Politik

USA im Abseits: Türkei und Russland kooperieren in Syrien

Lesezeit: 6 min
06.10.2016 02:06
Unbeachtet von der Weltöffentlichkeit verfolgt die Türkei in Syrien ihre militärischen Ziele, um einen Kurden-Staat zu verhindern. Das NATO-Land kooperiert eng mit den Russen, während die USA genau jene Kurden bewaffnen wollen, gegen die die Türkei kämpft.
USA im Abseits: Türkei und Russland kooperieren in Syrien
Die Türkei kämpft in Syrien mit Duldung Russlands. Türkisch kontrollierte Gebiete in grün.

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Vor einem Besuch von Kremlchef Wladimir Putin in der Türkei hat der russische Präsident mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan zu einer Deeskalation in Syrien aufgerufen. Putin und Erdogan hätten in einem Telefonat am Mittwoch die Notwenigkeit eines friedlichen politischen Prozesses in dem Bürgerkriegsland betont, teilte der Kreml in Moskau mit.

Putin wird am Montag in der Türkei erwartet. Bei dem Treffen in Istanbul solle es unter anderem um die geplante Gaspipeline Turkish Stream durch das Schwarze Meer gehen, hieß es. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei im November 2015 im Grenzgebiet zu Syrien hatte Moskau die Beziehungen zu Ankara für Monate auf Eis gelegt.

Das ostentative gemeinsame Auftreten von Erdogan und Putin kommt für die US-Regierung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: Nach dem Putsch-Versuch können die Amerikaner kaum Einfluss auf Erdogan nehmen. Der türkische Präsident verfolgt seine eigene Agenda und hat auf die Gelegenheit gewartet, einer osmanischen Tradition der Gebietsausweitung näherzutreten. Die Lage ist besonders skurril, weil die Nato-Mitglieder USA und Türkei offenkundig unterschiedliche Interessen verfolgen. Die amerikanischen Geheimdienste unterstützen verschiedene Söldner, vor allem die al-Nusra und die YPG. Russland kämpft gegen den IS und die al-Nusra, wie Außenminister Sergej Lawrow erst vr einigen Tagen unmissverständlich klargemacht hat. Die Türkei sieht die YPG als Terroristen an. Da einflussreiche Neocon-Magazin Foreign Policy beklagt, dass die US-Politik wegen des Präsidentschaftswahlkampfs faktisch handlungsunfähig ist. US-Präsident Barack Obama lehnt den von den Geheimdiensten und Teilen des Pentagon geforderten direkten Kriegseintritt ab. 

Die Türkei nützt das Chaos in Washington, um einen Kurdenstaat im Norden Syriens ein für allemal zu verhindern. Dies geschieht offenkundig mindestens mit der Duldung Russlands. Im militärischen Berich arbeiten die beiden Staaten allerdings eng zusammen. Das betrifft vor allem den wichtigsten Teil der türkischen Militär-Aktivitäten, die „Operation Euphrats Shield“.

Auslöser der „Operation Euphrats Shield“ war nicht nur, dass die Terror-Miliz ISIS insbesondere Erdogan ab dem Jahr 2014 zum „Ungläubigen“ und „Diener der Kreuzritter“ erklärt hat, um anschließend über Syrien die Türkei anzugreifen, sondern auch die Tatsache, dass die Kurden-Milizen der YPG die gesamte türkisch-syrische Grenzregion für sich beanspruchten, um einen eigenen Kurdenstaat zu gründen. Allerdings sind die Kurden in Nordsyrien in der Minderheit. Das Gebiet wird hauptsächlich von Arabern besiedelt.

Die YPG wollte einen kurdischen Korridor von Ostsyrien bis nach Latakia im Westen Syriens schaffen, was zu einer automatischen Spaltung der Türkei geführt hätte. Während ISIS eine Bedrohung für die innere Sicherheit der Türkei ist, stellen die YPG-Milizen eine existenzielle Gefahr für die Türkei dar.

Um den kurdischen Korridor zu verhindern, hat die Türkei Söldnertruppen aus Turkmenen und Arabern ausgehoben, um sie in Nordsyrien einzusetzen und eine Schutzzone zu gründen. Am 24. August startete die „Operation Euphrats Shield“ und die Türkei rückte mit Panzern nach Nordsyrien vor, um sich wie ein Keil zwischen die kurdischen Gebiete im Osten und Westen vorzuschieben.

