Der Troika-Politik liegt ein monumentaler Statistik-Fehler zu Grunde. Griechenland wird als exportschwach und strukturell nicht wettbewerbsfähig wahrgenommen. Dieses Bild vermittelt auch die offiziell ausgewiesene Leistungsbilanz Griechenlands. Deshalb die Politik der internen Abwertung, der Lohnsenkungen, Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. Die Troika stellt die griechische Regierung für den Montag vor die Alternative Fortsetzung dieser Politik – oder den Grexit.
Damit wird nur eine verhängnisvolle Dynamik fortgesetzt, die schon am Anfang der Krisenpolitik stand. Die völlig falsche Wahrnehmung der Exportkraft Griechenlands. In jeder deutschen Talkshow am Fernsehen gehört es zum Allgemeinwissen, dass Griechenland außer Oliven und etwas Sommerferien nichts zu bieten hat. Dabei ist Griechenland in Wahrheit eine Großmacht im Export, aber mit ganz spezifischen Eigenheiten. Sie ist nämlich konzentriert auf die Handelsschifffahrt. Die Statistik widerspiegelt diese Stärke wegen der Schwäche und Inkompetenz der griechischen Zentralbank in keiner Weise. Und die EZB und vor allem der IWF haben diesen unglaublichen Statistikfehler nicht entdeckt – obschon der IWF schon seit 30 Jahren davon weiß. Die Euroretter haben 240 Milliarden Euro Steuergelder und über 100 Milliarden Euro EZB-Gelder investiert. Niemand hat überprüft, ob die der Politik zugrunde liegenden Zahlen überhaupt stimmen oder stimmen können.
Beide Optionen, welche die Troika am Montag offeriert, repräsentieren eine Politik der Zerstörung, der Grexit sogar der maximalen Wertevernichtung. Nicht nur für Griechenland, sondern für alle Euroländer und für die Europäische Union als Ganzes. Der Grexit würde, anders als Hans-Werner Sinn und andere Ökonomen es behaupten, nicht die Rettung für Griechenland bedeuten, sondern die finale Zerstörung seiner Exportindustrie riskieren. Sie ist kapitalintensiv und braucht tiefe und stabile Zinsen, ein leistungsfähiges Bankensystem mit einem effizienten Kreditangebot. Und keine Kapitalkontrollen, hohe und volatile Zinsen wie bei der Einführung einer Neuen Drachme. Diese Branche würde mehrheitlich auswandern und Griechenland den Rücken kehren. Die operativen Vorbereitungen der Reeder dafür sind längst getroffen.
Die Länder der Eurozone würden durch den Bankrott Griechenlands auf einen Schlag mehrere hundert Milliarden verlieren. Aber der Verlust ginge viel weiter. Weil Griechenland die größte Rettungsaktion in der Geschichte Europas und der Eurozone darstellt, hätte der Totalverlust schwere Folgen. Jede Form von zukünftigem Ausgleichsmechanismus, von Unterstützung in Notsituationen würde es sehr schwer haben. In Parlamenten wäre kaum Unterstützung zu finden. Sie würde die zentrifugalen Kräfte in der Eurozone und in Europa radikal beschleunigen.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem mit Abstand wichtigsten Wirtschaftszweig Griechenlands, der Handelsschifffahrt. Diese zeichnet sich durch drei Dinge aus: Griechenland ist Standort der größten und leistungsfähigsten Handelsflotte der Welt. Keine andere Flotte der Welt ist auch nur vergleichbar gut positioniert für die nächsten 10 bis 15 Jahre. Obwohl die Handelsschifffahrt global eine riesige Wachstumsbranche ist, und Griechenland darin der Weltmarktführer, kam sie in der griechischen Leistungsbilanz und Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von den 1960er Jahren bis 1998 praktisch nicht vor. Seither fristet sie ein Schattendasein in der Statistik, obschon sie bis 2008 den größten Boom seit dem Ersten Weltkrieg hatte. Dieser Artikel erklärt diese Anomalien. Ferner erklärt er, was die Konsequenz des Grexit für diesen mit Abstand wichtigsten Exportzweig Griechenlands darstellen würde.
