Politik

Chinas rasantes Wachstum ist Risiko für globale Wirtschaft

Lesezeit: 13 min
04.11.2017 18:00
Chinas Binnenwirtschaft basiert auf einer überschießenden Kreditexpansion.

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Das Wirtschaftswachstum Chinas erscheint im internationalen und untertemporalen Vergleich absolut einmalig. Von einem der ärmsten Länder der Welt Ende der 1970er Jahre mutierte das Land zu einer wirtschaftlichen Weltmacht innerhalb von 40 Jahren. Im Export vollzieht China eine Metamorphose von den Exportprodukten des 19. zu den technologisch führenden Industrien des 21. Jahrhunderts innerhalb von zwei Jahrzehnten.

Der Erfolg im Export wird noch überlagert von einem gewaltigen Investitionsboom in der Binnenwirtschaft. China hat seit Jahrzehnten so anhaltend hohe Anteile der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt, wie kein anderes Land auch nur annähernd je erreicht hat – und dies bei enorm hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, die es ebenfalls vorher nie gab. Hinzu kommt eine Steigerung der Investitionsquoten in den letzten 15 Jahren in zwei Etappen.

Startschuss zu diesem gewaltigen Investitionsschub gab der WTO-Beitritt Chinas im Jahre 2001. Er eröffnete China schlagartig völlig neue Absatzmärkte in den USA und in Europa. Die erste Etappe betraf vor allem die Produktionsauslagerungen multinationaler Konzerne, die in den Sonderwirtschaftszonen Fabriken hochzogen und die Produktionsstätten in ihren Ursprungsländern dicht machten. Sie dominierten den Anstieg der Exporte Chinas in den 2000er Jahren. Die Exportquoten, d.h. der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt, stiegen rasant an, verdoppelten sich fast innerhalb weniger Jahre. Parallel dazu stiegen auch die Investitionsquoten, d.h. der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt, in den Jahren nach 2001 auf erhöhte Niveaus.

Die moderne chinesische Wirtschaftsstatistik beginnt mit der Machtübernahme von Deng im Jahr 1978. Die Exportquoten sind hier definiert als Güterexport- und als Gesamtexportquoten inklusive der Dienstleistungen. Bei den Investitionen wird zwischen den totalen Bruttoinvestitionen und den Fixkapitalinvestitionen unterschieden. Den Unterschied zwischen beiden machen die Lagerinvestitionen aus. Die Lagerinvestitionen, also die Veränderung von Warenlagern in Produktion und Distribution, haben über die Zeit hinweg deutlich an Gewicht verloren – genauso wie in westlichen Ländern. Das ist der weitgehend durchgesetzten Just-in-Time-Produktion in der Industrie und der Modernisierung der Distributionstechnik im Dienstleistungssektor zuzuschreiben. Die Fixkapitalinvestitionen, d.h. die Investitionen in Infrastrukturen, Fabriken, Bürogebäude, Lagerhallen und in Wohnbauten haben über die Zeit hinweg noch viel stärker zugelegt als die Bruttoinvestitionen.

Die chinesischen Wirtschaftszahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Aber die Grundaussage der Grafik ist nicht falsch. Die Investitionsquoten Chinas sind konkurrenzlos – genauso wie die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts. Aber sie verdecken Ungleichgewichte, die im Westen weniger bekannt sind. Diese behindern das Wachstumsmodell – wenn sie es nicht sogar gefährden.

