Finanzen

Neue EU-Regeln: Versicherer können Risiko-Puffer nur schwer berechnen

Lesezeit: 4 min
04.02.2016 00:12
Seit dem 1. Januar ist das neue EU-Regelwerk „Solvency II“ für Versicherungen in Kraft und rückt das „Solvenzkapital“ in den Mittelpunkt. Dies ist ein Kapitalpuffer, der alle Risiken für das bestehende und für das zu erwartende neue Geschäft in den kommenden zwölf Monaten abdecken soll. Niedrigzinsen und die Volatilität an den Aktienmärkten sorgen jedoch dafür, dass sich dessen Berechnungsgrundlagen ständig verändern.

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Die Volatilität der Märkte bestimmt das Solvenzkapital

Den entscheidenden Zugang zur Ermittlung des Solvenzkapitals bildet die Aktivseite: Bestimmend ist der nach Marktpreisen zu berechnende Wert der Vermögen. Der Überhang dieses Wertes über die versicherungstechnischen Rückstellungen ergibt die Eigenmittel. Allerdings ist nicht der gesamte als „Residualgröße“ bezeichnete Überhang anrechenbar.

Bevor auf die entsprechenden Regeln eingegangen wird, sei der Katalog der Probleme auf der Aktivseite erwähnt: Aktienkurse unterliegen einer starken Volatilität. Immobilienpreise neigen in vielen Märkten zu Übertreibungen. Seit längerem bestimmt ein extrem niedriges Zinsniveau den Anleihen- und den Geldmarkt. Dieser Umstand steigert derzeit den Kurswert der älteren, höher verzinsten Papiere, die aktuellen, niedrig verzinsten Papiere werden an Wert verlieren, wenn die Zinsen wieder steigen. Die anderen Vermögenswerte, wie etwa die Derivate, bergen ebenfalls beträchtliche Risiken. Das Vermögen als Bestimmungsgröße für die Berechnung der Eigenmittel sorgt also für Probleme.

Nicht nur die Veränderungen der Aktiva sind entscheidend. Aufgrund der in der Solvenzbilanz vorgeschriebenen „ökonomischen Betrachtung“ verändert sich auch die Passivseite.  Zu berücksichtigen ist der anzusetzende Marktwert der Versicherungsverträge, der aber geschätzt werden muss, weil es keinen Markt für Versicherungsverträge gibt. Die Reserven sollen „im Mittel“ den Anforderungen entsprechen, genügen also nicht in allen Jahren. Zudem ist ein Faktor aus dem Vermögensbereich entscheidend: Sind die Zinsen hoch und werden hohe Zinsen erwartet, dann können die Rückstellungen niedriger sein, weil die Zinserträge als Ergänzung wirken, geht man von niedrigen Zinsen aus, müssen höhere Beträge reserviert werden.  Die Grundregel wird durch den Umstand korrigiert, dass höhere Zinserträge wiederum die Gewinnansprüche der Versicherten und somit die Rückstellungen steigern.

Das Risikokapital zwischen zwei sich verändernden Größen

Zwischen diesen beiden sich verändernden Größen ist das Risikokapital zu bestimmen. Zwei Zugänge sind zu beachten: Welcher Teil der Eigenmittel ist unter welchen Bedingungen als Solvenzkapital anrechenbar. Und: Wie hoch muss das Solvenzkapital sein und wie ist diese Höhe zu ermitteln.

Die anrechenbaren Eigenmittel gliedern sich in drei Ebenen, in drei „Tiers“: Als „Tier 1“ wird das eingezahlte Grundkapital oder die Kapitalrücklage anerkannt. Als Tier 1 können mit Einschränkungen auch Gewinnansprüche der Versicherten, die noch nicht gutgeschrieben wurden, gelten. Nachrangige Verbindlichkeiten, die unbefristet zur Verfügung stehen und erstmals nach fünf Jahren die Möglichkeit einer Tilgung aufweisen, bilden ebenfalls Tier-1-Kapital. Nachrangige Forderungen schwächerer Qualität und ergänzende Eigenmittel fallen in die Kategorien Tier 2 und Tier 3. Zahlreiche Details sind zu beachten, hier sei nur eine Vorschrift erwähnt: 50 Prozent des SCR – solvency capital requirement - und 80 Prozent des MCR – minimum capital requirement – müssen auf Tier 1 entfallen.

Zurück zum Überhang der Vermögenswerte über die Verbindlichkeiten: Bleibt nach Berücksichtigung und Zuweisung der geschilderten Elemente zu den drei Tiers und nach Beachtung noch einer Reihe von anderen Vorschriften ein Restbetrag, so bildet dieser als „reconciliation reserve“ ebenfalls Tier 1-Kapital.

