Politik

Erdogan: Europas Bollwerk gegen eine neue Flüchtlingskrise?

Es droht eine neue gigantische Flüchtlingswelle. Paradoxerweise ist es gerade der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, auf dessen Wohlwollen Deutschland und Europa jetzt angewiesen sind.
10.10.2019 15:49
Aktualisiert: 10.10.2019 16:16
Lesezeit: 2 min
Erdogan: Europas Bollwerk gegen eine neue Flüchtlingskrise?
Schaffen sie es? Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan. (Foto: dpa) Foto: Turkish President's Press Office

Im Jahr 2015 erreichte Deutschland die erste große Flüchtlingswelle. Fast eine Million Bewohner des Nahen und Mittleren Ostens strömten über die Balkanroute ins gelobte Land - die Bundesrepublik. Viele Hunderttausende machten es ihnen in den darauffolgenden Jahren nach. Insgesamt sind in den vergangenen vier Jahren rund 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wobei die Zahl der Neuankömmlinge ab 2018 deutlich nachließ.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen muss sich Deutschland allerdings auf einen neuen gewaltigen Zustrom gefasst machen. In Syrien herrscht das blanke Chaos. Die kriegsmüden USA werden ihre Truppen abziehen, die Türkei ist in den Norden des Landes eingefallen. In der dortigen Kriegszone sind schon ganze Ortschaften mehr oder minder entvölkert - die Menschen flohen, noch bevor die ersten türkischen Kampfflieger über die Dächer ihrer Häuser hinwegrasten. Wohin sich die meisten Bewohner über kurz oder lang aufmachen werden? Kurioserweise ins Land, aus dem die Angriffe erfolgen - die Türkei.

Dort leben bereits fast vier Millionen ihrer Landsleute. Darunter 500.000 Kinder, die noch nie einen Fuß auf syrischen Boden gesetzt haben - sie wurden in ihrem Aufnahmeland geboren. Sie, ihre älteren Geschwister, Eltern und sonstigen Verwandten sind dort verhältnismäßig gut integriert. Nicht zuletzt aufgrund der Milliarden Euro, welche die EU-Staaten - allen voran Deutschland - seit dem im März 2016 geschlossenen EU-Türkei-Abkommen nach Ankara überwiesen haben.

Mittlerweile befindet sich die Türkei jedoch an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit. Das Land steckt in einer Wirtschaftskrise, leidet unter einer galoppierenden Inflation und steigender Arbeitslosigkeit. Allein 25 Prozent der Jugendlichen haben keinen Job. Die Neuankömmlinge aus Syrien werden zunehmend als Konkurrenten auf dem angespannten Arbeitsmarkt gesehen. Und das sind sie auch. Für türkische Verhältnisse sind sie überdurchschnittlich gut ausgebildet, noch dazu bereit, für relativ wenig Geld zu arbeiten: Verdrängungswettbewerb pur.

Die Opposition setzt Erdogans Flüchtlingspolitik mittlerweile als wirksame politische Waffe gegen ihn ein. Sie macht dem Präsidenten den Vorwurf, viel zu konziliant zu agieren: Sowohl den Flüchtlingen gegenüber als auch der EU. Die Unterstützung für den 65-Jährigen schwindet - in der Bevölkerung, in seiner Partei AKP. Was noch vor kurzer Zeit kaum möglich erschien, nämlich die Abwahl des faktischen Alleinherrschers, scheint mittlerweile im Bereich des Möglichen.

Ein - bisher kaum vorstellbarer - Gedanke: Wäre es für Europa besser, wenn Erdogan, der die Syrer immer wieder als „muslimische Brüder und Schwestern“ bezeichnet, im Amt bliebe? Ist der 65-Jährige tatsächlich Europas Bollwerk gegen eine neue Flüchtlingswelle? Abwegig ist das nicht (selbst wenn er mit der Invasion Nordsyriens derzeit sogar noch für ein Anschwellen der Flüchtlingszahlen sorgt). Wobei eins klar ist: Selbstverständlich verfolgt Erdogan ausschließlich seine eigenen Interessen, natürlich wird er in der Lage sein, Europa an der Nase durch den Ring zu führen. Aber Willfährigkeit gegenüber dem türkischen Präsidenten ist nun mal der Preis, den Europa für seine seit Jahren verfehlte Flüchtlings- und Syrien-Politik zahlen muss.