In der Phase nach dem WTO-Beitritt, also in den 2000er Jahren, konzentrierte sich die Investitionstätigkeit auf den Osten des Landes, wo die rasch wachsenden Exportzentren und Sonderwirtschaftszonen waren. Dort nahm die Bevölkerung aufgrund der Zuwanderung zu, die Städte und Präfekturen konnten von rasch steigenden Steuereinnahmen profitieren und diese Einnahmen zur Bautätigkeit benutzen. Unter dem 1994 eingeführten Steuersystem hatten die Städte, Gemeinden und Präfekturen einen großen Teil der Kontrolle über die gesamten Steuereinnahmen verloren, welche fortan direkt an die Zentralregierung gingen. Die Zentralregierung setzte gleichzeitig einen rigiden Zwang zum Budgetausgleich für die lokalen Körperschaften durch. Nur mit sprudelnden Einnahmen konnten Ausgaben finanziert werden. Der enorme Exportschub setzte also einen Investitionszyklus in Infrastrukturen und Wohnungen in Gang, der wiederum neue Unternehmen anzog und so Steuereinnahmen generierte. Die Finanzpolitik war bereits in dieser Phase zusätzlich expansiv, weil die Städte und Präfekturen Landverkäufe benutzen konnten, um zusätzliche Infrastrukturausgaben zu finanzieren.

Infrastruktur- und Wohnungsbau haben in den vergangenen 15 Jahren in China von einer einzigartigen Konstellation profitiert. Im Export ergaben sich gigantische Windfall Profits durch den WTO-Beitritt – dies nach einer Phase von 20 Jahren Vorbereitung und Erfahrung mit Sonderwirtschaftszonen. Durch die Fehler-Analyse der Modelle anderer Länder und die Praxis wurden Standortfaktoren geschaffen, welche global einzigartig waren:

  • Steuern
  • Regulation
  • schulische Ausbildung
  • Lohnniveau
  • drakonisches Arbeitsrecht mit einem riesigen Heer von unterbezahlten Wanderarbeitern
  • erste Berufserfahrung in der Industrie

Diese Regionen an der Ostküste Chinas waren dadurch bereit, sofort zum Attraktionspunkt der Weltwirtschaft zu werden und die Investitionen aus den USA sowie aus Europa anzuziehen, als der WTO-Beitritt Tatsache wurde. Der WTO-Beitritt Chinas und die daran anschließende Praxis im Außenhandel muss als die größte globale Arbitragemöglichkeit der Wirtschaftsgeschichte betrachtet werden. Sie offerierte multinationalen Unternehmen ein Wachstumsfeld und erlaubte ihnen eine Kostensenkung und Gewinnsteigerung ohne Ende – um den Preis einer Desindustrialisierung in ihren Heimländern.

Die Fabrik der Welt wurde auf dem Rücken der Wanderarbeiter errichtet

Für das Exportwunder wird in der allgemeinen Diskussion die Rolle des praktisch unbeschränkt elastischen Arbeitsangebots unterschätzt. Wenig bekannt sind die quantitativen Dimensionen, aber auch die ökonomischen Implikationen. Die Zahl der Wanderarbeiter nahm schon in den 1990er Jahren stark zu – nach dem WTO-Beitritt 2001 ist sie regelrecht explodiert.

Diese Zahlen sind sehr unsicher und selbst in der offiziellen Statistik widersprüchlich. Der Grund dafür ist, dass es nur alle zehn Jahre einen Zensus und dazwischen Interpolationen aufgrund einer Stichprobe der Bevölkerung gibt. Die Zahlen für die Jahre seit 2010 können also nach dem nächsten Zensus wieder erheblich abgeändert werden, wie dies im Übrigen für die Zahlen zwischen 1990 und 2000 und zwischen 2000 und 2010 geschah. Bei der Interpolation besteht die Schwierigkeit, dass viele Wanderarbeiter im boomenden informellen Sektor der Wirtschaft arbeiten. Sie können so oft überhaupt nicht erfasst werden. Die Zahlenreihe sollte daher nur als grobe Tendenz mit den Fixpunkten der Volkszählungen interpretiert werden.

Klar ist aber, dass die Wanderarbeiter und -arbeiterinnen einen substantiellen Teil der Gesamtbeschäftigung in den Städten ausmachen. Gemäß den offiziellen Zahlen beträgt ihr Anteil rund 36 Prozent an der Bevölkerung und zwischen 40 und 50 Prozent an der Beschäftigtenzahl in den Städten und deren Agglomerationen (‚Urban areas‘).

