Der jährliche „World Nuclear Industry Status Report“ ist erschienen. Die Folgen der Katastrophe von Fukushima sind noch längst nicht eingedämmt. Noch immer leiden Bewohner und Dekontaminierungsarbeiter unter den Bedingungen vor Ort. Publiziert wurde er von Nuklear-Experte Mycle Schneider. Er ist Energie- und Atomexperte und berät Politiker, Institutionen und Nichtregierungsorganisationen.
Zu Fukushima schreibt der Report:
Diese Einschätzung beinhaltet Analysen der Vor-Ort-Herausforderungen, die bei der Katastrophe vom 11. März 2011 entstanden und noch drei Jahre nach dem Beginn der Katastrophe signifikant sind:
Die Herausforderungen vor Ort: In einer sehr positiven Entwicklung wurden seit November 2013 bis Mitte Juli 2014 mehr als drei Viertel des verbrauchten Brennstoffs aus dem Becken in der schwer beschädigten Anlage 4 in ein gemeinsames Becken gebracht. Bis Ende 2014 soll diese Operation beendet werden. Das radioaktive Material soll durch die Bergung möglichst keiner weiteren Gefährdung ausgesetzt werden, wie etwa Erdbeben oder Gefahren durch Unwetter.
Die wichtigsten Parameter bleiben jedoch weitgehend unverändert wie im Vorjahr. Die Strahlungswerte innerhalb der Reaktorgebäude der Einheiten 1 bis 3 machen weiterhin direktes menschliches Eingreifen fast unmöglich. Große Mengen an Wasser, etwa 360 Tonnen pro Tag, werden noch in die zerstörten Reaktoren gepumpt, um die geschmolzenen Brennstäbe zu kühlen. Dieses Wasser, sowie eine ähnliche hohe Menge an Grundwasser, sickern in die Keller der Reaktorgebäude, ein Teil davon wird zu einem gewissen Grad dekontaminiert und dann erneut in den Kreislauf gebracht. Die Menge des radioaktiven Wassers, welches nicht wiederverwendet werden kann, nimmt stetig zu. Zum Stichtag des 15. Juli 2014 wurden mehr als 500.000 Tonnen in prekären Speicher gelagert, dazu kommen etwa 90.000 Tonnen in den Kellern des Kraftwerks.
Die Kapazität der Tanks wird bis Ende März 2015 auf 800.000 Tonnen erhöht. Über zahlreiche Lecks wurde Bericht erstattet, einschließlich der Entdeckung im August 2013 über ein 300-Tonnen-Leck aus einem Tank mit hochradioaktivem Wasser, dies entspricht Stufe 3 der „International Nuclear Event Scale“ (INES) und ein 100-Tonnen-Leck aus einem anderen Tank mit noch höherer Aktivität. Es stellte sich heraus, dass Hunderte von 1.000-Kubikmeter-Tanks noch nicht einmal mit Messgeräten ausgestattet sind. Mehrere hundert Tanks, die nur zusammengeschraubt wurden, werden nach und nach durch verschweißte ersetzt.
Die hochentwickelten Wasserdekontaminationssysteme kämpfen mit technischen Ausfällen, sollen aber noch für eine längere Zeit in Betrieb bleiben. Eine viel beworbene 500 Millionen US-Dollar teure unterirdische Eis-Wand, die entworfen wurde, um den Wassereinlauf in die Keller zu verhindern und bis März 2015 fertiggestellt sein soll, hat eine ungewisse Zukunft. Bei einem Testversuch konnte der Abschnitt nicht so eingefroren werden, wie es geplant war.
In der Zwischenzeit hat Tepco eine Vereinbarung mit lokalen Fischerverbänden erreicht, so dass „Grundwasser-Bypass“ im April 2014 aktiviert werden konnte, um die Entladung ins Meer zu ermöglichen. Es wird erwartet, dass diese Maßnahme das Eindringen von Wasser in die Keller auf rund ein Viertel beziehungsweise rund 100 Kubikmeter pro Tag reduzieren kann.
Rund 32.000 Arbeiter, 28.000 von ihnen sind Leiharbeiter, arbeiteten seit dem Unfall vom 11. März 2011 an und in Fukushima – dabei sind Feuerwehr, Polizei und Militär nicht mit eingerechnet. Mit Mai 2014 lag der Tagesdurchschnitt der Arbeiter vor Ort bei 4.200 Personen und somit um 40 Prozent höher als im Jahr davor. Die Rekrutierung von neuen Arbeitern wird allerdings immer schwieriger.
Im Dezember 2013 beschloss Tepco die Schließung der Blöcke 5 und 6 von Fukushima Daiichi (I). Die vier Reaktoren in Fukushima Daini (II), 15 Kilometer von Daiichi entfernt und innerhalb der Sperrzone, bleiben offiziell „betriebsfähig“, aber die tatsächliche Inbetriebnahme ist völlig unrealistisch.
