Der EU-Gipfel hat grünes Licht für eine Verlängerung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen der Ukraine-Krise gegeben. Die Staats- und Regierungschefs hätten die Frage "geeint" entschieden, teilte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Donnerstagabend im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Diplomaten zufolge sollen die Strafmaßnahmen weitere sechs Monate bis Ende Juli kommenden Jahres in Kraft bleiben. Moskau hatte zuvor die Hoffnung geäußert, dass die EU und Russland über einen Abbau der Sanktionen ins Gespräch kommen könnten.
Das Institut für die Weltwirtschaft Kiel hat zu diesem Thema eine interessante Studie veröffentlicht, die zeigt: Deutsche Unternehmen sind von den Sanktionen wesentlich stärker betroffen als die anderen westlichen Großmächte USA, Großbritannien und Frankreich. Die Studie zeigt, dass es bei den negativen Folgen vor allem um die eingeschränkten Möglichkeiten der Finanzierung von Exporten geht. Außerdem stellt die Studie fest, dass die Einbrüche bei den Exporten nicht auf anderen Märkten wettgemacht werden konnten. Russland trägt der Studie zufolge 60 Prozent der Lasten, die sanktionierenden Staaten 40 Prozent. Von diesen 40 Prozent entfallen 90 Prozent auf die EU-Staaten.
Die Schlussfolgerungen des IfW zu den Sanktionen:
Handels- und Finanzsanktionen sind ein häufig verwendetes Instrument der Außenpolitik. Sie sollen der Wirtschaft des Ziellandes durch Barrieren im Waren-, Kapital- und Personenverkehr schaden, um damit politischen Druck auszuüben. In ihrer modernen Form („Smart Sanctions“) versprechen sie eine maßgeschneiderte Maßnahme mit der Möglichkeit der Feinabstimmung und einer schnellen Rückkehr zum normalen Zustand.
Während die Erfolgsbilanz von Sanktionen hinsichtlich der politischen Ziele unklar ist (Drezner 2011), haben sie jedoch für private Akteure in den sanktionierenden Ländern einen Preis, der oft übersehen wird (z.B. Hufbauer et al. 2009). Durch die Beschränkung grenzüberschreitender Transaktionen schaden sie inländischen Unternehmen, die im Zielland tätig sind, was derzeit in Bezug auf das Sanktionsregime gegenüber der Russischen Föderation von besonderem Interesse ist.
In einer aktuellen Studie von Crozet und Hinz (2016) untersuchen wir die Auswirkungen auf die Exporte der Russischen Föderation und aller großen Volkswirtschaften, unabhängig davon, ob sie sich an den Sanktionen beteiligen oder nicht. Darüber hinaus identifizieren wir am Beispiel französischer Unternehmen die Mechanismen, die dem Gesamteffekt auf einzelwirtschaftlicher Ebene zu Grunde liegen.
Sanktionen gegen Russland und die russische Reaktion
Nach der russischen Beteiligung an separatistischen Bewegungen in der Ostukraine und der Annexion der Krim verhängten 37 Länder, darunter alle EU-Mitgliedsländer und die Vereinigten Staaten, ab März 2014 Sanktionen gegen die Russische Föderation.
Diese wurden im Frühsommer 2014 weiter verschärft. Im Juli verhängten die EU und andere Länder, vor allem als Reaktion auf den Abschuss eines Zivilflugzeugs in der Ostukraine, strikte Finanzsanktionen gegen eine Reihe russischer Finanzinstitute und Industriekonzerne.
Russland reagierte daraufhin mit einem Embargo für bestimmte Lebensmittel und Agrarerzeugnisse aus sanktionierenden Ländern. Durch die Intensität der wirtschaftlichen Beziehungen vor den Sanktionen und die große Zahl der beteiligten Länder, die rund 55 Prozent der Weltproduktion ausmachen, ist diese Episode beispiellos und besonders instruktiv.
