Politik

Keine Koalition: Niederlande seit sieben Monaten ohne Regierung

Lesezeit: 5 min
07.10.2017 23:21
Ein Vorbild für Deutschland? In den Niederlanden verhandeln die Parteien seit sieben Monaten erfolglos über eine Koalition.

Seit den Parlamentswahlen in den Niederlanden am 15. März 2017 versucht die stärkste Partei VVD, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Nach monatelangen Verhandlungen werden nun Details der Koalitionsabsprachen bekannt. Eine Einigung ist jedoch weiterhin nicht in Sicht.

„Wir sehen ein Licht am Ende des Tunnel“, sagte Gert-Jan Segers, Parteichef der niederländischen ChristenUnie, am 22. September 2017 der Online-Zeitung : „Wir sitzen in den letzten Verhandlungsrunden.“ Ausgehandelt wird in diesen Runden das exakte Politik-Paket, für das die Koalition aus der rechtsliberalen Volkspartei vor Vrijheid en Demokratie (VVD), den Democraten66 (D66), den Christdemokraten (CDA) und der ChristenUnie (CU) stehen soll.

Von einem komplizierten Puzzlespiel spricht das Nachrichtenportal NOS. In kleinen Schritten werden die einzelnen Positionen festgelegt. Beispielsweise legt das zukünftige Kabinett Wert darauf, dass sich Arbeit mehr lohnen soll. Um fünf Milliarden Euro jährlich will die Regierungsmannschaft in spe die Einkommenssteuer senken. Bisher rutschten Arbeitnehmer schnell in eine höhere Einkommenssteuerklasse, wenn sie mehr verdienten. Das soll sich nun ändern, darauf haben sich alle vier Koalitionspartner geeinigt. Bürger mit einem Jahreseinkommen von 40.000 Euro brutto werden demnach etwa 1.200 Euro sparen.

Vor allem der CDA und der ChristenUnie ist wichtig, dass von den bisher vier Steuerklassen zwei gestrichen werden. Eine „soziale Flattax“ nennt Professor Raymond Grades dieses System in seiner Studie für die CDA. Gleichzeitig verschärfe die vereinfachte Einkommenssteuer die Spaltung zwischen Arm und Reich – denn es profitieren vor allem Menschen mit hohen oder mittleren Einkommen. Deshalb fordern die CU, die CDA und D66 einen Eingriff bei den Hypothekenzinsen – die derzeit sehr niedrig sind und meist die reichen Haushalte betreffen. Außerdem sollen Mehrwertsteuer und Energiekosten erhöht werden.

Dass die Hypothekenzinsen in den Niederlanden niedrig sind hat einen Grund: In dem Land gibt es viele Menschen, die sich durch den Kauf einer Hypothek hoch verschuldet haben.

Auch bei der Verteilung der Ministerposten machen die Parteien Fortschritte. Premierminister Mark Rutte von der PVV hatte noch 2012 im so genannten Kabinett Rutte II auf eine Verschlankung des Staatsapparats gesetzt. Nun ist die Wirtschaft wieder stabil, und es sollen sogar drei neue Ministerien geschaffen werden: für Landbau, für Klima und Energie sowie für Migration und Integration. Über ein viertes Ministerium beraten die Parteien noch. In dessen Aufgabenbereich sollen Steuerfragen, Volksgesundheit und soziale Themen fallen.

So konkret die Absprachen auch erscheinen mögen: Der große Durchbruch, die Aussage, dass das neue Kabinett steht, fehlt immer noch. Die alte Regierung arbeitet wie bisher weiter. Immer noch steht nicht sicher fest, ob VVD, D66, CDA und CU sich in allen Punkten einig werden. Und auch wenn sie es schaffen, ist ihre Mehrheit wackelig: Gemeinsam hätten sie nur 76 von 150 Parlamentssitzen inne.

