Politik

Gegen die Arbeiter: EU zieht eine neue Mauer in Europa hoch

Lesezeit: 5 min
04.06.2018 00:03
Mit der Abschottung gegen osteuropäische Unternehmen zieht die EU eine unsichtbare Mauer durch Europa. Die Groteske: Die Regulierung nützt den inländischen Arbeitern nicht.
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Die Gewerkschafter in Westeuropa jubeln. Vor wenigen Tagen hat das EU-Parlament eine Verschärfung der sogenannten „Entsenderichtlinie“ beschlossen, mit der Mauern gegen die Arbeitnehmer aus Osteuropa und insbesondere aus Polen errichtet werden. Ab 2020 sollen Angestellte und Arbeiter einer Firma, die in einem EU-Land ansässig ist, nur in einem anderen EU-Land arbeiten dürfen, wenn sie die gleichen Löhne und Gehälter bekommen wie die Arbeitnehmer des Gastlands. Jetzt wird endlich, so lautet der Triumphschrei, das Lohndumping unterbunden. Tatsächlich ist davon nur die Rede, die Praxis sieht anders aus. Ganz nebenbei wird ein Grundsatz der EU über Bord geworfen und ein weiterer Beitrag zur Desintegration des ohnehin nur schwach integrierten Europas geleistet: Die Bewegungsfreiheit der Unternehmen im Binnenmarkt gehört der Geschichte an.

Zur Orientierung: Man muss zwischen Personen, die auf eigene Faust im Ausland einen Job suchen, die nicht Thema der Entsende-Richtlinie sind, und den hier angesprochenen, von Firmen entsendeten Arbeitern und Angestellten unterscheiden.

Schon bisher müssen die Arbeitnehmer der ausländischen Firmen den Mindestlohn erhalten. Somit gelten gesetzliche Regelungen wie Tarif- und Kollektivverträge auch für diese Gruppe. Die Verschärfung besteht nun darin, dass auch Lohnbestandteile zu zahlen sind, die über die Regelungen hinausgehen, wenn eine gleichartige Arbeit geleistet wird. Auch müssen die An- und Abfahrtskosten ersetzt werden.

Im Endeffekt leiden die lokalen Firmen, die Ausländer bleiben ungeschoren

Das klingt im ersten Moment sehr sozial, erweist sich aber als Quelle zahlreicher Probleme.

  • Ganz banal: Wer entscheidet, was eine „gleichartige“ Arbeit ist? Und ist diese nicht einfach zu klärende Frage beantwortet, wer stellt fest, welche Überzahlungen der Mindestsätze in anderen Firmen oder gar im gesamten Markt geleistet werden?
  • Nach dem aus vielen EU-Regularien bekannten System, wird für diese Zwecke eine weitere Bürokratie aufgebaut, die die Unternehmen quälen wird.
  • Aus ähnlichen, schon bestehenden Regelungen ist eine negative Folge bekannt: Die Gesetze werden von der Arbeitsmarktverwaltung und der Sozialversicherung genutzt, um Bezahlungsregeln aufzustellen, die in den heimischen Firmen, die man leicht erreichen kann, zur Anwendung kommen müssen. Bei Verletzungen gibt es enorme Strafen.
  • Die ausländischen Unternehmen bleiben meist unerreichbar. Dass eine Behörde, beispielsweise aus Frankreich, in einem anderen Land, etwa in Polen die Lohnkonten einer Firma überprüft, wird nicht einfach zu bewerkstelligen sein. Die Arbeiter auf einer Baustelle im eigenen Land zu überprüfen, ist machbar, doch wird wohl keiner seinen Arbeitgeber anzeigen.

Zu all den schon bestehenden, aus EU-Regularien entstandenen Plagen der ansässigen Unternehmen kommt eine weitere hinzu.

Die Entsende-Richtlinie nützt nicht den nationalen Arbeitnehmern

Wie immer geht es um einen vermeintlich guten Zweck, den Kampf gegen das Lohndumping, der in Wahrheit gar kein guter Zweck ist. Die Theorie, die Anhebung der Löhne und Gehälter nütze den nationalen Arbeitskräften, ist falsch.

Der Einsatz von ausländischen Unternehmen, die billiger anbieten als inländische, ist bei vielen Projekten die Voraussetzung, dass eine Investition überhaupt zustande kommt.

Zumeist werden inländische und ausländische Firmen eingesetzt. Wenn die Kostenentlastung durch den ausländischen Anbieter nicht erfolgen kann, werden viele Pläne nicht umgesetzt und auch die inländischen Unternehmen verlieren den Auftrag. Folglich verlieren die durch die Entsende-Richtlinie geschützten Arbeitnehmer aus dem Land ihren Arbeitsplatz. Dieser leider nicht offenkundige Zusammenhang wird auch in der Globalisierungsdebatte übersehen: Für viele Betriebe ist die Kombination von Produktionen in Billiglohnländern mit den Zentralen an den traditionellen Stammsitzen eine Überlebensfrage.

Der Klassenkampf gegen die Ausländer wird zum Bumerang.

Von „Kohäsion“ wird viel geredet. Tatsächlich gibt es kein Konzept.

Wie so oft in der EU werden die Wirkungen der getroffenen Maßnahmen übersehen. Auch die Querverbindungen werden nicht beachtet.

