Politik

Angriff aus London: Großbritannien wird zum Gegenspieler der EU

Lesezeit: 7 min
15.04.2017 02:20
Großbritannien will nicht nur einfach austreten, sondern der EU die Dominanz in Europa streitig machen. (Artikel nur für Abonnenten zugänglich)
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Der Journalist und Autor Giovanni Fasanella und sein Kollege Mario José Cereghino sind im Staatsarchiv von Kew Gardens (London) auf Dokumente gestoßen, die belegen: Seit Ende des Zweiten Weltkrieges tobt ein verdeckter Krieg um Einflusszonen im Mittelmeer, auch zwischen offiziell alliierten Staaten wie Italien und Großbritannien. Die Analyse des britischen Verhaltens in der Vergangenheit lässt Rückschlüsse auf die Strategie der Briten beim Austritt aus Europa zu: London will sich nicht bloß den Brüsseler Regulierungen entziehen, die Briten verfolgen ein offensives Ziel: Sie wollen eine Hegemonie in Europa und die EU kalt entmachten. Das Werkzeug haben sie dazu, vor allem in Form ihrer Geheimdienste. MI6 und GCHQ haben über Deutschland alle Rechte zur umfassenden Spionage. Es dürfte für die EU schwierig werden, vertrauliche Sitzungen wirksam zu schützen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Ihren Büchern „Il Golpe Inglese“ („Der englische Putsch“) und „Colonia Italia“ („Kolonie Italien“) beleuchten Sie den britischen Einfluss auf die Italienische Politik der Nachkriegszeit. Was haben Sie herausgefunden?

Giovanni Fasanella: Dass Großbritannien über ein Jahrhundert lang einen enormen Einfluss auf die italienische Politik ausgeübt hat – und zwar hauptsächlich über die Massenmedien. Wenn aber diese Art der „soft power“ nicht ausreichte, griff man zu härteren Methoden: wirtschaftskriegerische und die Unterstützung von subversiven Bestrebungen im Inneren. Denn für Großbritannien war Italien aufgrund seiner geografischen Lage im Mittelmeer immer von herausragender strategischer Bedeutung. Deswegen hat London einerseits versucht, die Politik unseres Landes entsprechend seiner Kolonialinteressen zu lenken. Andererseits ist es systematisch gegen den Teil der italienischen Führungsklasse vorgegangen, der seinen Interessen im Wege stand.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Können Sie das mit gesicherten Quellen belegen?

Giovanni Fasanella: Selbstverständlich. Aus Dokumenten der britischen Regierungen, Diplomaten und Geheimdienste sowie solchen bezüglich britischer Wirtschaftsaktivitäten, die bislang der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlagen, geht dies hervor. Sie finden sich im Staatsarchiv von Kew Gardens in der Nähe von London. Es ist ein beeindruckender Berg an Materialien, an denen sich bisher niemand von den italienischen und europäischen Rechercheuren herangetraut hatte. Mit Mario Josè Cereghino, meinem Co-Autor für die beiden Bücher, habe ich sie aufgestöbert, klassifiziert, unter die Lupe genommen und einige auch veröffentlicht – und zwar unter einem Gesichtspunkt, der eigentlich offensichtlich sein sollte, dem aber trotzdem nur wenige Wissenschaftler die verdiente Bedeutung beimessen: Den Krieg ums Mittelmeer, der auch unter „befreundeten“ und „alliierten“ Ländern ausgetragen wird. Es geht um die Kontrolle der Energierohstoffe und der – kommerziellen wie militärischen – Schifffahrtsrouten, die das Mittelmeer, den Nahen Osten und über den Suezkanal den Fernen Osten miteinander verbinden. Vor diesem Hintergrund müssen zahlreiche auch blutige Vorfälle in der italienischen Nachkriegsgeschichte gesehen werden. Auch die sogenannten „bleiernen Jahre“, also die Jahre des politischen Terrorismus.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Giovanni Fasanella: Aus den Dokumenten wird der Ärger der Briten über eine „unabhängige“ italienische Energiepolitik offensichtlich. Besonders der Präsident der ENI Enrico Mattei war ihnen seit den Fünfziger Jahren ein Dorn im Auge. Was war geschehen? Der iranische Premierminister Mossadegh hatte die britischen Ölfirmen enteignet. Die Antwort Londons war ein Embargo gegen den Iran. Das aber wurde von Italien unterlaufen. Laut eines der zahlreichen Dokumente hat Winston Churchill sich Diplomaten und Geheimdienstmitarbeitern gegenüber wie folgt geäußert: „Wir müssen den Italienern klar machen, dass uns einige ihrer Initiativen äußerst lästig sind.“ Wenig später, als London mit amerikanischer Hilfe den Militärstreich in Teheran organisierte, entwarf man auch Geheimpläne, um Mattei zu neutralisieren. Man nannte ihn „eine tödliche Gefahr für die britischen Interessen in der Welt“, eine „Warze“ und „Hautwucherung“. In einem Dokument aus dem Jahr 1962 kann man lesen: „Wir haben mit allen Mitteln versucht, ihn zu stoppen, aber es ist uns nicht gelungen. Vielleicht sollten wir uns fragen, ob wir die Angelegenheit nicht besser unserem Geheimdienst überlassen.“ Was der britische Geheimdienst daraufhin tat, weiß ich nicht. Klar ist aber, dass Mattei sechs Monate später bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Heute können wir mit Sicherheit sagen, dass dieses durch Sabotage provoziert worden ist.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie hatten auch die „bleiernen Jahre“ erwähnt.