Deutschland und die EU haben sich fast vollständig aus der Syrien-Krise herausgehalten. Jetzt zeigt sich, was es heißt, vor den Konflikten vor der eigenen Haustür die Augen zu verschließen, sich als moralisch überlegene „Friedensfürsten“ zu gerieren und die USA die „Drecksarbeit“ machen zu lassen - in dem Augenblick, in dem die Amerikaner dazu nicht mehr bereit sind, ist der alte Kontinent nämlich geradezu hilflos. Die relevanten Akteure in Syrien sind das Assad-Regime, Russland, die Türkei, der Iran, diverse Rebellengruppen. Deutschland hat auf den Verlauf des Konflikts kaum mehr Einfluss als ein Inselstaat im Südpazifik.

Da hilft nur: Zurück zur Scheckbuch-Diplomatie. Berlin wird weitere Milliarden locker machen und nach Ankara transferieren müssen. Sonst könnte in Kürze eine weitere Flüchtlingswelle auf die Bundesrepublik zurollen. Unter den Neuankömmlingen könnten sich Tausende Dschihad-Kämpfer aus Idlib befinden. Und das schaffen wir dann nicht mehr.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Donald Trumps Industriepolitik: US-Regierung prüft Einstieg in Schlüsselindustrien
04.11.2025

Angesichts globaler Spannungen und wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit gewinnen staatliche Eingriffe in Schlüsselindustrien an...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft KfW-Analyse: Mittelstand-Beschäftigungsrekord erreicht – Bürokratie bleibt Bremse
04.11.2025

Der Mittelstand in Deutschland erreicht einen historischen Mittelstand-Beschäftigungsrekord, doch die Euphorie bleibt gedämpft. Steigende...

DWN
Finanzen
Finanzen SAF-Holland-Aktie: US-Zölle bremsen Nachfrage – Lkw-Zulieferer senkt erneut Umsatzziel
04.11.2025

Die SAF-Holland-Aktie steht erneut im Fokus: Der Lkw-Zulieferer muss seine Umsatzprognose senken, während US-Zölle und schwache Märkte...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Sun Contracting-Pleite erschüttert den europäischen Solarmarkt – und deutsche Landwirte
04.11.2025

Die Sun Contracting-Pleite erschüttert Europas Solarmarkt: Millionenverluste, Ermittlungen und betroffene Landwirte zeigen, wie riskant...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Mindestlohnerhöhung beschlossen: Warum das für viele Betriebe ein Problem wird
04.11.2025

Die Merz-Regierung hat den höheren Mindestlohn beschlossen. Viele Unternehmen sehen „explodierende Kosten“ kommen und sind vor große...

DWN
Finanzen
Finanzen Rheinmetall-Aktie: Deutscher Rüstungsriese baut größte Munitionsfabrik in Litauen
04.11.2025

In Litauen beginnt der Bau der bislang größten Verteidigungsinvestition des Landes: Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall errichtet...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Krise in der Autoindustrie: Mahle-Stellenabbau trifft Stuttgart besonders hart
04.11.2025

Der Mahle-Stellenabbau erschüttert die Automobilbranche: Der traditionsreiche Zulieferer reagiert mit harten Sparmaßnahmen auf die Krise....

DWN
Finanzen
Finanzen Alles auf Rekord: Vielleicht ist es Zeit, auf langweilige Aktien zu schauen
04.11.2025

Aktien, Krypto, Gold auf Rekord. Doch die Rally ruht auf wenigen Tech-Giganten. Gesundheitswerte, Versorger und Basiskonsum könnten jetzt...