Die Basis für die ‚floating population‘, wie sie in der chinesischen Statistik genannt werden, ist das ‚hukou‘-System, die Registration der Person nach dem Geburtsort und nicht nach dem Wohnort. 1958 eingeführt, war der Zweck dieses Systems ursprünglich, eine Überbevölkerung der Städte durch Zuwanderung zu verunmöglichen oder massiv zu erschweren. Das sorgt einerseits für Schwierigkeiten der statistischen Erfassung, andererseits für eine Klassen- oder besser Kastenbildung. 1992 wurde das hukou-System mit dem Effekt teilliberalisiert, dass die Zuwanderung in Städte explodierte.

Die Wanderarbeiter haben nämlich im Vergleich zur ansässigen städtischen Bevölkerung sehr wenig Rechte:

  • müssen Pass am Arbeitsort abgeben, falls sie im regulären Sektor arbeiten
  • wenig Lohn
  • lange Arbeitszeiten
  • schwierige und schmutzige Aufgaben
  • keine Sozialversicherung
  • kaum anständige Unterbringung
  • kaum Aufstiegschancen

Das Gros der Wanderarbeiter ist zwischen 20 und 40 Jahre alt. Im Schnitt haben sie eine einfache Schulbildung, aber wenig höhere Ausbildung. Ihre Entlohnung ist viel geringer als die der urbanen Bevölkerung. Zudem muss sie auch dafür herhalten, Rimessen für die Verwandten im Heimatort zu senden, als Unterstützung für die landwirtschaftliche Aktivität, für den Lebensunterhalt der Alten, für die Ausbildung eines Kindes oder um Steuern zu bezahlen. Oft bleiben wenig Möglichkeiten, finanzielle Reserven für sich selbst zu schaffen.

Der Export- und Investitionsschub profitiert also von diesem fast unendlich elastischen Arbeitsangebot von der Tatsache, dass China seit langem das bevölkerungsreichste Land der Welt ist. Es ist diese einfache agrarische, überzählige Bevölkerung, welche den Aufstieg Chinas zur Fabrik der Welt trägt. Sie ist am stärksten im Bausektor und in der verarbeitenden Industrie tätig. Im Westen macht man sich ein Zerrbild von China, das von einer riesig anwachsenden kaufkräftigen Mittelschicht geprägt ist. Doch die Zahlen lügen nicht. Die große Masse der Beschäftigten in den ‚urban areas' stellen die Wanderarbeiter dar. Auch deren Reallöhne sind seit dem WTO-Beitritt erheblich angestiegen. Ihre schiere Zahl aber ist regelrecht explodiert und dominiert die Beschäftigung in den urbanen Zentren – ohne oder mit wenig Perspektive für eine dauerhafte materielle Besserung.

Der Investitionsanstieg ist global einzigartig

Zu diesen sehr günstigen Voraussetzungen für den Außenhandel kommt eine immer mehr unterbewertete Währung, weil die Produktivitätsfortschritte in der Industrie viel höher als die Lohnsteigerungen waren. Die Währung ist dominiert von der chinesischen Zentralbank, die aufgrund der gigantischen Leistungsbilanzüberschüsse der Jahre seit 2000 und aufgrund von zahlreichen Kapitalverkehrshindernissen den Wechselkurs bestimmen kann. Durch die finanzielle Repression gegenüber den Sparern sind zusätzlich noch die Zinsen viel zu niedrig, die Margen der Banken hoch, und das Kreditangebot ungemein elastisch.

Diese Faktoren – Exportwunder, unbeschränkt elastisches Arbeitsangebot, erheblich unterbewerte Währung und finanzielle Repression – haben den historisch und global einzigartigen Investitionsanstieg ermöglicht:

Hohe Investitionstätigkeit der Unternehmen: China wurde deshalb zur Fabrik der Welt, weil die Bedingungen dort einzigartig profitabel waren. Geringe oder keine Steuern und Abgaben für die ausländischen Unternehmen, welche für den Export produzierten; Sehr niedrige Arbeitskosten, überlange Arbeitszeiten, praktisch unbeschränkt elastisches Arbeitsangebot vor allem der weitgehend rechtlosen Wanderarbeiter, eines riesigen Heers von unterbezahlten Personen; geringe regulatorische und Umweltauflagen.

