Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin und CDU-Parteichefin, hat in der Vergangenheit die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU strikt abgelehnt. Unter dem Druck der anhaltenden Flüchtlingsströme aus türkischen Lagern reiste die „mächtigste Frau der Welt“, als Bittstellerin zum türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Sie machte ihm Hoffnungen auf einen zügigen Fortgang der EU-Beitrittsverhandlungen. Dafür solle er die Flüchtlinge in der Türkei zurückbehalten. Um den Türkenherrscher gnädig zu stimmen, stellte Merkel zusätzliche Vergünstigungen in Aussicht: Milliardenzahlungen und Visumfreiheit für türkischer Staatsbürger. Durch ihren Besuch leistete Merkel außerdem willkommene Wahlhilfe für Erdogan.
In ihrer Not deutete die Kanzlerin sogar an, sie unterstütze die Anerkennung der Türkei als „sicheres Herkunftsland“ im Sinne des Asylrechts. Das ist grotesk. Die Türkei ist heute vom internationalen Recht und von den „europäischen Werten“ weiter entfernt als je zuvor. Tatsache ist, dass 2015 in der Türkei Kurden ungestraft ermordet, regierungskritische Demonstranten niedergeknüppelt, Journalisten verhaftet und Staatsanwälte zwangsversetzt wurden. Wer die rechtsstaatliche Latte so niedrig hängt wie unsere Kanzlerin, wird Mühe haben, überhaupt noch ein Land zu finden, das nicht als sicheres Herkunftsland eingestuft werden kann. Blogs bewerteten Merkels Zugeständnisse als Schleimspur nach Ankara. Auch wenn die Form dieser Kritik respektlos ist, inhaltlich ist sie nicht falsch. Die aus Not geborene Nonchalance im Umgang mit unseren Grundwerten offenbart sich auch, wenn Innenminister Thomas de Maizière sagt: „Wir können nicht immer nur auf dem moralischen Sockel sitzen.“ In Klarschrift heißt das: Wenn die Flüchtlingszahl groß genug ist, dürfen wir mit dem Asylgrundrecht nicht so zimperlich sein. So etwas sagt der Verfassungsminister!
Deutschland tut auch gut daran, in der Flüchtlingsfrage nicht den Anschein der Erpressbarkeit zu erwecken. Das ist aber der Fall, wenn die Regierung den Rechtsverächter Erdogan als letztes Bollwerk gegen Flüchtlinge benutzt. Im Übrigen ist auch fraglich, ob es Erdogan überhaupt gelänge, verzweifelte Menschen zurückzuhalten, wenn sie zur Weiterwanderung nach Europa entschlossen sind. Vor diesem Hintergrund war Merkels Canossagang zu Erdogan nicht hilfreich.
Die Ratlosigkeit der deutschen Politik zeigt sich auch darin, dass der unappetitliche Deal mit der Türkei als „Fluchtursachenbekämpfung“ beweihräuchert wurde. Das ist ein sprachlicher Rosstäuschertrick und lenkt von den eigentlichen Fluchtursachen ab. Jedes Gespräch mit Flüchtlingen macht deutlich, was für deren Flucht wirklich ursächlich war. Es sind die in ihren Heimatländern tobenden Kriege mit Tod, Häuserzerstörung, Vertreibung, Existenzverlust, religiöser Verfolgung sowie bittere Armut. Wenn sich diese Menschen nach einem Zwischenaufenthalt in türkischen, libanesischen oder jordanischen Elendslagern angesichts der dort herrschenden Perspektivlosigkeit Monate oder Jahre später zur Fortsetzung ihrer Flucht entschließen, dann ist dieser Aufbruch keine Flucht-Ursache, sondern die letzte Etappe einer längst begonnenen Flucht. Warum tut sich unsere Politik so schwer mit einer redlichen Diskussion über die Fluchtursachen?
Die Antwort ist einfach. Es ist politisch bequemer, Flüchtlinge mittels Geldtransfers vom Weiterzug nach Europa abzuhalten, als die wirklichen Fluchtursachen wie Krieg und Ausbeutung zu benennen. Letzteres wäre nämlich gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, für die Interventionskriege der letzten Jahre und damit für die Massenflucht mitverantwortlich zu sein. Konsequenterweise müsste man dann auch den westlichen Militärallianzen die Gefolgschaft bei sinnentleerten Kriegsabenteuern aufkündigen.
