Zur Plenarsitzung vom 22.05.2015 - TOP 27 „Gesetz zur Tarifeinheit" hat der CDU-Abgeordnete Heribert Hirte eine persönliche Erklärung nach § 31 GO-BT abgegeben. Darin begründet er, warum er gegen das neue Gesetz zur Tarifeinheit gestimmt hat.
Die Erklärung im Wortlaut:
Als Mitglied des Rechtsausschusses fühle ich mich persönlich in besonderer Weise in der Verantwortung, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen bei meinen Entscheidungen zu berücksichtigen.
Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes postuliert eine Koalitionsfreiheit, die nur durch gleich wertige Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann. Koalitionsfreiheit heißt dabei aber nicht nur, kollektiv seine Arbeitsbedingungen auszuhandeln, sondern gerade auch frei entscheiden zu können, wer dies für einen tut - und wer gerade nicht. Auch bedeutet Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur, sich zu entsprechenden Koalitionen zusammenschließen zu können, sondern auch gerade in Koalitionen, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in der Lage sind, für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzutreten!
Beide diese wesentlichen Bestandteile von Art. 9 Abs. 3 GG werden durch das Tarifeinheitsgesetz aber konterkariert. Sollte in einem Betrieb mehr als eine Gewerkschaft Tarifverträge - natürlich jeweils nur für ihre Mitglieder - ausgehandelt haben, die sich vom Inhalt her „überlappen", so soll dies nach § 4a TVG-neu dazu führen, dass lediglich die (überlappenden) Normen anwendbar sind, die von der „Mehrheitsgewerkschaft" ausgehandelt wurden. Damit sind in diesem Bereich Verhandlungen über solche Gegenstände für die „Minderheitsgewerkschaft" tabu: Bei einem umfassenden Tarifvertrag der „Mehrheitsgewerkschaft„ ergibt sich überhaupt kein weiteres Betätigungsfeld. Der „Minderheitsgewerkschaft" bleibt nach § 4a Abs. 4 TVG-neu lediglich die Möglichkeit, die überlappen den Normen des „Mehrheitstarifvertrags" nachzuzeichnen - und damit zu akzeptieren, was sie selbst nicht ausgehandelt hat. Damit ist faktisch das erste der oben genannten Elemente der Koalitionsfreiheit ausgeschaltet.
Möchte man als einzelner Arbeitnehmer noch Einfluss auf seine Arbeitsbedingungen nehmen - was faktisch in großen Betrieben nur über die Einflussnahme auf den Tarifvertrag möglich ist - bleibt lediglich die Mitgliedschaft in der „Mehrheitsgewerkschaft". Somit ist auch die Wahl der Gewerkschaft faktisch für den Einzelnen nicht mehr frei, kann doch über die „Minderheitsgewerkschaft" nicht mehr auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen effektiv eingewirkt werden.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der vorgelegte Entwurf gerade nicht den Status quo ante (z.B. BAG v. 20.3.1991 - 4 AZR 455/90) wiederherstellen möchte, der von einem Spezialitätsprinzip getragen war und nur einen Tarifvertrag pro Berufsgruppe vorsah. Viel mehr schränkt das Tarifeinheitsgesetz den Art. 9 Abs. 3 GG noch stärker als diese früher geltende und für verfassungsgemäß gehaltene Rechtsprechung ein. Mir ist dabei natürlich bewusst, dass die künftige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht vorhersehbar ist. Zu berücksichtigen ist natürlich, dass sich auch Rechtsprechung entwickelt und somit nicht leicht aus heutigen Entscheidungen auf zukünftige geschlossen werden kann. Aber sowohl die Arbeits- wie auch die Verfassungsgerichtsbarkeit hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Rahmen eines langfristigen Prozesses den Individualfreiheiten kontinuierlich ein größeres Gewicht beigemessen. Dass die in der Tat unvorhersehbare Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu einem Grundrechtsverständnis der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückkehren könnte, erscheint somit wenig wahrscheinlich.
Diese Beurteilung des Gesetzentwurfs als verfassungswidrig steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass es nach unserer Einschätzung in der Tat Maßnahmen gegeben hätte, die in verfassungsgemäßer Weise das mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ziel hätten erreichen können. Zu nennen sind wie in zahlreichen anderen europäischen Ländern insbesondere Ankündigungsfristen, Schlichtungsverfahren oder die Koordination von Streikzeiten. Dies kann bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die bei der Einschränkung von Grundrechten vorzunehmen ist, nicht unberücksichtigt bleiben.
Völlig unberücksichtigt geblieben sind die schuldrechtlichen Beziehungen (Verträge bzw. öffentlich-rechtliche Schuldverhältnisse) zu Drittbetroffenen, die durch Streiks mittelbar beeinträchtigt werden. Während es hier im Fernverkehr der Eisenbahnen und im Luftverkehr klare Regelwerke gibt, herrscht im Bereich der (vor allem öffentlich-rechtlich organisierten) kommunalen Daseinsvorsorge ein unüberschaubarer Flickenteppich vor, der Dritte in zahlreichen Fällen (Kindergärten, ÖPNV, Frachtverkehr) einseitig belastet, andererseits aber in die von den Arbeitsgerichten vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Streiks bisher nicht sicher einbezogen wird.
Die kleinen Gewerkschaften wollen schnell und mit vielen Klagen gegen das Tarifeinheitsgesetz vorgehen. „Wir werden Klage beim Verfassungsgericht einreichen, sobald die Tarifeinheit im Gesetzblatt steht" sagte der Chef des Marburger Bundes, Rudolf Henke, der in Düsseldorf erscheinenden Rheinischen Post. Der Beamtenbund kündigte für Juli eine Klage an.
„Ich rechne fest damit, dass eine Vielzahl an Klageschriften beim Verfassungsgericht eingehen wird", sagte Klaus Dauderstädt, Chef des Beamtenbunds. Man werde sich mit anderen Gewerkschaften wie demMarburger Bund und der Vereinigung Cockpit abstimmen: „Am Ende wird es aber getrennte Klagen geben." Für die Pilotenvereinigung Cockpit wird der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) die Klageschrift ausarbeiten, erfuhr die Zeitung von der Gewerkschaft.
Das umstrittene Gesetz zur Tarifeinheit hatte am Freitag die letzte Hürde im Bundestag genommen. Mit dem Gesetz soll die Macht kleiner Spartengewerkschaften eingedämmt werden. Wenn zwei Gewerkschaften in einem Betrieb dieselben Arbeitnehmergruppen vertreten, gilt künftig nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in dem Betrieb.