Viele oberflächliche Beobachter sehen fälschlicherweise die Güterexporte als Qualitätsmerkmal im Außenhandel an. Deutschland wird dann automatisch Exportweltmeister. Weil Griechenland dort schwach vertreten ist, ergab dies das Bild einer rückständigen, ineffizienten Wirtschaft, das bis heute dominiert. In unzähligen Berichten auch internationaler Organisationen wird Griechenland so beschrieben und latent abqualifiziert. In deutschen Talkshows wird Griechenland beiläufig oder sarkastisch als Schrott bezeichnet. Dabei hatte und hat Griechenland einen höchst modernen exportorientierten Dienstleistungssektor. Die Handelsschifffahrt ist eine zentrale Support-Industrie für die weltweite Güterproduktion und den internationalen Güteraustausch. 80-85 % des Welthandels wird physisch über den Seetransport abgewickelt.
Ohne diese Industrie gäbe es keine Spezialisierung, keine komparativen Vorteile, keine Effizienzgewinne und keine Skalenerträge in der weltweiten Güterproduktion. Ohne sie gäbe es keine moderne Energie- und Nahrungsmittelversorgung, keine Stahlproduktion, Bautätigkeit, Chemie usw. Der Seetransport ist ein integraler Bestandteil einer arbeitsteiligen und hoch effizienten globalen Güterproduktion. Durch den Hochsee-Schiffstransport partizipiert Griechenland direkt an dieser globalen Güterproduktion, ohne im nationalen Rahmen eine konzentrierte und spezialisierte verarbeitende Industrie zu haben. Das Land kann sich dadurch auch effizient auf jene Wachstumsmärkte und -sektoren ausrichten, welche die höchsten Zuwachsraten haben.
Die Seefracht ist eine Wachstumsbranche mit durchschnittlichen Wachstumsraten weit über demjenigen des globalen Bruttoinlandprodukts und erst recht über der Güter- oder Industrieproduktion. Es ist eine Branche mit extrem hoher Wertschöpfung und Produktivität, die nahe an die Finanzbranche kommt. Mit dieser teilt sie allerdings die Eigenschaft, dass sie äußerst zyklisch im Charakter ist – und dass die Zyklen brutal, fast gewalttätig sind.
Griechenlands Flotte ist dabei traditionell konzentriert auf die größten beiden Segmente, Tanker für den Transport von Erdöl, Erdölprodukten und Gas. Sowie Transportschiffe für die fünf wichtigsten Massenfracht-Güter: Eisenerz, Kohle, Getreide, Bauxit, Phosphat. Diese beiden Segmente dominieren seit den 1980er Jahren die globale Seefracht bei weitem. Untervertreten ist die griechische Flotte im wachstumsschwachen allgemeinen Cargo, aber auch beim wachstumsstarken Container-Transport. Dieser hat erst in den letzten 15 Jahren stark an Bedeutung gewonnen.
Um sich ein Bild der Größenordnung zu machen, ist die Ladekapazität der weltweit größten Flotten aufgezeichnet. Dabei wird nicht nach der Flagge der Schiffe unterschieden. Kriterium ist ausschließlich das operative Zentrum, welches diese Aktivität lenkt. Griechenland und Japan sind diesbezüglich seit Jahrzehnten die größten Länder mit Handelsflotten. Es gibt darüber hinaus griechische Reeder, die unter anderer Flagge und mit operativem Zentrum in London, New York oder anderen Ländern tätig sind. Diese sind in dieser Statistik nicht Griechenland zugerechnet, sonst wäre der Anteil noch deutlich höher. In den 2000er Jahren haben auch die Flotten Chinas und Deutschlands stark zugelegt. Die Flotten anderer Länder sind vergleichsweise klein und zudem teilweise in den 2000er Jahren wenig gewachsen, so etwa diejenige der USA, Norwegens, des UK oder Taiwans.
Die griechische Flotte ist nicht nur die größte, sondern auch die effizienteste und produktivste der Welt. Die durchschnittliche Größe ihrer Schiffe ist in den 2000er Jahren enorm angewachsen. Sie hat die weitem größten Schiffe der Welt, wenn man die durchschnittlichen Schiffsgrößen jeder Flotte zugrunde legt. Bei Tankern und Transportschiffen für Massenfracht ist die Produktivität maßgeblich durch die Größe der Schiffe bedingt. Wenn sich die durchschnittliche Schiffsgröße verdoppelt wie im Fall der griechischen Flotte seit 2000, so kann sie praktisch doppelt so Fracht laden.
