkei, der UN und der libyschen Regierung, um eine klare Position gegen Haftar zu vertreten. Doch am vergangenen Wochenende machte Rom im Verlauf des EU-Sondergipfels einen Rückzieher.

Es ist davon auszugehen, dass Paris und Berlin die anstehenden Corona-Hilfen an die Haltung Italiens in Libyen gekoppelt haben. Denn Italien kann sich finanziell nicht auf Deutschland und Frankreich verlassen, um gleichzeitig eine entgegengesetzte Position in Libyen zu vertreten – zumindest noch nicht. Das erklärt, warum die Regierung in Rom ihre Unterschrift unter die gemeinsame Sanktions-Drohung gesetzt hat, die sich in erster Linie gegen die Türkei und Russland richtet. Von offenen oder versteckten Drohungen gegen die USA halten sich Deutschland und Frankreich hingegen fern, obwohl beide Länder die Präsenz der USA in Libyen und Syrien mit Argwohn beäugen.

Der Bundesregierung sollte klar sein, dass Italien seine Position in Libyen erneut wechseln könnte, sobald das Land Corona-Hilfen und dementsprechende Garantien erhält.

Fazit: Die Bundesregierung sollte sich in Libyen und im östlichen Mittelmeer nicht für die Interessen Emmanuel Macrons einspannen lassen, zumal die Nato die aggressive Mittelmeerpolitik des Präsidenten nicht unterstützt.

Frankreich steht in Libyen auf verlorenem Posten. Innenpolitisch steuert Präsident Macron auf eine politische Isolation zu und seine Kritiker sind an und dabei, das Ruder zu übernehmen.

Um deutsche wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen in Libyen zu vertreten, sollte die Bundesregierung diplomatische Unterhändler einsetzen, die sich mit der Türkei, den USA und Russland auf gemeinsame Leitlinien in Libyen verständigen. Ein derartiger Schritt würde den Realitäten entsprechen. Im Vordergrund der Gespräche sollte die Beteiligung deutscher Unternehmen am Wiederaufbau des Landes und die Flüchtlings-Frage stehen.

Deutschland sollte nicht auf die falsche Karte, also Macron, setzen. Die Folgen einer falschen Entscheidung lassen sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht abschätzen – aber sie wären unter allen Umständen negativ.


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