Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen haben die russische Sängerin Polina Gagarina vor dem Eurovision Song Contest (ESC) nach eigener Aussage unter Druck gesetzt. Sie habe vor ihrem Auftritt beim ESC-Finale in Wien Angst gehabt, weil sie nicht sicher gewesen sei, wie das Publikum auf sie reagieren würde, sagte die 28-Jährige am Sonntag im russischen Fernsehen. «Ich bin so stolz auf mein Land. Sie lieben uns, sie glauben an uns, mit uns ist alles in Ordnung», sagte sie. In der Wiener Stadthalle waren aber immer wieder Buhrufe bei Punkten für Russland zu hören gewesen, berichtet die dpa. Auch die ARD hatte Buhrufe vernommen. In der TV-Übertragung war von solchen Rufen nichts zu hören gewesen.
Deutschland gab Gagarina für ihr Lied «A Million Voices» bei der Abstimmung in der Nacht zum Sonntag die höchste Punktzahl (12 Punkte). Über weite Strecken lieferte sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Måns Zelmerlöw, dem späteren Sieger aus Schweden. Gagarina bedankte sich beim europäischen Publikum für den zweiten Platz: «Vielen Dank an alle! Ich habe eure Energie gespürt.» Auch Österreich reihte die Russen weit vorne und gab Gagarina mit 8 Punkten den dritthöchsten Wert. Bei den Zusehern aus der Schweiz wurden die Russen mit 7 Punkten Vierter. (alle Werte hier)
Måns Zelmerlöw siegte mit dem Lied «Heroes», Italien wurde Dritter.
Der gute Abschneiden Russlands war nicht erwartet worden, weil Beobachter geglaubt hatten, dass die politischen Spannungen auch ihren Niederschlag in der Unterhaltungsbranche hätten finden können. Doch die Zuseher aus vielen Staaten waren vom Lied von Polina Gagarina überzeugt, die sogar lange in Führung gelegen war, ehe die Schweden am Ende an Russland doch noch vorbeiziehen konnten. Interessant: Die Russen bekamen sowohl in West-Europa als auch im Baltikum und in Osteuropa gute Werte. Das Ergebnis zeigt, dass in der Welt der Unterhaltung offenbar weniger Verbissenheit herrscht als in der Politik.
Der Sprecher Russlands, der wie alle anderen Sprecher die Ergebnisse aus Russland bekanntgab, beweis mit seinem kurzen Auftritt erfrischende Selbstironie: Als die Verkündigung der 12-Punkte aus Russland anstand, sagte er hintergründig: "And the winner for the Russians is - Russia!", was natürlich nicht geht, weil der eigene Beitrag nicht abgestimmt werden kann. Lachend teilte er dann das russische Maximum den Italienern zu.
In Russland hatten nicht alle den Song Contest so locker genommen. Das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Kirill (68) hatte gesagt, er hoffe, dass Gagarina nicht beim Eurovision Song Contest gewinnen möge. Wenn Gagarina gewänne, käme der ESC 2016 «gemeinsam mit all diesen bärtigen Sängerinnen» nach Russland, sagte Kirill der Agentur Tass zufolge. Damit spielte er auf die österreichische Dragqueen Conchita Wurst an, die im Vorjahr für Österreich gewonnen hatte. Der Patriarch warb dafür, «Wiegenlieder sowie patriotischen und geistlichen» Gesang zu unterstützen.
In der Musikgeschichte haben Rollentausch und die Austauschbarkeit der Geschlechter eine lange Tradition: In der Oper des Barock gab es vielfältige Werke, in denen Männer als Frauen auftreten und umgekehrt. Die sogenannten Hosen-Rollen finden sich auch bei Mozart und Richard Strauss. Die Opern stehen selbstverständlich auch in Russland auf dem Spielplan, bisher hat noch keine Kirche dagegen protestiert.
Deutschland landete mit der Sängerin Ann Sophie («Black Smoke») und null Punkten ganz hinten, ebenso wie Österreich. Nach Ansicht des ESC-Experten Irving Wolther, die die Ergebnisse des Jury- und Tele-Votings analysiert hat, hätte das klassische Lied der Italiener beim Publikum gewonnen. Interessant: Russland kam auch beim reinen Publikums-Voting auf den zweiten Platz. Wolther sagte der dpa über das Verhalten der Zuschauer: «Italien hätte bei ihnen haushoch gewonnen, vor Russland und Schweden.»
Eine ausgesprochen schwache Leistung lieferte der Kommentator der ARD ab: Im behagte die Lockerheit der Zuseher sichtlich nicht, als Russland lange in Führung lag. Als eine der Moderatorinnen sagte, dass es nicht um Politik, sondern um Musik gehe, wollte der ARD-Mann sogar Buhrufe aus dem Publikum gehört haben - die man zumindest im TV an keiner Stelle zu vernehmen waren - das Publikum verhielt sich während der ganzen Veranstaltung ausgesprochen fair und locker und jubelte für die Russen genauso wie für alle anderen, erfolgreichen Nationen. Beim Scherz des Russen reagierte der ARD-Mann sauertöpfisch und brummte: "Sehr witzig!". Zum Schluss ließ sich der ARD-Experte, dessen Sender den Wettbewerb mitfinanziert, sogar zu einer Unsportlichkeit hinreißen, die sich jedoch nicht gegen Russland, sondern gegen das Publikum richtete: Er könne nicht verstehen, warum die deutsche Vertreterin trotz ihrer großartigen Leistung nur null Punkte erhalten hatte. Er sagte, er hoffe, dass die Presse nun hoffentlich nicht schlecht über die deutsche Kandidatin schreiben werde.
Gemach!, möchte man ihm zurufen, es ging ja nur um Musik und nicht um eine Abstimmung über die Rundfunkgebühr.