Die Arbeit im westeuropäischen EU-Ausland hat für die Bevölkerung im Osten eine besondere Bedeutung. Die Löhne und Gehälter bilden einen wesentlichen Beitrag zu den Einkommen, nicht nur für die Arbeitnehmer selbst, sondern auch für die daheim gebliebenen Familien, und haben daher eine volkswirtschaftliche Bedeutung. Der Einsatz der Unternehmen im Ausland leistet somit einen Beitrag zur Entwicklung der wirtschaftlich schwächeren Gebiete. Dieser Effekt ist unmittelbar wirksam.

Für die sogenannte „Kohäsion“, also für die Förderung der wirtschaftlich schwächeren Regionen, gibt die EU im Jahr zwischen 40 und 50 Milliarden Euro aus, die aus Steuergeldern aller Mitgliedstaaten finanziert werden. Dabei handelt es sich um eine gigantische Maschinerie, die, von Brüssel aus gesteuert, auf komplizierte Weise zahlreiche, oft kleinste Projekte finanziert. Die Effizienz der Abläufe wie die erzielten Effekte sind zu bezweifeln.

Fazit: Die EU müsste die Entsendung von Arbeitnehmern in die reicheren Staaten im Westen erleichtern und nicht behindern, da dieses Phänomen die Entwicklung der ärmeren Länder begünstigt. Die von einer staatswirtschaftlich agierenden Zentrale in Brüssel verwalteten 40 bis 50 Milliarden wären zu streichen, die Mitgliedstaaten müssten entsprechend weniger nach Brüssel zahlen, den von Schulden und Defiziten geplagten Ländern würde der unverhoffte Geldsegen nützen.

Die polnischen Arbeiter werden netto mehr verdienen als ihre Kollegen

Aber auch der ganz simple Vergleich zwischen den Löhnen der lokalen und den Bezügen der entsendeten Arbeitnehmer geht nicht auf. Mehr noch: Er führt zu einer Groteske.

  • Die Entsenderichtlinie kann sich nur auf die Löhne, Gehälter, Zulagen und Reisekosten beziehen.
  • Nachdem es nur nationale und keine EU-Regeln für die Lohn- und Einkommensteuer wie auch für die Sozialversicherung gibt, zahlen die Firmen für die Entsendeten diese Abgaben in den Heimatländern.
  • In Polen, dem in der Entsendefrage dominanten Land, beträgt die Staatsquote aus Steuern und Sozialabgaben knapp über 40 Prozent,
  • In Frankreich, das die Verschärfung der Entsenderichtlinie durch die Initiative von Präsident Emmanuel Macron erreicht hat, liegt die Staatsquote bei deutlich über 50 Prozent.
  • Im Endeffekt wird den „gleich“ entlohnten, entsendeten Arbeitern netto mehr bleiben als den französischen Kollegen.
  • Damit nicht genug: Traditionell gibt es in den Steuergesetzen Sonderregelungen für Auslandeinsätze. Die betroffenen Länder werden wohl ihren Unternehmen den Gang ins lukrative Ausland erleichtern

Erstaunlich ist auch die Diskussion über die Dauer der Entsendungen. Nach langen Diskussionen wurde nun beschlossen, dass die Entsendeten maximal zwölf Monate im Land bleiben dürfen, unter Umständen achtzehn Monate.

Die Aufenthaltsdauer beträgt in der Regel einige Tage oder Wochen. Die Arbeitnehmer kehren laufend in ihre Heimat zurück, sei es für einen Auftrag im Land, für eine Entsendung in einen anderen Staat oder schlicht für das Wochenende oder einen Urlaub.

Die Gewerkschaften wollen eine drastische Verkürzung der Aufenthaltsperioden. Die Frage drängt sich auf: Wie weit? Bis zum totalen Verbot?

Die EU vertraut der Bürokratie mehr als dem freien Markt

Der Grundgedanke der Entsenderichtlinie ist falsch: Das Lohnniveau eines Landes sei vorgegeben und habe für alle zu gelten.

  • Die Vorstellung des klar definierten Mindestlohns oder der fixen Tariflöhne ist schon innerhalb eines Landes unrealistisch: In stark wachsenden Zentren wird mehr bezahlt als in wirtschaftlich schwachen Zonen.
  • Dazu kommt der Wandel der Arbeitsverhältnisse. Die 40-Stunden-Jobs werden immer weniger. Auf dem Vormarsch sind die projektbezogenen Beschäftigungen, die unterschiedliche Qualifikationen, variable Arbeitszeiten und differenzierte Entlohnungen aufweisen.
  • Nicht zuletzt lösen die im Ausland arbeitenden Personen einen Druck auf das Lohnniveau in der Heimat aus und beschleunigen so die bislang schleppende Anpassung der Bezüge an das westliche Niveau.

Mit der Entsenderichtlinie demonstriert die EU ein deutliches Misstrauen gegenüber dem Markt und bevorzugt die bürokratische Regulierung. Ein Phänomen, das in vielen Bereichen der Union zu beobachten ist. In diesem Fall geht es um etwa 1,3 Millionen Personen, die als entsendete Arbeitnehmer tätig sind. Angesichts der 227,6 Millionen Erwerbstätigen in der EU betrifft die Regulierung nur 0,57 Prozent.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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