Die Lade- und Verladezeiten sind angesichts der Fortschritte bei Hafenanlagen ebenfalls verkürzt. Ein anderes Merkmal ist das Durchschnittsalter der Flotte. Lag dieses zu Beginn der 2000er Jahre noch bei 20 Jahren, weit mehr als der Durchschnitt der Welt, so ist es aufgrund einer Flottenerneuerung heute auf die Hälfte gefallen, deutlich weniger als der Durchschnitt der weltweiten Flotte. Das Alter der Schiffe ist maßgeblich für die Produktivität, weil ältere Schiffe hohen Aufwand für Reparatur und Unterhalt erfordern und längere Stillstandszeiten aufweisen. Eine relativ junge Flotte dagegen ist optimal und steht viel weniger in der Werft. In Bezug auf Produktivität und ihre Entwicklung ist natürlich auch die Qualität von Management, Kadern und Personal ausschlaggebend. Traditionell gilt dabei die griechische Flotte als vom Besten in der Welt.
Umso erstaunlicher ist es, dass in der Statistik des IWF die Flotten der großen Länder die Exportwerte für Seefracht (Credits der Leistungsbilanz) Griechenlands massiv übertreffen. Die Flotten von Ländern, welche gerade einen Fünftel der griechischen Größe haben, erreichen die Exportwerte Griechenlands. Die Flotten all dieser Länder sind zudem teilweise gar nicht exportorientiert, sondern versorgen vor allem die Heimmärkte. In der Leistungsbilanz wird dies dann nicht als Export erfasst, sondern als Dienstleistung für den Binnenmarkt angerechnet. Griechenlands Flotte dagegen ist eine Cross-trader Flotte, sie organisiert zu über 95% den Transport zwischen Drittländern. Normal wäre also, dass die Exportwerte Griechenlands wegen der Größe der Flotte und wegen ihrer viel höheren Exportquote in ganz anderen Dimensionen lägen. Eine Flotte, welche direkt mit derjenigen Griechenlands vergleichbar ist, stellt die Flotte Koreas dar. Auch sie hat eine sehr hohe Exportquote, und ist auf Tanker und Massenfracht-Transporter spezialisiert. Obschon sie dreimal kleiner als diejenige Griechenlands ist, weist sie viel höhere Export- und Produktionswerte aus.
Zur Illustration, wie absurd das Zahlenwerk in der griechischen Leistungsbilanz ist, wird die Ladekapazität der großen europäischen Handelsflotten mit den nominellen Produktionswerten der Seeschifffahrt gemäß der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) verglichen. Letztere sind, was Griechenland oder auch Dänemark anbetrifft, bis auf kleine Abweichungen identisch mit den Exportwerten der Leistungsbilanzen. Beide Länder haben eine Cross-trader Flotte. Ihre Transporte wickeln sich primär oder ausschließlich zwischen Drittländern ab. Im Falle Griechenlands werden die Produktionswerte direkt von den Werten der Zahlungsbilanz abgeleitet.
Die Flotten großer Länder wie Deutschland oder dem UK dagegen dienen auch der Versorgung der einheimischen Wirtschaft. Ein Teil der Produktionsleistung wird deshalb als Dienstleistung für die Binnenwirtschaft und nicht als Export verbucht. Deshalb der Vergleich der Ladekapazität mit den Produktions- und nicht mit den Exportwerten. Die Ladekapazität ist der Statistik der Welthandelsorganisation UNCTAD in ihrer jährlich publizierten ‚Review of Maritime Transport’ entnommen. Dies ist die Standard-Publikation zur weltweiten Handelsschifffahrt. Für den Zeitraum der 2000er Jahre waren die Flotten praktisch anhaltend voll ausgelastet, die im Unterschied zu den 1980er und 1990er Jahren. Die Produktionswerte sind nach identischen Kriterien definiert aufgrund des Standards ESA 95 der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Die erste Graphik dokumentiert, dass die vom Standort Griechenland aus beherrschte Flotte eine ganz andere Dimension als alle anderen Flotten aufweist. Nur in den Jahren ab 2008 hat die deutsche Flotte eine Größenordnung, die ungefähr der Hälfte der griechischen entspricht. Deutschland hatte in den späten 2000er Jahren enorme Kapazitätszuwächse im Containergeschäft. Die Flotte aller anderen Länder war zu jedem Zeitpunkt um Dimensionen kleiner als die von Griechenland aus beherrschte. Anders sieht das Bild aus, wenn die Produktionswerte gemäß VGR herangezogen werden.