Giovanni Fasanella: Nachdem Mattei von der Bildfläche verschwunden war, glaubte man in London, das „italienische Problem“ gelöst zu haben. Dem war aber nicht so. Die Mittelmeer- und Nahostpolitik Italiens wurde noch aggressiver in Gegenden, die – wie wir in den Dokumenten aus Kew Gardens nachlesen können – für das Vereinigte Königreich „gleich nach Großbritannien selbst am wichtigsten“ waren. Zum Beispiel Libyen, Ägypten und der Irak. Denn von der Kontrolle über diese Bereiche hing der Großmachtsstatus Großbritanniens ab. Und der unwidersprochene Protagonist dieser Phase der italienischen Politik, die von 1969 bis in die Mitte der Siebziger Jahre währte, war Aldo Moro. Die in Italien von den Briten losgetretenen Pressekampagnen hatten nicht die gewünschten Resultate gebracht. Colin MacLaren, ein hochrangiger Funktionär des IRD (Information Research Department), dem Instrument für verdeckte Propaganda der britischen Diplomatie und Geheimdienste, schreibt in einem Bericht aus dem Jahr 1969, dass die diesbezüglichen Anstrengungen „die gleiche Wirkung entfalteten wie ein Tischtennisball, mit dem man einen Goliath bewirft“ und dass es nötig wäre, sich „anderer Methoden“ zu bedienen. Welcher? Das wissen wir nicht, denn der Teil des Dokuments, der dies ausführt, ist noch immer Staatsgeheimnis. Fest steht aber, dass Italien ab 1969 von Gewalt und politischem Terrorismus erschüttert wurde, rechtem wie linkem, die sich gegen die Politik der Regierung richteten, deren wesentlicher Impulsgeber Aldo Moro war.

Wir können auch mit Sicherheit sagen – denn das geht aus den Dokumenten, die wir in Kew Gardens gefunden haben, hervor – dass das Vereinigte Königreich im Jahr 1976 einen veritablen Staatsstreich plante, um Aldo Moro zu neutralisieren. Das Vorhaben wurde von den Franzosen, deren Interessen sich mit denen der Briten deckten, gebilligt, von den Amerikanern und Deutschen aber verworfen, denn eine derartige Operation erschien ihnen zu riskant. Also setzten die Briten „Plan B“ ins Werk. Was ist damit gemeint? Auch dieser Teil des Dokuments unterliegt noch immer dem Staatsgeheimnis. Wir kennen nur dessen Titel, dem folgender Hinweis vorangestellt ist: „Hierüber bitte auch nicht mit den Amerikanern und Deutschen sprechen.“ Dann folgt der Titel: „Unterstützung für eine andersartige subversive Aktion“. Worum es sich dabei handeln soll, kann ich nicht sagen. Allerdings wissen wir, dass wenig später, auf dem Höhepunkt einer Phase politischer Gewalt, Moro im Jahr 1978 von den Roten Brigaden entführt und ermordet wurde. Ich bin nicht in der Lage, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen den britischen Plänen und den blutigen Vorfällen, die sich in Italien zwischen 1969 und 1978 ereigneten, herzustellen. Aber wenn Sie mich fragen würden: „Hatten die britischen Geheimdienste Verbindungen zu den neofaschistischen Organisationen und dem Linksterrorismus?“, würde ich antworten: Ja, die hatten sie.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie kommt es, dass die Öffentlichkeit darüber so wenig weiß?

Giovanni Fasanella: Ein Ziel hat die britische „soft power“ zumindest erreicht: London von jedem Verdacht fernzuhalten. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Maschinerie der verdeckten Propaganda funktioniert – und wie!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Besteht die Rivalität zwischen Großbritannien, Frankreich und Italien fort?

Giovanni Fasanella: Ich würde sagen: Mehr denn je. Allerdings mit einem Unterschied: Heute ist Italien im Vergleich zu früher geschwächt und kann sich offensichtlich nicht mehr gegen diese „Attacken“ wehren. Es ist traurig, das sagen zu müssen. Aber so ist es.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sprechen wir über Libyen: Warum diese Eile, Gaddafi zu eliminieren?