Nach den Wahlen wurde schnell deutlich, dass es nicht einfach würde, eine Regierung zu bilden. Die Parteienlandschaft in den Niederlanden ist sehr kleinteilig. 13 Parteien zogen ins Parlament ein, davon eine Partei mit zwei Prozent der Wählerstimmen und zwei Parteien mit jeweils drei Prozent. Die bisherige Regierung, eine große Koalition aus der konservativen VVD und der linksliberalen Partie van de Arbeid (PvdA), verlor an Zustimmung: Von 24,8 Prozent bei den vergangen Wahlen fiel die PvdA auf 5,7 Prozent. Auch die VVD verlor acht Sitze im Parlament. Mit 33 Sitzen ist sie zwar deutlicher Wahlsieger, sie braucht aber mehrere Koalitionspartner, um ein Mehrheitskabinett zu bilden.

Von den anderen zwölf Parteien kommen nur wenige als Partner in Frage. Die PvdA will nach den Verlusten nicht mehr mitregieren. Inhaltlich finden sich am meisten Übereinstimmungen zwischen der VVD, der CDA und D66. Gemeinsam sind sie in der politischen Mitte anzusiedeln. D66 ist linksliberal, die CDA eher konservativ, die VVD konservativ-liberal. Zu dritt hätten diese Parteien jedoch nur 71 Sitze im Parlament.

Rein rechnerisch würde eine Zusammenarbeit mit der Partei von Geert Wilders naheliegen. Die PVV ist mit 20 Sitzen die zweitstärkste Kraft im Parlament. Mark Rutte hatte jedoch schon vor den Wahlen eine Zusammenarbeit kategorisch ausgeschlossen, und die meisten Parteien hatten sich dem angeschlossen. Sie wollten den Wählern deutlich machen, dass jede Stimme für Wilders eine verlorene Stimme wäre, da er keine Partner finden würde, um seine politischen Vorstellungen umzusetzen. Dennoch bekam Wilders 13 Prozent der Wählerstimmen. Zunächst war er deshalb nach den Wahlen zuversichtlich, dass er Teil der Regierung sein würde. Er sagte: „Man kann nicht einfach so 1,3 Millionen Menschen an den Rand stellen.“ Tatsächlich sprachen sich viele Politiker dafür aus, die Sorgen der PVV-Wähler ernst zu nehmen. „Ich will mit diesen Wählern ins Gespräch kommen“, sagte Mark Rutte der Zeitung Volkskrant. Jedoch nicht, indem er mit der PVV zusammenarbeitet, sondern im Gegenteil: „Ich will ihnen zeigen, dass Geert Wilders nicht der Mann ist, der ihre Probleme lösen kann.“

Wunschpartner der drei großen Parteien war GroenLinks (Grün Links). Der junge Parteichef Jesse Klavier hatte Erfolg bei den Wahlen. Statt der bisher vier Sitze im Parlament wird GroenLinks zukünftig 14 Plätze innehabe. Die Koalitionsverhandlungen scheiterten jedoch nach 60 Tagen an unterschiedlichen Auffassungen zur Flüchtlingspolitik. Die anderen Parteien wollen bewirken, dass Asyl nur noch von außerhalb der EU aus beantragt werden kann.  GroenLinks dagegen will die Grenzen weiterhin offenhalten.

So bleibt die Koalition mit der ChristenUnie die einzige Chance auf ein Mehrheitskabinett – mit einer sehr knappen Mehrheit, denn die CU kam nur auf 3,4 Prozent der Wählerstimmen und fünf Sitze. Gleichzeitig hat der kleine Partner politische Vorstellungen, die sich deutlich von denen der anderen drei unterscheiden. VVD und CDA befürworteten dennoch eine Zusammenarbeit, D66 lehnte sie zunächst kategorisch ab. Größter Streitpunkt ist das Thema Euthanasie. D66 hatte vor den Wahlen damit geworben, Sterbehilfe zu vereinfachen. Ab einem Alter von 75 Jahren könne jeder sie beantragen, der lebensmüde sei, unabhängig von physischen Gebrechen. Die ChristenUnie dagegen steht für den Glauben, dass Gott dem Menschen das Leben geschenkt hat - und man es um jeden Preis schützen müsse. Auch mit Blick auf Europa gibt es Hürden: VVD und CDA sind europakritisch, wollen aber eine gute Zusammenarbeit mit der EU. D66 will die Zusammenarbeit vertiefen. Die CU dagegen will die Kompetenzen Brüssels beschneiden.