Die angepeilte Schutzzone in Nordsyrien soll nicht nur einen eigenen Kurdenstaat verhindern, sondern auch eine sichere Zone für Flüchtlinge werden. Die Türkei hat angesichts des fortlaufenden Flüchtlingsstroms vor, in jener Schutzzone Siedlungen aufzubauen, um dort die Flüchtlinge anzusiedeln.

Die „Operation Euphrates Shield“ wird von Russland und Syrien billigend in Kauf genommen. Sowohl Russland als auch Syrien sind gegen die Gründung eines Kurdenstaats in Nordsyrien, da dies zwangsläufig zu einer Spaltung Syriens führen würde. Die USA sind sich über jene mögliche Kettenreaktion im klaren und setzen deshalb auch bei den Kurden an.

Obwohl der syrische Luftraum von Russland kontrolliert und überwacht wird, lassen die Russen türkische Kampfjets Luftschläge gegen ISIS und die YPG in Nordsyrien ausführen. Die Kampfjets sind seit dem 24. August aktiv.

Klare ethnische Trennlinien lassen sich im Syrien-Konflikt nicht ausmachen. So steht die Mehrheit der Araber und Turkmenen hinter der Regierung in Damaskus. Das schließt die arabischen Christen im Land mit ein. Die Kurden hingegen fordern mehrheitlich eine Autonomie. Sie werden massiv von den USA unterstützt. Bei den einzelnen Söldnerverbänden handelt es sich um Personen, die sich aus dem Ausland kommen, oder aber mit dem Söldnertum ihre Existenz sichern. Die Beteiligung der heimischen Bevölkerung an dem bewaffneten Konflikt ist gering.

Am Dienstag wurde der Kommandeur der Sultan Murad Brigade - eine syrisch-turkmenische Söldnertruppe, die von der Türkei unterstützt wird -, Ali Salih, im turkmenischen Dorf Barah im Norden von Aleppo von einer Mine getötet, berichtet die Zeitung Milliyet. Die pro-türkischen Söldner wollen im Rahmen der „Operation Euphrates Shield“ die symbolträchtige Stadt Dabiq von ISIS befreien. Dabei werden die Söldner durch Raketenwerfer der türkischen Armee unterstützt.

In der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien ist in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch zu schweren Gefechten zwischen der türkischen Arme und ISIS-Kämpfern gekommen, berichtet Reuters in seinem englischsprachigen Dienst. Dabei sollen ein türkischer Soldat und 23 ISIS-Kämpfer ums Leben gekommen sein. Der Türkei ist es bisher gelungen, 980 Quadratkilometer in Nordsyrien unter Kontrolle zu bringen.

Nach Angaben von Haberturk sollen die Gefechte im Rahmen der „Operation Euphrates Shield“ exakt im Osten von El-Rai im Gebiete Ziyara stattgefunden haben.

Die Zeitung Cumhuriyet berichtet, dass die pro-türkischen Söldner der Sultan Murad Brigade und der Freien Syrien Armee (FSA) enorme Schwierigkeiten bei ihrem Vorstoß auf Dabiq hätten. Alleine am Dienstag hätten ISIS-Kämpfer 15 pro-türkische Söldner getötet und 35 weitere Söldner verletzt. Die pro-türkischen Söldner befanden sich auf den Weg nach Dabiq. Dies markiert den größten Tagesverlust seit Beginn der „Operation Euphrates Shield“ am 24. August.

Der turkmenische Kommandant der FSA, Taha Atrac, sprach mit dem staatlichen russischen Nachrichtensender Sputnik über die aktuelle Lage der „Operation Euhprates Shield“.

„Im Süden und Westen von El-Rai laufen die Gefechte mit ISIS unvermindert fort. Am Dienstagmorgen gab es eine Erhöhung der Gefechtsintensität. Im Dorf Barah toben heftige Gefechte. Barah wird derzeit von ISIS kontrolliert. Wenn es uns gelingen sollte, dieses Dorf einzunehmen, könnten wir direkt auf Dabiq vorstoßen. Es handelt sich derzeit um eine Entfernung von zwei Kilometer. Unsere aktuellen Verluste sind vor allem auf den Einsatz von ISIS-Scharfschützen zurückzuführen. ISIS hat in mehreren Gebieten Sprengfallen gelegt. Die türkische Luftwaffe unterstützt uns massiv bei unseren Vorstößen.“