Explodierender Wohnungsmarkt: Die fast vollständige Privatisierung des Wohnungsmarktes und des Wohnungsbaues in den Jahren zwischen 1998 und 2002 lieferte die Voraussetzungen für einen überschäumenden Boom. 1998 wurde angesichts einer ernüchternden Erfahrung mit dem öffentlichen Wohnungswesen einerseits und dem weltweiten Trend zur Privatisierung desselben andererseits beschlossen, das bisher praktisch ausschließlich staatliche Wohnungswesen zu privatisieren. Die bisherigen Mieter konnten zu sehr günstigen Konditionen ihre Wohnung kaufen. Diese Transformation war in den Städten bereits 2002/03 zu einem Anteil von über 80 Prozent abgeschlossen. So schuf die Privatisierung erstmals die Möglichkeit, Neubauten massiv zu erhöhen. Das sorgte für einen ersten Aufschwung in allen Bauformen: vom Wohnungsbau, über den Industrie- bis hin zum Infrastrukturbau.

Für das Ausmaß des anschließenden Booms im Wohnungsbau waren nicht Renovation und Restrukturierung, sondern der Neubau zentral. Die Kombination mit dem Steuersystem oder der Finanzpolitik waren dabei wiederum von ausschlaggebender Bedeutung. Für die Gemeinden und Präfekturen war der Landverkauf praktisch die einzige Möglichkeit, sich zusätzliche Finanzen zu verschaffen. Dadurch hatten sie allen Anlass, Immobilien-Entwicklern große zusammenhängende Grundstücke zu verkaufen. Nicht selten war und ist damit verbunden, vorher die bisherigen Grundeigentümer und Häuserbesitzer zu enteignen oder zu vertreiben. Gemäß Schätzungen wurden zwischen 2006 und 2014 jährlich 4 Millionen Bauern zwangsexpropriiert. Dabei wurden ihnen nur geringe oder sogar keine Entschädigungen gezahlt, während die Einnahmen aus den Landverkäufen enorm hoch waren. Waren diese Grundstücke einmal verkauft, gab es für die neuen Eigentümer allen Anlass, mit Projekten und der Bautätigkeit zu beginnen. Infrastrukturen eingeschlossen.

Automobilisierung: Die Durchsetzung des Automobils auf einer breiten Basis ist eine zeitlich fast kongruente, kürzliche Entwicklung. Es gab bereits vor 2000 eine Automobilproduktion in China, aber sie war absolut unbedeutend. Die Automobilproduktion setzte mit dem Abkommen zum WTO-Beitritt auf großer Basis ein. Dieses Abkommen regelte die Beziehungen, wie die ausländischen Autohersteller auf dem Binnenmarkt operieren können. Erfordert sind Joint-Ventures mit lokalen, meist staatlichen Unternehmen, bei denen diese eine Mehrheit der Aktien halten. Die ausländischen Hersteller übernehmen die operative Führung. Diese Konstruktion war für eine Anlaufzeit von wenigen Jahren in Aussicht gestellt, hat sich aber bis heute verfestigt. Aufgrund hoher Importzölle und Mengenbegrenzungen spielen Importe nur eine untergeordnete Rolle bei den Verkäufen, genauso wie bisher kaum chinesische Fahrzeuge exportiert werden.