Globale Auswirkungen von Sanktionen und Gegenmaßnahmen
Um die Auswirkungen der Sanktionen auf den Handel abzuschätzen, wird eine kontrafaktische Situation ohne Sanktionen in einem strukturellen Gravitationsmodell simuliert. Die Intuition ist, Handelsströme ohne Sanktionen vorherzusagen und diese mit den unter Sanktionen beobachteten Werten zu vergleichen.
Unser Modell berücksichtigt bei der Prognose der bilateralen Ströme in einer hypothetischen Welt ohne Sanktionen Veränderungen der russischen Importkapazität, etwa aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise und der Abwertung des Rubels. Als Datenbasis für die Schätzung und Simulation benutzen wir monatliche bilaterale Daten von UN COMTRADE.
Die Gesamtkosten der Russland-Sanktionen, gemessen als entgangener Handel, beziffern wir auf 114 Millarden US-Dollar vom Beginn des Konflikts bis Ende 2015, wobei rund 70 Mrd. US-Dollar oder 61 Prozent des gesamten Exportverlustes auf die Russische Föderation entfielen. Der Exportverlust für sanktionierende westliche Länder beläuft sich auf rund 44 Millarden US-Dollar, dies entspricht rund 0,4 Prozent der Exporte dieser Länder und etwa 0,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts.
Wichtig ist hierbei, dass Handelsverluste bei Produkten, die unter das russische Embargo fallen, mit gut 10 Millarden US-Dollar nur einen kleinen Teil des Gesamtverlustes ausmachen. Der größte Teil des Effektes auf die westlichen Exporte ist also „Friendly Fire“, d. h. eine Folge der westlichen Maßnahmen.
Dieses Ergebnis hat direkte Auswirkungen auf die politische Debatte in den sanktionierenden Ländern. Häufig beziehen sich Argumente gegen bestimmte Sanktionsmaßnahmen nur auf mögliche Vergeltungsmaßnahmen oder die Reduktion von Importen.
Stattdessen zeigt sich, dass – zumindest im Falle der Russlandsanktionen – die Sanktionen und der diplomatische Konflikt als solcher vor allem Verluste beim Export verursacht haben, die nicht Folge von Vergeltungsmaßnahmen, sondern der Politik der westlichen Länder sind.
Die Europäische Union trägt 90 Prozent des gesamten entgangenen Handels der sanktionierenden Länder und 93 Prozent des entgangenen Handels mit Produkten, die nicht unter das russische Embargo fallen.
Die Auswirkungen sind jedoch nicht gleichmäßig auf die Länder verteilt (Abbildung K1-1). Gemessen am jeweiligen Handelsvolumen mit Russland fällt der Handelsverlust in Norwegen und Australien am stärksten aus, wobei der realisierte Export bis zu 39 Prozent unter dem geschätzten Export nach Russland liegt.
Im Vergleich zu den Gesamtausfuhren sind jedoch Finnland (Handelsverlust von 1,7 Prozent), Polen (0,9 Prozent) und Deutschland (0,8 Prozent) am stärksten betroffen.
Die deutschen Exporte sind im Durchschnitt um rund 727 Millionen Dollar pro Monat niedriger als bei dem kontrafaktischen Szenario ohne Sanktionen, wobei der entgangene Handel hauptsächlich auf Produktgruppen entfällt, die nicht dem Embargo unterliegen. Der deutsche Anteil am gesamten entgangenen Handel der sanktionierenden Länder beträgt somit fast 40 Prozent, während andere große geopolitische Akteure wie das Vereinigte Königreich (7,9 Prozent), Frankreich (4,1 Prozent) und die Vereinigten Staaten (0,6 Prozent) weitaus weniger betroffen sind.
Einzelne Länder wie Litauen und Estland haben von den Sanktionen offenbar sogar profitiert. Zudem war Japan von dem als Vergeltungsmaßnahme ausgesprochenen Importverbot für bestimmte Güter nicht betroffen (obwohl sich das Land an den westlichen Sanktionen beteiligt hatte) und exportierte deutlich mehr dieser Waren nach Russland als vor dem Embargo, wenngleich der Zuwachs absolut gesehen gering war und die Exportverluste bei allen anderen Gütergruppen keinesfalls wettmachen konnte.
