Das Europaparlament hat eine offizielle Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei für den Fall gefordert, dass die umstrittene Verfassungsreform in dem Land umgesetzt wird, berichtet AFP. Die EU-Kommission und der Rat der Mitgliedsstaaten müssten dann „unverzüglich“ handeln, verlangte das Parlament am Donnerstag in einer Entschließung.
Darin äußerte es harsche Kritik am Demokratieabbau in der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres. Die im Rahmen des Notstands ergriffenen Maßnahmen hätten „unverhältnismäßige und lange anhaltende negative Auswirkungen“ für viele Bürger und die Grundrechte im Lande.
Die mit großer Mehrheit angenommene Entschließung des Parlaments erinnert unter anderem an die Massenentlassungen und -inhaftierungen von Beamten, Richtern, Wissenschaftlern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten seit dem Putschversuch.
Besonders besorgt äußerte sich das Parlament über die Lage in dem vorwiegend von Kurden bewohnten Südosten der Türkei. Verschiedenen Berichten zufolge seien aus der Region zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 eine halbe Million Menschen vertrieben worden. Etwa 2000 Menschen seien bei Einsätzen der Armee getötet worden.
Die Türkei habe sich längst von Europa abgewandt, sagte der Vorsitzende der Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU). Die Beitrittsgespräche müssten gestoppt und durch einen „neuen Partnerschaftsprozess“ ersetzt werden. „Wir müssen fair und ehrlich miteinander umgehen und sollten uns nicht länger gegenseitig zum Narren halten.“
Der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff forderte Deutschland und die anderen EU-Staaten auf, das „starke Signal“ des Europaparlaments nicht zu ignorieren und die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Der Dialog mit der Türkei solle nicht abgebrochen, sondern auf eine „ehrliche Grundlage“ gestellt werden. Es könne nicht angehen, dass die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan „westliche Werte mit Füßen tritt und gleichzeitig Jahr für Jahr EU-Beitrittshilfen kassiert“.
Solange Präsident Erdogan die „brutale Verfolgung von Oppositionellen und unabhängigen Journalisten“ fortsetze, könne es keine Beitrittsgespräche geben, sagte die Ko-Vorsitzende der Grünen, Ska Keller.
Die geplante Verfassungsreform, der die Türken am 16. April per Referendum mit knapper Mehrheit zugestimmt haben, soll die Machtbefugnisse des Präsidenten deutlich ausweiten und die Unabhängigkeit der Justiz einschränken. Die Venedig-Kommission des Europarats, der angesehene Verfassungsexperten angehören, sieht darin eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Der türkische Europaminister Ömer Çelik kritisierte den Beschluss des EU-Parlaments scharf. Bereits am Mittwoch hatte das EU-Parlament damit begonnen, eine Debatte über den aktuellen Fortschrittsbericht zum Beitritt der Türkei zu führen.
Auf der Webseite des türkischen Europaministeriums wurde eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin schreibt Çelik: „Wir lehnen den Bericht des EU-Parlaments ab. Er ist nicht verbindlich. Wir werden den Bericht ohne eine Prüfung zurückweisen. Wir haben immer einen sehr großen Wert auf Objektivität und Parteilosigkeit gelegt. Zudem schreckten wir niemals vor Kritik zurück. Stattdessen haben wir immer versucht, Kritiken als Anlass zu Verbesserungen heranzuziehen. Doch dieser Bericht ist weit entfernt von diesen Maßstäben.“
Die Kritik des türkischen Europaministers richtete sich direkt an das EU-Parlament. Die regierungsnahe türkische Zeitung Stargazete titelt: „Harte Reaktion des Europaministers Çelik auf die Skandal-Entscheidung des EU-Parlaments“. Die oppositionelle Zeitung Sözcü titelt: „Kritische Abstimmung im EU-Parlament. Schock für die Türkei.“
Johannes Hahn, EU-Kommissar für Erweiterungsfragen, befindet sich aktuell in der Türkei und hatte sich am Donnerstagvormittag mit dem türkischen Premierminister Binali Yıldırım getroffen. Der staatliche türkische Sender TRT berichtet, dass das Treffen eine Stunde lang dauerte. Hahn setzt sich dafür ein, dass die EU und die Türkei ihre Kooperation auf eine andere als die Beitritts-Ebene stellen. Doch die Regierung in Ankara lehnt dies ab, so Milliyet. Der türkische Europaminister sagte am Donnerstagnachmittag dazu: „Es widerspricht der Natur der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, die Beziehungen auf eine andere Ebene als die der Beitrittsgespräche zu stellen. Wenn jedoch alle 28 EU-Mitglieder ordnungsgemäß einen Abbruch der Gespräche wünschen, so ist dies eine andere Sache“.
Nach Vorgaben der EU können Beitrittsgespräche nur dann wirksam abgebrochen werden, wenn alle 28 EU-Mitglieder diesem Schritt zustimmen.