Der ganze große Kick-off kam aber mit dem Infrastrukturprogramm, welches 2009/10 aufgelegt wurde. Da wurde eine enorme automobile Infrastruktur aufgebaut, mit allen Kopplungs-, Multiplikator- und Rückkoppelungseffekten. Es wurden Autobahnen, Straßen, Brücken, Tunnels, Fußgängerzonen, Tankstellen gebaut, Verkaufslokale der Hersteller eingerichtet, Werkstätten eröffnet, und natürlich die Automobilproduktion mit allen Vorleistungen enorm heraufgefahren. Innerhalb weniger Jahre ist China zum weltgrößten Markt und Produzenten von Automobilen geworden – dies mit weitem Abstand zu den USA oder Europa. 2008/09 betrug die jährliche PKW-Produktion noch rund 6.5 Millionen, etwas mehr als in Deutschland. 2017 wird sie, die Zahlen bis September aufs Jahr hochgerechnet, 26 Millionen Fahrzeuge erreichen. China ist somit in einem Prozess wie die USA von den 1940er bis in die 1970er Jahre, Japan oder Europa von den 1960er bis in die 1990er Jahre. Enorme Bautätigkeit für diese Infrastruktur, verbunden mit einer fieberhaft sich ausdehnenden Automobilproduktion und allen damit verbundenen Kopplungseffekten.

Die Fiskalreform von 1994 hatte dazu die Voraussetzung geschaffen, dass mit wachsenden Steuereinnahmen lokaler Behörden und Präfekturen enorme Infrastrukturausgaben in diesen Regionen möglich wurden. Die Zentrale verlor die Kontrolle über die Investitionstätigkeit in dieser Region, war aber auch nicht veranlasst, das überbordende Wachstum zu kontrollieren oder zu korrigieren. Das enorme Bevölkerungswachstum, das völlig auf den Osten Chinas konzentriert war, hat einerseits für einen anhaltenden Nachschub williger und billiger Arbeitskräfte gesorgt, und andererseits gewaltige kumulative Investitionseffekte, räumlich konzentriert auf einen relativ schmalen Streifen im Osten des Landes gezeitigt.

Globale Finanzkrise förderte Infrastruktur durch neue Kreditformen

All das änderte sich in der großen Finanzkrise von 2008/09. Die chinesische Führung geriet ob der drohenden schweren Absatzkrise in den Hauptmärkten in Panik. Aus der Grafik 1 zu den Export- und Investitionsquoten geht hervor, dass zum damaligen Zeitpunkt die Exportquote, gemessen an den Exporten von Gütern und Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt, bei fast 40 Prozent lag. Doch nicht nur das: Auch die Investitionen waren schwergewichtig auf die Exportregionen konzentriert. Dies war eine natürliche Folge der Tatsache, dass die Exporte vor allem von den multinationalen Unternehmen in den Sonderwirtschaftszonen getragen wurden. Partei und Regierung ergriffen Maßnahmen, um die Binnenkonjunktur zu stimulieren und auch die einseitige Exportlastigkeit des Wachstumsmodells zu korrigieren. Das war sehr effektiv, zog aber tiefgreifende Strukturveränderungen nach sich. Die Investitionsquoten machten nochmals einen Sprung, von 38 Prozent im Jahr 2008 auf Niveaus über 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seither.

Doch diese Wachstums- und Investitionsexplosion kommt zu einem hohen Preis, nämlich einem enormen, ebenso präzedenzlosen Kredit- bzw. Schuldenwachstum. Dabei ist nicht die ganze Periode seit 1980 problematisch oder betroffen, sondern vor allem jene seit 2009. Vorher hatte China ein traditionelles Bankensystem, bei dem die Behörden vieles unter Kontrolle hatten. Die staatlichen Banken vergaben Kredite, und das Publikum musste mangels Anlage-Alternativen Depositen bei den Banken halten. Dabei hatte das System enorme Puffer und Sicherheiten: Den Banken waren sehr hohe Unterlegungssätze in der Form von Mindestreserven vorgeschrieben. Sie mussten 20 Prozent und mehr ihrer Depositen als liquide Reserven bei der chinesischen Zentralbank halten. Die Bank of China konnte die Kreditvergabe, neben den Zinssätzen, auch durch Variationen dieser Mindestreservesätze steuern. Mit den Reformen der Banken im Gefolge der asiatischen Krise Ende der 1990er Jahre wurde außerdem der Kreditvergabeprozess vertikalisiert, d.h. der Kontrolle lokaler Behörden entzogen. Im Effekt war der Anteil fauler Kredite an den Bankbilanzen dadurch signifikant zurückgegangen, in der Größenordnung von 30 Prozent Ende der 1990er Jahre auf rund 2 Prozent in den 2000er Jahren.