Warum sind Produkte betroffen, die nicht dem Embargo unterliegen? Um die Mechanismen auf Unternehmensebene zu verstehen, werden die Auswirkungen des Sanktionsregimes anhand detaillierter monatlicher Zolldaten französischer Unternehmen analysiert.
Es zeigt sich, dass mit der Einführung der Sanktionen ein deutlicher Rückgang der Zahl der auf dem russischen Markt tätigen Unternehmen sowie des nach Russland exportierten Wertes der verbliebenen Unternehmen zu verzeichnen ist. Neben dem Gesamteffekt stellt sich die Frage nach den Mechanismen, die hinter dem starken Rückgang der Exporte von Produkten stehen, die nicht vom Embargo betroffen sind.
Es bieten sich vor allem zwei Erklärungsansätze für das Entstehen des „Friendly Fire“ an: Eine Änderung der Einstellung der russischen Verbraucher zu französischen Produkten und eine plötzliche Zunahme des Länderrisikos, bedingt durch politische, rechtliche und finanzielle Instabilität, die durch die Sanktionen, aber auch durch den Konflikt selbst hervorgerufen wird. Eine mögliche Verschiebung von Verbraucherpräferenzen kann – im Gegensatz zu aktueller Forschung zu Konsumtenboykotten (Heilmann 2016) – den Rückgang der Exporte französischer Produkte in die Russische Föderation in diesem Fall nicht erklären. Produkte, die durch das Branding als „französisch“ identifiziert werden können, waren nicht anders betroffen als andere vergleichbare Güter. Stattdessen sind Produkte besonders stark betroffen, die Handelsfinanzierungsinstrumente intensiv nutzen.
Die Literatur zur Handelsfinanzierung zeigt, dass bestimmte Warengruppen in der Handelsstatistik Handelsfinanzierungsinstrumente besonders stark in Anspruch nehmen, und dass dies insbesondere für außergewöhnlich große Sendungen gilt (Niepmann et al. 2015 und Demir et al. 2014).
Es zeigt sich, dass die Exportströme von Produkten, die mit „Letter of Credit“-Finanzierungen finanziert werden, eine wesentlich stärkere Wirkung der Sanktionen erfahren haben als andere Produkte. Maßgeblich dürfte hierfür gewesen sein, dass die finanziellen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den sanktionierenden Ländern durch westliche Finanzsanktionen teilweise erheblich eingeschränkt wurden, so dass die betroffenen Finanzinstitute nicht mehr in der Lage waren, attraktive Handelsfinanzierungsdienstleistungen anzubieten.
Kaum Handelsumlenkung
Schließlich lässt sich zeigen, dass die französischen Exporteure, die direkt oder indirekt von den Sanktionsmaßnahmen betroffen waren, ihre Verluste insbesondere kurzfristig nicht durch die Umleitung ihrer Auslandsverkäufe an andere Bestimmungsorte, kompensieren konnten.
Im Gegensatz zu anderen Studien, die zum Teil finden, dass Unternehmen in sanktionierten Volkswirtschaften ihre Umsätze massiv auf andere Märkte umleiten (Haidar 2014), stellen wir fest, dass nur ein Bruchteil der Verluste auf diese Weise wettgemacht wird.
Unternehmen, die direkt dem russischen Embargo ausgesetzt sind, exportierten durchschnittlich 24 Prozent weniger als vergleichbare Unternehmen, fast genau so viel wie ihr durchschnittlicher Anteil am russischen Markt an ihren Gesamtexporten (26 Prozent) vor den Sanktionen. Unternehmen, die zuvor auf dem russischen Markt aktiv waren, aber keine Embargoprodukte exportierten, verzeichneten einen Rückgang ihrer Gesamtexporterlöse um 12 Prozent. Ihre jeweiligen Gesamtausfuhrmengen gingen weniger stark zurück, was auf niedrigere Verkaufspreise für die Exporte schließen lässt, die tatsächlich auf andere Märkte umgeleitet werden konnten.