Gemäß der zweiten Graphik soll Griechenland in den 2000er Jahren nicht nur viel weniger Produktionsleistung als Deutschland und als Dänemark erbracht haben. Es war auch Mittelmass gegenüber Ländern mit viel kleineren Flotten wie das UK oder Norwegen. Die Ladekapazität der Flotte des Vereinigten Königreichs betrug nie mehr als 10% derjenigen Griechenlands. Selbst Länder mit einer fast zwergenhaften Flotte wie Frankreich oder Italien haben fast dieselbe Größenordnung in Bezug auf die Bruttoproduktionswerte wie die mit Abstand größte Flotte der Welt. Was ist da los? Wie kann das sein? Die Antworten auf diese Fragen sind ernüchternd und erhellen die Frage, warum Griechenland in eine so katastrophale Situation hineingeraten konnte.
Die Zahlungsbilanz wird in Griechenland wie in allen Ländern von der Zentralbank erstellt, der Bank of Greece. Dabei kamen zwei völlig verschiedene Ansätze zur Anwendung. Der erste Ansatz, der von den 1950er Jahren bis und mit Ende 1998 Gültigkeit hatte, kann als Zahlungsverkehrs-Ansatz der Zahlungsbilanz charakterisiert werden. Er war von der Idee her auf die Zahlungsflüsse für die Bestimmung des Wechselkurses ausgerichtet. Im Unterschied zu anderen Ländern maß die Bank of Greece die Einnahmen aus der Seefracht nie an den Exportumsätzen der Reeder. Die Seefracht ist ein dollarbasiertes Geschäft, dies einnahmenseitig wie ausgabenseitig.
Griechische Reeder halten deshalb traditionell Konten bei den Banken in New York, London und in Genf, und haben historisch bis zur Einführung des Euro den Zahlungsverkehr praktisch nie über griechische resp. in Griechenland domizilierte Banken abgewickelt. Dabei spielte auch eine große Rolle, dass Griechenland kurz nach der Gründung der griechischen Zentralbank (1929) im Jahr 1932 zu einem Régime mit rigiden Kapitalverkehrskontrollen überging und dieses mehr oder weniger unverändert bis 1994 beibehielt. Es gab praktisch keine Möglichkeit, internationale Kapitalverkehrs-Transaktionen bei griechischen Banken durchzuführen. Angesichts dieses geldpolitischen Régimes verzichtete die Zentralbank darauf, die Frachteinnahmen der in Griechenland tätigen Reeder zu erfassen und sie als Exporte auszuweisen. Dies im Unterschied zur Praxis von praktisch allen anderen Ländern mit einer gewichtigen Handelsflotte.
Was bis und mit 1998 auf der Einnahmenseite der Schifffahrts-Bilanz erfasst wurde, waren Teile der inländischen Faktorkosten der Reederei – Löhne und Sozialleistungen, speziell die Einzahlungen in den Pensionsfonds der Seefahrer NAT, inländische Vorleistungen, in Griechenland ausbezahlte Dividenden und Unternehmereinkommen. Sie wurden durch Überweisungen (Rimessen) der Reeder von ihren im Ausland gehaltenen Dollarkonten gespeist. Die Frachteinnahmen der griechischen Reederei wurden bis 1998 konzeptionell nie und nirgends erfasst, weder in der Zahlungsbilanz Griechenlands noch im Ausland. Das ist das Problem der ‚Fehlenden Flotte’, das die internationale Zahlungsbilanzstatistik seit den frühen 1980er Jahren beschäftigt. Der große Teil der Frachteinnahmen und Liquidität blieb auf Dollarkonten im Ausland liegen und kam nicht resp. auf anderem Weg in den inländischen Kreislauf in Griechenland.
Mit dem Übergang zum Euro musste die Bank of Greece ihr Konzept ändern. Sie musste den Standard des IWF zur Zahlungsbilanz, dem sogenannten BPM5 von 1993 gerecht werden. Dieser schreibt zwingend vor, dass die von Ausländern bezahlten Frachteinnahmen der Reeder für die Schiffe unter nationaler wie unter fremder Flagge als Exporte verbucht werden müssen. Doch die Zentralbank hatte diese Daten gar nicht. Die griechischen Reeder sind bis heute nicht auskunftspflichtig. Sie zahlen eine sogenannte Tonnagesteuer und sind im Übrigen von der Steuerpflicht wie von der Pflicht zum Ausfüllen einer Steuererklärung befreit. Die griechische Zentralbank entschied sich, von 1999 an die über griechische oder in Griechenland domizilierte Banken bezahlten Überweisungen an die Reeder als Exporte der Reederei zu deklarieren.