Durch das 2009 beschlossene Investitionsprogramm verlagerte sich der Schwerpunkt der Entscheidungsmacht zu den regionalen und lokalen Behörden. Nur diese konnten schnell Investitionsprojekte evaluieren und hochfahren. Die Periode nach 2008 sah deshalb eine Dezentralisierung der Investitionsentscheidungen – mit sehr viel Spielraum von lokalen und regionalen Körperschaften. Die Zentrale befreite sie nicht von Zwängen eines ausgeglichenen Budgets, öffnete ihnen aber eine Lücke, die bis heute nicht geschlossen ist. Die regionalen oder lokalen Behörden traten nicht direkt als Kreditnehmer auf. Sie gründeten vielmehr lokale Zweckgesellschaften (engl. Local Financing Vehicles, kurz LFV). In diese übertrugen sie Land – und dieses Land diente nachher als Sicherheit für die Kreditaufnahme. Als Kreditnehmer traten also die LFV auf – staatliche off-balance sheet-Vehikel. Zusätzlich waren diese oft noch mit Garantien der Lokalbehörden oder Präfekturen versehen. Die Infrastruktur-Maßnahmen wurden fortan nicht mehr nur aus dem laufenden Budget, sondern von diesen Zweckgesellschaften betrieben.

Zum zweiten dehnte sich das Schwergewicht der wirtschaftlichen Aktivität von den Ostküste und den küstennahen Gebieten auch ins Innere des Landes aus. Vor allem zurückgebliebene Provinzen und Regionen, Tier-2, -3 und -4 Städte expandierten oder wurden aus dem Boden gestampft. Das war nur möglich, weil bewusst auf die strikte Kontrolle der Finanzen durch die Zentrale verzichtet wurde. Nur so konnten relativ arme, finanzschwache Gebiete und Städte stark expandieren.

Zum dritten änderte damit verbunden die Form der Kreditvergabe. Diese Projekte der LFV wurden nicht mehr allein oder vor allem durch Bankkredit finanziert, sondern durch Ausgabe von Wertschriften, welche über die staatlichen Banken als Vertriebskanal an die Kunden abgesetzt wurden. Das ist die Natur des chinesischen Schattenbank-Systems. Die Bankkunden zeichneten verschiedene Formen von Wertpapieren, sogenannten ‚wealth-managment products’, meist Kurzläufern mit Laufzeiten von 12 Monaten oder etwas mehr. Sie sind mit viel höheren Zinsen versehen als auf den Depositen der staatlichen Banken erhältlich sind. Diese chinesische Form der Verbriefung führte dazu, dass die indirekte Finanzintermediation rasch an Boden gewann. Die hohen Zinsen wirkten wie ein Magnet auf die bisher mit miserablen Zinsen abgespeisten Bankkunden. Wie in den USA waren die Banken nicht verpflichtet, Liquiditäts- oder gar Eigenkapitalreserven dagegen zu halten. Sie sind ja nicht bilanzwirksam.

Es trat eine Form endogener Kredit- und Geldschöpfung auf, welche sich der Zentralbank entzog und zu einer Explosion der Kreditvergabe führte. Lokale Zweckgesellschaften und daran angehängte Immobilien-Entwicklungsgesellschaften wurden gegründet. Diese nahmen große Kredite auf, mit dem Stempel irgendeiner lokalen Behörde versehen. Die für die Bilanzpositionen gültigen Vorschriften für die Prüfung und Kontrolle der Sicherheiten sind im Schattenbanksystem undurchsichtig. Den Kunden dürfte im Übrigen nicht bewusst sein, dass zumeist keine explizite zentralstaatliche Garantie besteht, sehr wohl aber eine implizite durch die Tatsache, dass diese Produkte über die staatlichen Banken vertrieben wurden und oft Garantien lokaler oder regionaler Körperschaften bestehen. Daher werden sie als sicher angesehen. Um diese Dualität der Kreditvergabe, einerseits über den klassischen Bankkredit, andererseits über das Schattenbankensystem, einzufangen, hat die chinesischen Zentralbank einen Indikator entwickelt, den sie Total Social Financing (abgekürzt TSF) nennt. Die Kredite sind seither relativ zum Bruttoinlandsprodukt steil angestiegen.