Es ist höchste Zeit, diesen Mut aufzubringen. Denn inzwischen dämmert sogar den Hardlinern im Nato-Hauptquartier, dass die Kriege von Afghanistan bis Syrien nichts bewirkt haben außer einer Million Toter und einem nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom. Wir sollten uns auch nichts vormachen: Die Millionen, die derzeit in den Auffanglagern des Nahen Ostens vor sich hindarben, werden dort nur zwischengelagert. Irgendwann werden sie nach Europa entsorgt.
Unsere einzige Chance besteht darin, die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Markenkern der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik ist jedoch das unkoordinierte Herumpfuschen an den Symptomen. Man organisiert – mehr oder weniger geschickt – die Erfassung, Verteilung, Unterbringung und verwaltungstechnische Bearbeitung der Flüchtlingsströme. Zu mehr reicht die Tatkraft nicht. Als die Flüchtlingszahlen im Sommer durch das gutgemeinte, aber missverständliche Kanzlerinwort, das deutsche Asylrecht kenne keine Obergrenze, stark anschwollen, zeigte sich bereits im Herbst, dass die gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft Grenzen hat. Damit begann die Zeit der widersprüchlichsten Vorschläge zur Flüchtlingsabwehr: Grenzsicherungsanlagen in Nordafrika, in der Türkei und auf dem Westbalkan, Auffanglager an den EU-Außengrenzen, Versuch des Neuaufbaus von staatlichen Strukturen in Libyen, Jagd auf „Schlepper“, Verstärkung der Grenzschutzagentur Frontex, Einrichtung von Hotspots, Transitzonen, Einschränkung des Asylrechts für Bürgerkriegsflüchtlinge, Nachzugsverbote für Familienangehörige. Besonders bemerkenswert ist der Vorschlag, der steigenden Zahl afghanischer Asylbewerber dadurch Herr zu werden, dass diese vermehrt in ihr Heimatland zurückgeschickt werden (Modell „innerstaatliche Fluchtalternativen“). Wie abwegig diese Überlegung ist, zeigt sich schon daran, dass nach einem Bericht der deutschen Botschaft in Kabul das von den Taliban beherrschte Gebiet heute größer ist als zu Beginn des militärischen Eingreifens der Nato im Jahr 2001.
Wo politische Führung vonnöten wäre, herrscht Führungsschwäche und großes Tohuwabohu: de Maizière gegen Merkel, Stirnrunzeln im Kanzleramt, Flankenschutz für de Maizière durch Schäuble, betretenes Schweigen der Allzweckwaffe Altmeier, dazwischen ein Vizekanzler, hin- und hergerissen zwischen Parteiraison und Koalitionstreue. Über allem schwebt ein irrlichternder Seehofer. Einigkeit besteht nur darin, die Symptome der Flucht, aber keinesfalls deren Ursachen zu bekämpfen. Die gesetzgeberische Hektik der letzten Wochen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Asylpolitik im Spätherbst 2015 ganz und gar orientierungslos ist.
Im Gegensatz dazu redeten einige EU-Mitgliedsstaaten nicht lange, sondern schritten zur Tat, indem sie Mauern bauten (Ungarn, Slowenien). Andere beabsichtigen, nachzuziehen (Österreich, Kroatien). Wieder andere wollen Einreisebegrenzungen vornehmen (Schweden, Bayern). Durch diese unabgestimmten Husarenritte ist das europäische Asylrechtssystem (Schengen, Dublin II) zum Scherbenhaufen geworden. Der Verlust des Dublin-Systems ist allerdings verschmerzbar, weil es zu keiner Zeit sachgerecht war. Es hat nämlich EU-Grenzstaaten einen Großteil der Flüchtlingslasten aufgebürdet und die europäischen Binnenstaaten entsprechend begünstigt.
Besorgniserregend ist, dass immer mehr Staaten ihr Heil in Stacheldrahtzäunen suchen und zu einer streng nationalen Politik zurückkehren. Die europäische Union ist zur Einbahnstraße verkommen: Geld ja, Solidarität nein. Der schamlose Egoismus einiger Staaten (Flüchtlingsaufnahme, wenn überhaupt, dann nur in Mini-Portiönchen – und die auch nur in Form von frommen Christenmenschen) entzweit Europa zusehends. „Die Europäische Union kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität die Regel wird“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Auch die deutsche Kanzlerin warnte kürzlich vor dem „Ende Europas“.
Entscheidend ist: Nicht Überfremdung oder Islamisierung durch Zuwanderung bringen Europa in Gefahr, sondern der Verlust der europäischen Solidarität.