„Alle 200 Jahre“ findet öfter statt als erwartet

- Zu berechnen ist die Höhe des Solvenzkapitals nach der vorgegebenen „Standard-Formel“ der europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA.  Drei Ansätze sind bestimmend

- Die Risiken, die sich aus den Kapital- und Immobilienmärkten ergeben,

- die versicherungstechnischen Risiken, die nicht durch die versicherungstechnischen Rückstellungen gedeckt sind,

- der Umstand, dass in der Standard-Formel einige Risiken nicht berücksichtigt sind, wie die Inflation, das Reputationsrisiko, das Liquiditätsrisiko, die Ansteckungsgefahr, die Veränderung des Rechtsumfelds. Diese Risiken müssen aber durch das Kapital gedeckt sein.

- Das Solvenzkapital hat alle Risiken für das bestehende und für das zu erwartende neue Geschäft in den kommenden zwölf Monaten abzudecken. Als Orientierungsgröße für die Gesamtheit des Unternehmens wie für jeden einzelnen Teilbereich, für jedes Modul  gilt ein Schaden, der zwar nur alle 200 Jahre eintritt, aber zu bewältigen ist.

Die Berechnung erfolgt nach Modulen:

Im Marktbereich sind etwa Module für die Entwicklung der Zinsen, der Aktien, der Immobilien, der Risiko-Aufschläge oder der Wechselkurse definiert. Bei den Zinsen hat allerdings die Niedrigzinsperiode in den vergangenen eineinhalb Jahre die Annahme „maximal ein Mal in 200 Jahren“ bereits mehrmals übertroffen. Aktien sind je nach Risiko-Kategorie mit bis zu 49 Prozent mit Kapital zu unterlegen, worauf europaweit die Versicherungen ihren Aktienbestand deutlich reduziert haben. Immobilien müssen mit 25 Prozent unterlegt werden, sodass nun viele Unternehmen um die Anerkennung „interner Modelle“ in Abweichung vom Standardmodell ansuchen. Staatsanleihen sind hingegen mit 0 Prozent Kapital zu unterlegen.

Im versicherungstechnischen Bereich sind die Risiken Sterblichkeit, Langlebigkeit, Invalidität oder Katastrophen besonders zu beachten. Bei der Berechnung des Solvenzkapitals wirken Korrelationen entlastend: So sind beispielsweise das Sterblichkeits- und das Langlebigkeitsrisiko nicht zu addieren. Solvency II gibt eine Matrix vor, die aussagt, welche Risiken einander ausschließen oder steigern. Betont wird aber, dass diese Abhängigkeitsregeln fehleranfällig sind.

Zu decken sind außerdem sonstige Risiken, wie beispielsweise größere Stornovolumen oder extreme Kostensteigerungen.

Solvency II zwingt zur Vermeidung von Risiken

Die Einhaltung des SCR und des MCR wird von der Finanzmarktaufsicht kontrolliert. Bei Unterschreitungen werden Sanierungsmaßnahmen vorgeschrieben. So dürfen beispielsweise keine Gewinne ausgeschüttet werden, wenn die Einhaltung der Kapitalerfordernisse gefährdet ist. Jedenfalls sind die Unternehmen gezwungen, innerhalb bestimmter Fristen das Kapital auf das erforderliche Maß aufzustocken. Gelingt dies nicht, droht der Entzug der Betriebsgenehmigung.

Unter diesen Umständen hat sich die Geschäftspolitik der Versicherungen bereits deutlich geändert, wobei noch keineswegs alle Korrekturen erkennbar sind: Jedenfalls ist man bei der Veranlagung in Aktien und Immobilien zurückhaltend. Überzeugend  wirkt die Null-Unterlegung bei Anleihen der Staaten. In der Lebensversicherung sind die Neuerungen deutlich: Zinsgarantien werden kaum noch gegeben. Rentenverträge lösen durch die Langlebigkeit einen hohen Kapitalbedarf aus und sind daher schwerer darstellbar. Die Naturkatastrophen belasten alle Bereiche. Generell gilt: Im Gefolge von Solvency II sinkt die Bereitschaft der Assekuranz zur Übernahme von Risiken.

Die Politik greift im Rahmen der Regulierung des Finanzmarkts als Reaktion auf die Finanzkrise in das Kerngeschäft der Branche ein, obwohl die Versicherungswirtschaft die Turbulenzen ohne größere Probleme bewältigen konnte.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

Dies ist der letzte Teil der vierteiligen „Solvency II“-Serie

Lesen Sie hier

Teil 1: Neue EU-Regeln: Versicherer werden weniger Risiken absichern

Teil 2: Neue EU-Regeln: Versicherungen sollen Staats-Finanzierer werden

Teil 3: Neue EU-Regeln: Marktwerte für Verträge, die keinen Marktwert haben

 

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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