Diese Zahlen sind nur als Richtwerte und in der Tendenz zu nehmen. Denn nicht alles, was effektiv zum Schattenbanksystem gehört, kann so leicht eingefangen werden. Per 2017 ist im Übrigen nochmals ein Sprung erfolgt, die meisten Beobachter gehen inzwischen von Größenordnungen über 300 Prozent Verschuldung aus. Das ganz starke Kreditwachstum im Schattenbank-System erfolgte in den Jahren bis 2012. Seither expandierten die traditionellen Bankkredite stärker.

Man muss sich dies in einer Analogie zum Euro vorstellen. Die Behörden verschiedener Stufen – Gemeinden und Städte, Bezirke, Provinzen, Staaten – werden aufgefordert, möglichst viel in die Infrastruktur zu investieren. Sie gründen Zweckgesellschaften und übertragen Land in diese Finanzierungsvehikel. Diese emittieren verschiedene Wertschriften, versehen diese mit einem Garantie-Stempel der Stadt, und die europäischen Banken vertreiben sie über ihr gesamtes Vertriebsnetz, wobei sie äußerst aggressiv auftreten. Es sind Produkte mit hohen Zinsen und deshalb guten Abschlussprovisionen für den Verkäufer – die Compliance bleibt jedoch oberflächlich. Die Frage der ultimativen Garantie ist nirgends geklärt und die Kreditlaufzeiten sind relativ kurz. Sodass sie immer wieder aufgelegt werden können, aber auch müssen. Genau so funktioniert das chinesische Schattenbanksystem.

Durch die Kreditvergabe und anschließende Transaktionen landet das Geld wieder als Depositen bei Geschäftsbanken, welche ihrerseits ihre Kreditvergabe ausdehnen können – unter der Einschränkung, dass sie die von der Zentralbank vorgeschriebenen Reservesätze einhalten müssen. Effektiv kommt dies einer massiven Lockerung der Reservesätze und der Kreditstandards gleich.

Es mag in einzelnen Fällen Betrug und Diebstahl gegeben haben, aber im Allgemeinen wurde mit den Krediten fieberhaft gebaut und investiert. Es wurden Infrastrukturen aller Art umgesetzt – Flughäfen, Häfen, Autobahnen, Straßen, Brücken, Kraftwerke, Zuleitungen für neue Fabrikareale, Wohnviertel. Und es wurde ganze neue Städte mit gemischter Nutzung und Wohnsilos erstellt.

Nur wurde von allem viel zu viel gebaut – teilweise auch am falschen Ort. An einem Fluss ein moderner neuer Hafen, aber 20, 40 70 km aufwärts jeweils ein weiterer, weil die dortigen Behörden die gleiche Idee hatten, Wirtschaftsförderung zu betreiben – ebenso bei Flughäfen und anderen Infrastrukturen. Ganze Riesenstädte und Stadtviertel, die am Abend dunkel bleiben. Riesige Fabrikareale, welche nie mit Leben gefüllt werden. Einkaufszentren, Business Center, die leer bleiben. Züge, Straßen und Brücken ins Niemandsland.