Dies ist ein kleiner Teil, er deckt vor allem diejenigen Schiffe ab, welche in den 2000er Jahre neu gekauft und von in Griechenland domizilierten Banken finanziert worden sind. Die Banken verlangen üblicherweise zur Sicherstellung des Kredits die Abwicklung des Zahlungsverkehrs für ein fremdfinanziertes Schiff über Konten direkt bei ihnen. Die bei weitem dominierenden, im Ausland gehaltenen Dollarkonten der Reeder aber blieben außen vor. Zwar verschickt die Bank of Greece noch alljährlich einen Fragebogen an alle Unternehmen mit vermuteten Auslandguthaben. Dabei gilt jedoch das Prinzip der Selbstdeklaration. Es wird eingefüllt, was zweckdienlich ist.
Der Fehler in Griechenland geschah also ganz am Anfang beim Übergang zum Euro. Statt eine Vollerhebung der Umsätze durchzuführen und durchzusetzen, mit Einsicht in die Geschäftsbücher aller Reeder, entschied sich die Bank of Greece, lediglich oder hauptsächlich die ihr über das griechische Bankensystem zur Verfügung stehenden Daten zu erfassen. Das neue System zur Erfassung, das sogenannte ITRS, konnte mindestens einen Teil der Zahlungsflüsse aus dem Ausland besser als das vorherige Reporting-System abbilden.
Im Effekt aber war es eine Groteske, was an Zahlen zustande kam. Die folgenden Graphiken zeigen die Flottengrößen und Frachteinnahmen/Produktionswerte der wichtigsten europäischen Flotten beim Übergang zum Euro zwischen 1995 und 2002. Auffällig ist, dass in Griechenland die Produktionswerte vor Einführung des ITRS im Jahr 1999 winzig waren. Im ersten Jahr des ITRS 1999 verdoppelte sich das Ergebnis. Aber insgesamt blieb die Größenordnung völlig disproportional. Länder mit 10 Mal kleineren Flotten erzielten dieselben Produktionswerte wie die griechische Flotte, die größte Flotte der Welt.
Von der institutionellen Aufgabenstellung waren zwei Institutionen verpflichtet, diese Daten zu übernehmen oder zu überprüfen – die EZB und der IWF. Die neu gegründete EZB dokumentierte zwar genau, was die Länderzentralbanken machten, überprüften diese Praxis aber offenbar nicht oder vermochten dies nicht zu tun. Gravierender ist der Fall des IWF. Seit den 1980er Jahren weiß der IWF, dass die Frachteinnahmen der griechischen Reeder nicht in der Leistungsbilanz Griechenlands ausgewiesen sind. Es gab Untersuchungskommissionen und Arbeitsgruppen, die sich mit dem Phänomen der ‚missing fleet’ auseinandersetzten und zu eindeutigen Schlussfolgerungen gelangten. Die nicht rapportierten Einnahmen Griechenlands aus dem Transport von Seefracht verzerrten die globalen Zahlungsbilanzen, und die Größenordnungen mussten kolossal sein. Trotz klar formulierter Schlussfolgerungen in den Jahren 1987 und 2002 geschah nichts.
Von da an nahm das Unheil seinen Lauf. Die Handelsschifffahrt und insbesondere die von den griechischen Reedern besetzten beiden größten Segmente profitierten in den 2000er Jahren aufgrund des Rohstoffhungers der Schwellenländer von einem Boom ähnlich demjenigen der 1970er Jahre. Die Frachtraten, d.h. die Preise für Transport-Dienstleistungen, gerade in diesen beiden Bereichen – für Tanker und Massengüter-Transportschiffe - stiegen wie die Erdölpreise innert weniger Jahre um ein Mehrfaches an. Die Frachtraten für Massenfrachtgüter, rund die Hälfte der griechischen Reederei, versiebenfachten sich zwischen 1999 und 2007/08 in Dollars. In Euro umgerechnet verfünffachten sie sich. Die Frachtraten für Tanker versechsfachten sich im zwischen 1995 und 2008 in Dollars, in Euro umgerechnet ebenso.