Die erste gemeinsame Koalitionsverhandlung wurde nach dreieinhalb Stunden abgebrochen. Später aber gab Alexander Pechtold von D66 bekannt, die CU sei zwar „nicht sein erster, nicht sein zweiter uns auch nicht sein dritter Wunschkandidat“, aber er wolle doch verhandeln, denn es gebe schlicht keine andere Chance. „Es ist für die D66 sehr wichtig, dass es zu einer stabilen Mehrheitsregierung kommt“, schreibt Pechtold auf der Internetseite der Partei.

Nur kurz spekulierte Rutte nach dem Bruch mit GroenLinks über eine mögliche Minderheitsregierung –aber nur als letzte Chance. Sie erscheint den meisten Parteien als eine „Kamikaze-Mission“, schreibt die Zeitung Volkskrant. Eine zunehmende Zersplitterung und Polarisierung der Parteienlandschaft sei zu befürchten. Kein Minister habe die volle Rückendeckung der Regierung. Jeder noch so nebensächliche Beschluss werde zur Staatsaffäre, die ausdiskutiert werden muss. Damit habe das Land bereits negative Erfahrungen gemacht.

Hintergrund dieser Einschätzung ist ein Eklat im Jahr 2012. Die VVD regierte damals gemeinsam mit der CDA, sie hatten jedoch im Parlament keine Mehrheit. Deshalb hatten sie nach den Wahlen 2010 ein Duldungsabkommen mit Wilders geschlossen. Das wurde durch die ökonomische Krise zwei Jahre später auf die Probe gestellt. Im Catshuis – so heißt die Dienstwohnung des niederländischen Ministerpräsidenten und das Empfangszentrum der Regierung in Den Haag – trafen sich die drei Parteien, um über ein Sparpaket von 14,4 Milliarden Euro zu verhandeln. Wilders lehnte das jedoch ab und forderte die Rückkehr zum Gulden, da der Euro versagt habe. Die Verhandlungen dauerten fast zwei Monate. Dann verließ Wilders am 21. April überraschend das Catshuis und forderte öffentlich Wahlen „gegen oder für Brüssel“. Rutte war gezwungen, das Kabinett aufzulösen, und es wurden Neuwahlen für September angesetzt. Da Brüssel jedoch bis zum 1. Mai über den kommenden Haushalt informiert werden musste, stimmten GroenLinks, die ChristenUnie und D66 kurzfristig einem Sparpaket von zwölf Milliarden Euro zu. Wilders sei „weggelaufen“, als es ernst wurde, hieß es anschließend in den Medien. Bei der Wahl verlor er mehr als fünf Prozent der Stimmen.

Die Kabinettskrise von 2012 sei ein Schreckensbild, das die öffentliche Wahrnehmung bis heute präge, erklärt Sarah de Lange, Politikprofessorin und Mitglied des „Rats für öffentliche Verwaltung“ in einem Podcast. Dabei garantiere eine Minderheitsregierung, dass mehr Wählerstimmen „gehört“ würden, weil mehr Parteien in die Entscheidungen einbezogen werden. Auch 2012 hätten schließlich drei neue Partner der Regierung geholfen, handlungsfähig zu bleiben. Eine Mehrheitsregierung um jeden Preis führe dazu, dass die Wähler sich betrogen fühlten – die PvdA habe dafür einen hohen Preis gezahlt. Der Fragmentierung und Polarisierung in der Politik werde man mit einem starren System nicht gerecht, sagt de Lange: „Die niederländische Politik ist es gewohnt, einzudämmen und Sicherheiten einzubauen. Aber komplexe Fragen wie Migration, kulturelle Vielfalt und Europa, wie sie die Wahlen beherrschen, verlangen eine beweglichere Art von Allianzen und Mehrheitsbildungen im politischen Betrieb.“ Das Kabinett Rutte III wäre demnach schon überholt, bevor es das Puzzlespiel beendet hat.

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