Doch das enorme Tempo des Wirtschaftswachstums führt auch dort zu Ineffizienz und Fehlallokation, wo die Megastädte pulsieren und richtiggehend boomen. Praktisch überall wurden ringförmig um die Städte in Hast immer wieder neue Fabriken und Kohlekraftwerke errichtet. Mit dem Effekt, dass sich bei Wind aus jeder Richtung eine Staubwolke aus den Fabrik- und Kraftwerksschloten über die Riesenstädte legt. Zum gut ausgebauten öffentlichen Verkehr breitete sich zusätzlich seit der Jahrtausendwende der Privatverkehr explosionsartig aus, vor allem in und rund um die Mega-Cities. Der Effekt ist, dass die Luft verschmutzt und die Lebensumstände unhaltbar geworden sind. Erst kürzlich errichtete Fabriken und Kohlekraftwerke müssen geschlossen und verlagert werden, weil der Smog eine lebensfeindliche Luft schafft.

Vom exportgeleiteten zum schuldengetriebenen Wachstumsmodell

Chinas Wachstumsmodell war bis 2008 nicht nur exportgeleitet, sondern exportorientiert. Die Investitionen konzentrierten sich auf die Ostküste, wo die Sonderwirtschaftszonen und Exportzentren lagen. Im Zeitraum vom WTO-Beitritt 2001 bis 2008 waren die Exportmöglichkeiten aus der WTO-Zugehörigkeit, der Zustrom der Wanderarbeiter sowie die enorme reale Abwertung der Währung die wichtigsten Treiber. Eine zunehmend expansive Finanzpolitik aus ersten Landverkäufen und erhöhten Steuereinnahmen sowie die Privatisierung des Bau- und Immobiliensektors unterstützten die Konjunktur.

2009 wurde Chinas Wachstumsmodell innerhalb weniger Monate komplett umgestellt. Primäre Triebkraft wurden die Investitionen. Sie profitierten von einer einzigartigen Kombination äußerst expansiver Finanz- und Geldpolitik. Die Städte, Gemeinden und Präfekturen waren de facto von jeglichem Zwang zur Budgetkontrolle befreit, wenn sie Land an Zweckgesellschaften verkauften und Infrastrukturinvestitionen über das Schattenbanksystem finanzierten.

Damit wurde die regionale Verteilung ausgeglichener. Auch im Westen und im Zentrum des Landes entflammte eine fieberhafte Bautätigkeit, ohne dass bereits eine genügende Steuerbasis vorhanden wäre. Zusätzliche Treiber des Wirtschaftswachstums wurden die Automobilisierung des Landes sowie die fortgesetzte und nun überschäumende Investitionstätigkeit in den Ostküstenzentren. So entstand die steile Zunahme der Verschuldung, die in der Statistik vor allem als Verschuldung von Unternehmen ausgewiesen wird. De facto konzentriert sie sich auf die staatlichen Unternehmen der Schwerindustrie als Bauzulieferer sowie auf den Bau- und Immobiliensektor.

Die chinesische Führung will im Prinzip an diesem Wachstumsmodell auf längere Frist festhalten. Die staatliche Förderung von Infrastruktur-Projekten und selbst lokaler sowie regionaler Wirtschaftsentwicklung ist immer noch ungebrochen. Die Partei hält weiterhin am Ziel der weitgehenden bis fast vollständigen Urbanisierung innerhalb eines kurzen, historischen Zeitraums fest. Bis 2026 sollen weitere 250 Millionen Menschen vom Land in die Riesenstädte migrieren, allerdings teilweise anders als bisher verteilt – nämlich nicht mehr allein auf die Ostküste konzentriert. Giga-Cities sind primär an der Ostküste geplant, welche bisherige Zentren entlasten und deren komplexe Funktionen entbündeln. Damit verbunden soll eine ökologische Wende erreicht werden.

Bei an sich unveränderter Gesamtorientierung will die Parteiführung aber in einem zentralen Punkt umsteuern. Sie will die Wohnpolitik ändern. Parteichef Xi Jinping deutete dies am Kongress der Parteidelegierten mit dem Satz an, Wohnungen seien zum Leben und nicht zum Spekulieren da. Das wäre, wenn umgesetzt, eine erhebliche und konfliktträchtige Kehrtwende. Denn Chinas binnenwirtschaftliches Wachstumsmodell beruht bisher effektiv auf kreditfinanzierter Immobilienspekulation.


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