Die ohnehin schon riesigen Exporterlöse der griechischen Reederei, die bedingt durch Kapazitäts- und Produktivitätseffekte in den 2000er Jahren stark zunahmen, explodierten förmlich aufgrund dieser Preiseffekte. Sie stiegen in unglaubliche Dimensionen. Aber in der Leistungsbilanz Griechenlands war nichts davon zu sehen. Die als Exporte deklarierten Einnahmen bei den griechischen Reedern verdoppelten sich gerade einmal zwischen 2000 und 2008. Korrekt verbucht hat Griechenland vor 2008 nie Leistungsbilanzdefizite, sondern rekordhohe Überschüsse gehabt. Und korrekt ist, dass das Land extrem exportstark ist. Aufgrund dieser Exportstärke lag das BIP auch wesentlich höher als ausgewiesen. Die Exportquote betrug nicht 20 Prozent, sondern 50 Prozent und darüber.
Nach einem historisch einzigartigen Boom wendete sich das Blatt abrupt im Jahresverlauf 2008. Die explodierenden Preise hatten einen Investitionsboom herbeigerufen, der weit über die langfristige Nachfrage hinaus schoss. Die Bestellungen der Jahre 2005-08 führten weltweit zu Auslieferungen in den Jahren 2009-12, welche gewaltige Überkapazitäten schufen. Deshalb der Zusammenbruch der Frachtraten vor allem für Massenfracht, aber auch für Container und sekundär für Tanker. Es ist ein Fall sektoraler Schuldendeflation. Hohe Kreditvergabe, zu hohe Investitionen, Überkapazitäten mit gewaltigen Preisfällen, hohe ausstehende Schulden bei Banken bei sich kontrahierende Einnahmen. Schiffseigentümer, die nicht mehr bezahlen können.
Dieser enorme Preisfall hat die produktivste und stärkste Branche der griechischen Wirtschaft unter extremen Druck gesetzt. Insgesamt hat sich die griechische Flotte sehr gut gehalten, besser als jede andere große Flotte. Sie hat lange vor dem Investitionsboom massiv, im Boom unterdurchschnittlich investiert, und kauft seither aggressiv aus Zwangsverkäufen und Konkursen billige, relativ neue Schiffe. Sie investiert in Wachstumsbereiche wie in LNG-Tanker. Keine andere Flotte ist derart gut aufgestellt und investiert so aggressiv wie diejenige Griechenlands.
Die Handelsschifffahrt stellt in Wirklichkeit 50-75% der griechischen Exporte dar. Ihre Exporte dürften 1999 zu 10%, 2008 zu maximal 25% des effektiven Export- oder Produktionswerts ausgewiesen sein. Nur aufgrund dieser konzeptionell falschen Darstellung kamen Ökonomen aller Länder übereinstimmend zum Urteil, dass Griechenland eine ausgeprägte Exportschwäche hat und eine miserable Wirtschaft ist, ein hoffnungsloser Sanierungsfall ohne Aussicht auf Besserung, ein Fass ohne Boden.
Wer ist schuld an den Problemen Griechenlands? Zuerst die Bank of Greece. Sie hat sich als unfähig erwiesen, eine vernünftige Leistungs- und Zahlungsbilanz zu erstellen. Ihre Schwäche hat eine konzeptionelle und vermutlich eine politische Dimension. Die Reeder stellen die Macht im Lande dar. Dann der Internationale Währungsfonds. Er wusste und musste wissen, dass dieses Zahlenwerk restlos unbrauchbar war. Dennoch hat er von 2010 an so agiert, wie wenn diese Zahlen effektiv wären. Er hat zur größten externen Deflation mit Preisfällen um 50-90% eine kolossale interne Abwertung als Reformprogramm konzipiert – die größte Katastrophe der Wirtschaftspolitik seit den 1930er Jahren. Die Europäische Kommission und die EZB haben diese Politik gutgläubig akzeptiert und brav mitgetragen. Im Ergebnis könnte am Montag Griechenland in die größte Depression eines fortgeschrittenen Industrielandes geschickt werden, weil die Institutionen und Spitzenpolitiker der Eurozone zwei Institutionen – der Bank of Greece und dem IWF - vertrauen, welche schmählich in ihrem Kerngebiet – der Statistik und Analyse von Zahlungsbilanzen - versagt haben.
Wie die interne Schulden-Deflation die externe ergänzt, erfahren Sie morgen hier auf den Deutschen Wirtschafts Nachrichten.
Eine Kurzfassung auf englisch ist erschienen auf Social Europe.
Michael Bernegger ist selbständiger Ökonom. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Schweizerischen Nationalbank, als Währungsanalyst in einer Investmentbank und in verschiedenen Führungsfunktionen in der schweizerischen Finanzindustrie. Seine vollständige und äußerst lesenswerte Analyse über die Lage in Griechenland hat er auf Social Europe veröffentlicht.