Der türkische Sender Ulusal Kanal berichtet, dass die Befreiung von Dabiq sowohl aus ideologischen als auch aus taktischen Gründen wichtig sei. Dabiq sei das ideologische Zentrum von ISIS. Zudem gibt es dort eine hohe Konzentration von ISIS-Kämpfern. Aus taktischen Gründen kann die ISIS-Stadt Al-Bab nur dann befreit werden, wenn zuvor Dabiq befreit wird. Denn nur dann sei der Weg nach Al-Bab auch weitgehend abgesichert. Der türkische Geopolitiker Cahit Dilek sagte dem Sender, dass die „Operation Euphrates Shield“ nur dann erfolgreich abgeschlossen werden kann, wenn sich Ankara und Damaskus einigen und auch kooperieren.

Vergangene Woche hatte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zacharowa, in einem Interview mit Sputnik gesagt, dass es eine Tendenz gebe, wonach eine Kooperation zwischen Russland und der Türkei in Syrien konstruktiv verlaufen werden.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte fast zeitgleich, dass die Türkei „mehr als bereit“ sei, mit Russland zu kooperieren, berichtet die Hürriyet.

Am Dienstag sagte der türkische Premier Binali Yildirim, dass die Türkei im Verlauf der Operation in Nordsyrien die YPG-Kämpfer zum Rückzug in den Osten des Euphrats zwingen wird, berichtet die Hürriyet. Die Türkei verlangt einen kompletten Rückzug von den YPG-Kämpfern.

Das Pentagon hingegen besteht auf einer weiteren Bewaffnung der YPG, die der Türkei feindlich gegenüber stehen, berichtet Al-Monitor.

Am 24.09.2016 sagte der türkische Sicherheitsanalyst und ehemalige Soldat der türkischen Spezialeinheiten, Mete Yarar, dem Fernsehsender Habertürk, dass die USA unter keinen Umständen aufhören werden, die YPG zu bewaffnen und anzuführen. Die USA würden die YPG als eine Art Ersatzbodentruppen ansehen. Deshalb werden die YPG-Verbände auch von US-Spezialtruppen angeführt. „Die Amerikaner haben die YPG mit Panzerabwehrwaffen des Typs FGM-148 Javelin beliefert. Diese Panzerabwehrwaffe ist deshalb gefährlich, weil sie aufgrund ihrer speziellen Flugbahn den anvisierten Panzer nicht an den Seiten, sondern auf der Oberfläche der Fahrerhaube trifft, was der sensibelste Bereich eines Panzers ist. Die USA haben es immer abgelehnt, der Türkei diese Panzerabwehrwaffe zu liefern, doch die YPG bekommt sie. Wenn die Türkei sich auf großangelegte Gefechte mit der YPG einlässt, muss sie wissen, dass diese von US-Spezialtruppen angeführt werden. Die USA beliefern die YPG über ihre Luftwaffenstützpunkte in Kobani und Hasaka mit Waffen.“

Die Zeitung Cumhuriyet berichtet, dass es beim politischen Establishment in Washington zwei Blöcke gebe. Der eine Block plädiert für eine weitere Kooperation mit der YPG. Doch der andere Block sei nicht bereit, die Türkei für die YPG zu opfern und ist gegen eine weitere Aufrüstung der YPG. Die US-Korrespondentin der Zeitung, Asli Aydintasbas, berichtet, dass bei Hintergrundgesprächen mit Vertretern des politischen Establishments in Washington „unschöne Wörter“ in Bezug auf Erdogan fallen. Doch mittlerweile habe sich der Eindruck durchgesetzt, dass sie mit Erdogan kooperieren müssen – wenn auch ungewollt. In der kommenden Zeit werde sich Washington von der Abhängigkeit zur YPG verringern. Eine komplette Loslösung sei hingegen nicht zu erwarten.

Die Zeitung Habertürk berichtet, dass am 29. September im Süden von Dscharabulus drei YPG-Söldner von pro-türkischen Söldnern festgenommen wurden. Die drei YPG-Söldner wurden anschließend der türkischen Polizei in Kilis übergeben. Am 3. Oktober wurden die drei YPG-Söldner, die alle türkische Staatsbürger sind, vor Gericht gestellt und verurteilt. Die pro-türkischen Söldner wurden offenbar von der Türkei angewiesen, festgenommene türkische Staatsbürger auf syrischem Boden nicht eigenmächtig zu bestrafen oder zu töten, sondern der Türkei zu übergeben.

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