Da die meisten Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien kommen, ist es naheliegend, hier gedanklich anzusetzen. Es war und ist verfehlt, die Entmachtung des syrischen Präsidenten zur Vorbedingung für weitere Gespräche zu machen. Auch wenn Baschar al-Assad ein Despot ist und ein freundschaftliches Verhältnis zum Iran und zu Russland unterhält (was aus westlicher Sicht noch schlimmer ist), darf sein politisches Überleben nicht die entscheidende Frage sein.
Schäuble hat uns kürzlich belehrt, dass Politik ein Rendezvous mit der Realität ist. Tatsache ist, dass Baschar al-Assad 2000 in einem Referendum mit 97 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Syriens gewählt und 2014 mit 89 der Stimmen bestätigt worden ist. Unübersehbar ist, dass er kein Staatsführer nach unseren Vorstellungen ist. Sein Regime ist autoritär und inhuman. Tatsache ist weiter, dass alle Religionsgemeinschaften unter Assad ungestört wirken können.
Tatsache ist schließlich auch, dass die großen syrischen Flüchtlingsströme eine mittelbare Folge des „arabischen Frühlings“ sind. Als sich 2011 im hereinbrechenden Demokratie-Rausch Aufständische gegen das syrische Regime erhoben, wurden sie vom demokratischen Westen unterstützt. In der Folge entbrannte ein verheerender Bürgerkrieg mit bislang ca. 250.000 Toten und mehr als zehn Millionen Flüchtlingen. Parallel dazu breiteten sich in den letzten vier Jahren Oppositions- und Terrorgruppen über weite Landesteile aus (u.a. „Freie Syrische Armee“, „Islamischer Staat“, al-Nusra-Front). Spätestens seit dem Eingreifen Russlands auf Seiten des Präsidenten zeichnet sich ab, dass eine militärische Lösung gegen ihn und seine Armee wenig wahrscheinlich ist.
Wer Bürgerkrieg und Flüchtlingselend eindämmen will, muss also an einer politischen Lösung arbeiten. Seit kurzem gibt es im Rahmen der Syrien-Kontaktgruppe Gespräche zwischen den UN-Veto-Mächten und den wichtigsten Regional-Mächten (u.a. Iran, Saudi-Arabien, Türkei); auch Deutschland sitzt am Tisch. Bis zum Jahresende soll ein Fahrplan entstehen. Die Feststellung des US-Außenministers Kerry „Wir sind nach wie vor unterschiedlicher Meinung, was mit dem syrischen Diktator Assad geschehen soll“ zeigt, dass er noch nicht in der Realität angekommen ist. Denn Assads Zukunft liegt nicht in den Händen der USA und auch nicht Russlands, sondern des syrischen Volkes. Assad soll bereits vorzeitigen Wahlen zugestimmt haben. Tragisch ist, dass dieses Zwischenergebnis unschwer auch eine Viertelmillion Toter und Abermillionen Flüchtlinge früher hätte erreicht werden können.
Da die Auswirkungen einer verfehlten Syrien-Politik wegen des Flüchtlingszustroms vor allem Deutschland treffen, muss es deutsches Interesse sein, zu einem schnellstmöglichen Verhandlungserfolg beizutragen. Die deutsche Rolle kann nur die eines ehrlichen Maklers sein. Damit verträgt sich nicht, einseitig das militärische Eingreifen Russlands im Syrien-Konflikt zu kritisieren, wenn man zuvor bei anderen Interventionen jahrelang geschwiegen hat. Hilfreich wäre es gewesen, schon vor Jahren die Brandstifter des heutigen Bürgerkriegs (Frankreich, Großbritannien, USA) zu ermahnen, völkerrechtswidrige Alleingänge zu unterlassen.
Der kleinere Teil der deutschen politischen Klasse beginnt zu verstehen, dass es mit der Bekämpfung der Flucht-Symptome nicht getan ist. Damit kommt man allenfalls halbwegs unbeschadet durch den Winter. Wenn alles gut geht, werden keine Flüchtlinge erfrieren. Doch dann kommt der nächste Frühling – mit ihm kommen die Flüchtlinge. Unser vorrangiges Interesse muss es also sein, die Ursachen der Flüchtlingsströme vor Ort zu beseitigen und zwar nicht nur in Syrien, sondern in allen Herkunftsländern.
Es besteht die große Gefahr, dass zu den Fluchtwellen aus Syrien, Afghanistan und Irak noch weitere Länder hinzukommen (z. B. Ukraine) oder Mali und Nigeria; zwischen den letztgenannten Ländern und dem Mittelmeer liegen nur Algerien bzw. Libyen. Das Flüchtlingspotenzial dieser Länder liegt deutlich jenseits von 200 Millionen Menschen. Neue Dimensionen tun sich auf. Ein Verteidigungsminister schwadronierte einmal, wir müssten unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen. Wahrscheinlicher ist, dass wir unseren Lebensstil in den genannten Ländern verteidigen müssen. Wir sind erst am Anfang der Probleme.