Die Herausforderungen außerhalb von Fukushima: Mit Stand März 2014 sind offiziell immer noch mehr als 130.000 Menschen aus der Präfektur Fukushima evakuiert. Rund 100.000 Menschen sind aus gekennzeichneten Evakuierungszonen. Viel mehr Einwohner haben den Bereich freiwillig verlassen. Weitere 137.000 Personen sind noch immer in Notunterkünften, die auf sieben Präfekturen verteilt sind.
Mehr als 1.700 Tote in Verbindung mit der Katastrophe wurden offiziell anerkannt, entweder aufgrund psychischer Ursachen oder mangelnder medizinischer Versorgung während der Evakuierung. Die Selbstmordraten steigen.
Im April 2014 erhielten ein paar Hundert Einwohner zum ersten Mal die Erlaubnis, zu einem zuvor evakuierten Bereich zurückzukehren. Schätzungen zufolge gehen allerdings nur ein Viertel der Anwohner zurück. Die anderen pendeln von den angrenzenden Regionen.
Eine von der japanischen Regierung in Auftrag gegebene Studie zur Atomkatastrophe in Fukushima wurde über sechs Monate geheim gehalten. Die Strahlungs-Einwirkung wird in den gesäuberten Gebieten den Vor-KatastrophenGrenzwert für die normale Bevölkerung überschreiten. Dieser liegt bei einer maximalen Jahresdosis in Höhe von einem Millisievert (mSv).
Insgesamt wurden 101 Gemeinden in acht Präfekturen sind als „geplante Kontaminations-Begutachtunszone“ festgelegt. Dort wird eine jährliche Dosis zwischen 1 mSv und 20 mSv prognostiziert. Lokalen Behörden sind für die Dekontaminierungsarbeiten verantwortlich.
Darüber hinaus ist die Zentralregierung zuständig für die Dekontaminationspläne in elf Gemeinden in der Präfektur Fukushima, einer Fläche von 235 Quadratmetern, wo die jährliche Strahlungsdosis 20 mSv überschreiten. Die Arbeiten sind weit hinter dem Zeitplan, vor allem wegen technischen Schwierigkeiten, Mangel an Abfalllagern und Arbeitskräftemangel.
Streitigkeiten über die Kostendeckung zwischen dem Umweltministerium, das offiziell verantwortlich ist, und Tepco, dem Betreiber von Fukushima, führen zu weiteren Verzögerungen. Das Drei-Jahres-Budget für die Dekontamination im Zeitraum 2011 bis 2013 umfasste 1,3 Billionen Yen (rund 13 Milliarden US-Dollar), aber nur ein Drittel davon wurde ausgegeben und von diesem wiederum erstattet Tepco weniger als 20 Prozent. Eine Mehrheit von Unternehmen und Subunternehmern arbeitet unter obskuren Umständen.
733 Unternehmen und 56 Subunternehmen haben einen Vertrag mit dem Umweltministerium, berichtet Reuters. Einige von ihnen rekrutieren Obdachlose für Arbeiten in den kontaminierten Bereichen. Die Yakuza, die japanische Mafia, ist den Berichten zufolge auch im System involviert.
Bis zum 11. Juli 2014 wurden mehr als 2,2 Millionen Ersatzansprüche von Einzelpersonen, Unternehmen, Gewerkschaften und lokalen Regierungen eingereicht. Tepco hat rund 40 Billionen Yen (rund 40 Milliarden US-Dollar) für rund zwei Millionen der Forderungen gezahlt. Zahlreiche Klagen gegen Tepco sind im Gange, darunter eine von einer Gruppe US-Matrosen, die direkt nach dem 11. März 2011 bei einer US-Marine-Operation der Strahlung ausgesetzt waren.
Im März 2014 haben mehr als 4.000 Bürgerinnen und Bürger aus 39 Ländern eine Sammelklage gegen Atom-Produzenten eingereicht, darunter Hitachi, Toshiba und General Electric, um die Opfer der Atomkatastrophe von Fukushima zu entschädigen.
Mycle Schneider wurde 1959 in Köln geboren. Er ist Energie- und Atomexperte und berät Politiker, Institutionen und Nichtregierungsorganisationen. Von 1998 bis 2003 war er Berater für das französische Umwelt- und das belgische Energieministerium. Nach 2000 arbeitete er zehn Jahre auch für das deutsche Umweltministerium. Schneider gibt jährlich den unabhängigen World Nuclear Industry Status Report heraus. 1997 erhielt er zusammen mit Jinzaburo Takagi den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis).
Mycle Schneider im DWN-Interview über die katastrophalen Zustände in Fukushima.