Giovanni Fasanella: Sehen Sie, Italien hat zwar den Zweiten Weltkrieg verloren, aber die Nachkriegszeit gewonnen. Das ist ein Paradoxon unserer Geschichte – wenigstens bis zur Ermordung Aldo Moros, als unser Abstieg begann. Und wer auf der anderen Seite dafür am meisten einbüßte, waren Frankreich und Großbritannien. Unter die Sanktionen gegen Italien, die im Friedensvertrag von 1947 festgeschrieben wurden, fiel auch der Verzicht auf seine afrikanischen Kolonien – angefangen bei Libyen. Doch dank der Politik von Mattei und Moro ist es unserem Land allmählich gelungen, seine alten Einflusssphären wiederherzustellen. Gaddafi hielt man für ein „Geschöpf Italiens“. Deswegen haben sie ihn, in aller Eile, liquidiert. Es war ein Moment, in dem unser politisches System am Boden lag, unsere Regierenden in den Augen der Welt ihre Glaubwürdigkeit verspielt hatten und aufgrund ihrer juristischen Verstrickungen wahrscheinlich auch erpressbar waren. Vergessen Sie nicht, dass sich der Angriff auf Libyen und der sogenannte „arabische Frühling“ zu einer Zeit ereigneten, als Silvio Berlusconi Ministerpräsident war. Und der war mehr damit beschäftigt, sich in Gerichtsprozessen zu verteidigen als sich um unsere Innen- und Außenpolitik zu kümmern.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Haben sich nach dem Krieg gegen Libyen die Einflusszonen im Mittelmeer verschoben? Wer hat dazu gewonnen, wer musste abgeben?

Giovanni Fasanella: Das lässt sich schwer sagen. Wir befinden uns in einer Phase großer Konfusion und Instabilität. Sogar Obama hat zugeben müssen, dass Libyen und der „arabische Frühling“ äußerst schwere Fehler waren. Sarkozy und Cameron, die beiden europäischen Regierungschefs die mehr als alle anderen zur Destabilisierung Nordafrikas und des Nahen Ostens beigetragen haben – mit katastrophalen Folgen, wie wir heute sehen können – nannte er „Schmarotzer“.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Briten haben sich nun entschlossen, die Europäische Union zu verlassen. Glauben Sie, dass sich Cameron mit dem Brexit verzockt hat? Oder gab es noch starke Interessen im Hintergrund?

Giovanni Fasanella: Cameron hat auf mich nie einen besonders intelligenten Eindruck gemacht. Ich glaube nicht, dass er das allein durchgezogen hat: Hinter dem Brexit stehen starke Interessen. Großbritannien hat seine Großmachtträume nie aufgegeben. Dafür aber braucht es freie Hand. Innerhalb Europas, wo der Einfluss Deutschlands zugenommen hat, wurde es ihm zu eng. Großbritannien verlässt die EU, um auf globaler Ebene mitspielen zu können, auf Augenhöhe mit Trump und Putin, ein zweites Jalta vor Augen, das die Einflusssphären neu aufteilt nach dieser langen Zeit schwerer Turbulenzen, die dem Ende des Kalten Krieges folgten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie sind denn die Chancen für Großbritannien, sich außerhalb der EU als Großmacht zu etablieren?

Giovanni Fasanella: Großbritannien wird das tun, was es im Verlauf seiner Geschichte immer getan hat: Es wird nicht alles auf eine Karte setzen. Es wird versuchen, Europa zu destabilisieren, denn ein vereintes und starkes Europa würde es in den Schatten stellen. Und gleichzeitig wird es versuchen, seinen Einfluss im Inneren der einzelnen europäischen Staaten weiter auszubauen, um stärkere Argumente zu haben, wenn es sich mit Putin und Trump an einen Tisch setzt. London hält sich noch immer für den Nabel der Welt. Und das nicht zu Unrecht, denn es ist nach wie vor Herz und Hirn der Weltfinanz.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welches sind denn die größten potentiellen Konflikte innerhalb Europas und besteht die Aussicht, dass sie beigelegt werden?

Giovanni Fasanella: Wenn ich das aus einer Vogelperspektive betrachte, gewinne ich den Eindruck, dass Europa in mancherlei Hinsicht in die Vorkriegszeit des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts zurückgefallen ist: Deutschland gewinnt an Einfluss, Großbritannien leidet darunter, Frankreich versucht, seine eigene Rolle zu definieren und Italien ist wankelmütig und weiß nicht, auf welche Seite es sich schlagen soll. Andererseits kommt es mir aber auch so vor, als seien wir in der unmittelbaren Nachkriegszeit gelandet: Europa ist durch innere Konflikte verwüstet und die Siegermächte – die USA, Russland und Großbritannien – balgen sich um die Beute. Wenn sich aber Europa endlich dazu entschließen würde, an sich selbst zu glauben, in seine eigenen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Potentiale, würde sich das Bild radikal ändern. Denn wir könnten unsere Kraft – und nicht etwas Schranken und Mauern – im Sinne einer wahrhaftigen Stabilisierung einsetzen. Denn wir können eine Brücke sein in andere Welten.

***

Giovanni Fasanella ist Journalist und Autor. Er war politischer Berichterstatter der „Unità“ und berichtete für die Wochenzeitschrift „Panorama“ aus dem Quirinalspalast – dem Sitz des italienischen Staatspräsidenten – und dem Parlament. Er hat zahlreiche Besteller zur „verdeckten Geschichte Italiens“ geschrieben. Mehr Infos gibt es auf seiner Website www.fasaleaks.it.


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