Der notwendige Politikwandel wird nicht einfach zu erreichen sein und vor allem nicht von heute auf morgen. Überdies ist zu befürchten, dass sich die Staaten, die von den Flüchtlingsströmen nicht unmittelbar und nachhaltig betroffen werden, entspannt zurücklehnen. Es war bereits zu vernehmen, dass die Flüchtlingskrise ein „deutsches Problem“ sei.
Um Gehör zu finden, müssen wahrscheinlich verstörende Fragen gestellt werden
- Wie lange ist es noch hinnehmbar, dass einige europäische Staaten die ganze Last des Flüchtlingsdramas tragen müssen, während sich dessen Verursacher einen schlanken Fuß machen?
- Was spricht dagegen, angemessene Flüchtlingskontigente auf seetüchtigen Schiffen in das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ oder seiner nimmermüden Kriegsunterstützer zu bringen?
- Ist es sachgemäß, einen wichtigen Global Player wegen eines vermeintlichen Völkerrechtsverstoßes von internationalen Verhandlungstischen zu verbannen, während notorische Völkerrechtsverächter dort das große Wort führen?
- Ist es nicht allmählich Zeit, sich von lähmenden Klischees („Wir sind die Guten, sie die Bösen“) zu trennen?
- Warum legen wir nicht die gleiche Elle an? Beispiel: Wenn Assads Fassbomben Flucht-Ursachen sind, dann sind es Obamas völkerrechtswidrige Drohnen und Kampfjets nicht weniger.
- Muss gegebenfalls mit der schärfsten Waffe, dem Austritt aus einem degenerierten „Verteidigungs“-Bündnis, gedroht werden?
- Sollte man stattdessen dem Regelwerk der Vereinten Nationen wieder mehr Bedeutung beimessen?
- Ist es legitim, EU-Mitgliedsstaaten, die sich humanistischer Solidarität entziehen, Transferzahlungen zu versagen?
Ich kann mir vorstellen, dass einige Leute allein schon beim Lesen solcher Fragen feuchte Hände bekommen. Aber die Gedanken sind frei. Allerdings gehört Mut dazu, Ungehörtes und Unerhörtes zu sagen. Mittelfristig werden sich solche Gedanken als alternativlos erweisen.
Angela Merkel hat in den letzten Monaten Mut bewiesen. Es mag sein, dass sie die Sogwirkung ihrer Bekenntnisse zu einer humanen Flüchtlingspolitik unterschätzt hat. Dafür hat sie von den eigenen Parteifreunden Prügel bezogen. Es ehrt sie, dass sie auch im größten Proteststurm nicht völlig umgefallen ist. Mit lutherischer Geradlinigkeit hat sie den Krieg gegen das eigene Volk gewagt. Wird sie auch die Courage haben, gegenüber fremden Völkern, die die neuzeitlichen Völkerwanderungen ausgelöst haben, ein klares Wort zu sprechen?
Vermutlich wird sie es nicht tun. Denn die dazu erforderliche innerparteiliche Solidarität hat sie nicht mehr. Ihre Regierung wirkt zerrissen, ziellos und weit davon entfernt, sich auf Grundsatzfragen einzulassen. Es scheint, dass die bisher unangreifbare Kanzlerin nur noch die Wahl hat zwischen Pest und Cholera. Entweder sie behält ihr humanes Credo bei, dann wird sie vermutlich stürzen. Oder sie nimmt radikale Kursänderungen vor, dann ist sie gleichwohl ruiniert. Manchmal mutet es an, als stünde hinter der sichtbaren Konfusion die ausgefeimte Strategie von Leuten, die hinterrücks in die eigene (politische) Tasche wirtschaften? Neben Merkel sitzen in letzter Zeit immer öfters ergraute oder goldblonde Amtsträger, die erkennbar den Eindruck vermitteln, dass sie durch ihre Ministerposten nicht wirklich ausgelastet sind. Einer, der sich stets für die bessere Lösung hielt, steht unübersehbar als Reservekanzler bereit. Bei allen Vorbehalten gegen Merkel muss man sich diese Entwicklung nicht unbedingt wünschen. Eine solide Lösung des Flüchtlingsproblems wäre damit in weite Ferne gerückt. Der Rigorismus der Griechenlandrettung wäre auch hier Leitmotiv. Der große Showdown hat begonnen.
Wir sind Zeugen einer Götterdämmerung.
Peter Vonnahme war Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.