Finanzen

Erwerbsarmut steigt in Deutschland stärker als in anderen EU-Staaten

In Deutschland hat sich die Zahl arbeitender, aber armer, Bürger in den vergangenen Jahren deutlich erhöht.
06.07.2017 23:23
Lesezeit: 1 min

Die Erwerbsarmut in Deutschland ist einer Studie zufolge stärker gestiegen als in anderen EU-Ländern. Zwischen 2004 und 2014 habe sich der Anteil der Beschäftigten, die trotz regelmäßiger Arbeit als arm gelten, auf 9,6 Prozent oder rund 3,7 Millionen verdoppelt, teilte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung am Donnerstag mit.

„Das hängt auch damit zusammen, dass Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen“, heißt es zur Begründung. Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut. In absoluten Zahlen falle das Plus sogar noch deutlicher aus, hieß es. Die Gesamtzahl der Erwerbstätigen stieg von 39,3 auf 42,6 Millione – 2004 waren es knapp 1,9 Millionen arbeitende Armutsgefährdete, 2014 fast 4,1 Millionen.

Der Anteil der armen oder armutsgefährdeten Erwerbstätigen in der EU betrug 2014 im Schnitt ebenfalls knapp zehn Prozent. Obwohl sie regelmäßig arbeiten, müssen sie mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in ihrem Land auskommen. Wer in Deutschland als Alleinstehender weniger als 869 Euro netto im Monat verdiente, galt zuletzt als armutsgefährdet. Bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag die Schwelle bei 1.826 Euro.

Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruht den Forschern zufolge zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung – vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen hätten diese Entwicklung beschleunigt. „Maßnahmen, die Arbeitslose dazu zwingen, Jobs mit schlechter Bezahlung oder niedrigem Stundenumfang anzunehmen, können dazu führen, dass die Erwerbsarmut steigt, weil aus arbeitslosen armen Haushalten erwerbstätige arme Haushalte werden“, betonen die Ökonomen.

Datengrundlagen der Böckler-Studie sind die neuesten verfügbaren Zahlen aus der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen und eine OECD-Datenbank. Zwischen 2004 und 2014 sei es demnach nur in Polen gelungen, die Beschäftigung zu erhöhen und gleichzeitig die Erwerbsarmut zu senken. In Österreich und der Tschechischen Republik gab es ähnlich wie in Deutschland einen Beschäftigungsanstieg, allerdings nur wenig mehr Armutsgefährdete. In den meisten Ländern war die Erwerbsarmut schon vor Beginn der Krise im Euroraum gestiegen. Im Zuge der Krise habe sich die Lage in etlichen Staaten noch verschärft, stellte die Hans-Böckler-Stiftung fest.

Der Linken-Chef Bernd Riexinger sagte: „Deutschlands Jobwunder entpuppt sich beim näheren Hinsehen als Armutsfanal.“ Das sei ein Anschlag auf das Grundgesetz, das die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, sagte: „Die Zahlen machen erneut deutlich, dass wir endlich eine Kehrtwende in der Arbeitsmarktpolitik brauchen.“ Denn aus Einkommensarmut werde später Altersarmut.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Experten-Webinar: Ist Bitcoin das neue Gold? – Chancen, Risiken und Perspektiven

Inflation, Staatsverschuldung, geopolitische Unsicherheiten: Viele Anleger fragen sich, wie sie ihr Vermögen in Zeiten wachsender...

DWN
Technologie
Technologie SaaS ist tot – die Zukunft gehört der KI, nicht Ihrer Plattform
01.06.2025

Niemand will die Nutzung Ihrer Plattform lernen – Unternehmen wollen Ergebnisse. Künstliche Intelligenz ersetzt Tools durch fertige...

DWN
Panorama
Panorama EU-Reform könnte Fluggastrechte deutlich schwächen
01.06.2025

Von Verspätungen betroffene Fluggäste haben in Zukunft möglicherweise deutlich seltener Anspruch auf Entschädigung. Die EU-Staaten...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wettlauf um die Zukunft: Wie die USA ihre technologische Überlegenheit retten wollen
01.06.2025

China wächst schneller, kopiert besser und produziert billiger. Die USA versuchen, ihre Führungsrolle durch Exportverbote und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Freelancer: Unverzichtbare Stütze in flexiblen Arbeitswelten
01.06.2025

Trotz Homeoffice-Boom bleibt die Nachfrage nach Freelancern hoch. Warum Unternehmen auf Projektarbeiter setzen, wo die Vorteile liegen –...

DWN
Politik
Politik „Choose Europe“: Brüssel will Gründer mit Kapital halten
31.05.2025

Die EU startet einen neuen Wachstumsfonds, der Start-ups mit Eigenkapital unterstützen und in Europa halten soll. Doch Geld allein wird...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Energiewende umgekehrt: US-Firmen fliehen vor Trumps Klimapolitik – nach Europa
31.05.2025

Während Trump grüne Fördermittel in den USA kürzt, wendet sich die Clean-Tech-Branche von ihrer Heimat ab. Jetzt entstehen in Europa...

DWN
Politik
Politik Ärztepräsident warnt vor „Versorgungsnotstand“
31.05.2025

Ärztepräsident Klaus Reinhardt warnt vor Beeinträchtigungen im medizinischen Netz für Patienten, wenn nicht bald Reformen zu mehr...

DWN
Finanzen
Finanzen Gesetzliche Erbfolge: Wer erbt, wenn es kein Testament gibt
31.05.2025

Jeder kann selbst bestimmen, wer seine Erben sein sollen. Wer das allerdings nicht durch ein Testament oder einen Erbvertrag regelt und...