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Anatomie einer Jahrhundertblase, Teil 4: Die GroKo - eine Regierung auf Abruf humpelt mit Deutschland ins große Endspiel

Lesezeit: 12 min
15.12.2019 16:00
Das Wirtschaftsmodell funktioniert nicht mehr richtig, die gravierenden Auswirkungen der europäischen Geldpolitik werden von Tag zu Tag sichtbarer. Ins Grande Finale geht Deutschland unter Führung einer bedrohlich angeschlagenen Großen Koalition.
Anatomie einer Jahrhundertblase, Teil 4: Die GroKo - eine Regierung auf Abruf humpelt mit Deutschland ins große Endspiel
Annegret Kramp-Karrenbauer, Ursula von der Leyen und Angela Merkel. (Foto: dpa)

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Liebe DWN-Leser, heute erhalten Sie den vierten Teil unserer großen Serie „Anatomie einer globalen Jahrhundert-Blase“. Lesen Sie über die brennendsten Probleme der Weltwirtschaft – globale Konjunktur-Schwäche, irrationale Überbewertungen von Vermögensmärkten, Geldpolitik, Absinken der Mittelklasse, Vermögenskonzentration, desolat werdende Situation der Rentenkassen, Altersarmut und globale Umweltverschmutzung. Unser Autor Michael Bernegger verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung im Zentralbankwesen und der Finanzindustrie, unter anderem als Analyst, Konjunktur-Experte und Chef des Asses-Managements eines großen europaweit tätigen Lebensversicherers. Jeder Artikel baut auf den vorhergehenden auf – ist jedoch komplett eigenständig und daher für sich allein absolut verständlich.

Die neue EU-Spitze mit Ursula von der Leyen (EU-Kommission) und Christine Lagard (EZB) hat weitreichende Pläne. Sie werden vom wichtigsten Mitgliedsland Deutschland durch das Budget 2020 direkt sabotiert, unterlaufen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Kern der deutschen Verweigerungshaltung: Die schwarze Null als Symbol für haushaltpolitische Besonnenheit. Die Endphase der GroKo bietet, nach der Revolte der sozialdemokratischen Parteimitglieder bei der Wahl der Führungsspitze, nochmals eine Chance, diese sachlich falsche Haltung zu korrigieren. Es ist ein Endspiel für alle Beteiligten.

Endspiele der zweiten Art

Es gibt im Fußball zwei Arten von Endspielen. Die eine bezeichnet den Saisonhöhepunkt, den Abschluss einer erfolgreichen Kampagne mit dem Kampf um die Schale, die Meisterschaft. Sie krönt eine Serie herausragender Leistungen und toller Spiele, bei der die Mannschaft über sich herausgewachsen ist. Die andere ist das Gegenteil. Nach einer Serie von Niederlagen und desolaten Leistungen, bei der die Fans pfeifen und ‚Trainer-Raus’-Rufe sich in Sprechchöre verwandeln, ziehen die Klub-Oberen oder -Eigentümer die Reißleine und verkünden für den nächsten Samstag oder die nächsten zwei oder drei Spiele ein Endspiel für den Trainer, für den Sportvorstand oder sogar für den Präsidenten. Wenn der Erfolg nicht kurzfristig eintrifft, dann muss gehandelt werden, sonst droht der Abstieg oder der Verlust der Champions-League Gelder. Das ganze Geschäftsmodell steht dann zur Disposition.

Europa und Deutschland stehen je vor Endspielen der zweiten Art. Die europäische Union unter der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit einem Monat Verzögerung die Arbeit aufgenommen. Nach fast 10 Jahren Austerität und Stagnation (Peripherieländer) und schwachem Wirtschaftswachstum in Kerneuropa will sich die neue Kommission neuen Zielen widmen: Bewältigung des Klimawandels und Digitalisierung sind die beiden Schwerpunkte. Sie drücken sich auch organisatorisch aus mit der Wahl von zwei starken Vizepräsidenten, welche übergreifend für je einen dieser beiden Themenbereiche zuständig sind: Franz Timmermans für die Klimapolitik, Margareth Verstagher für die Digitalisierung.

Im Zentrum der Klimapolitik steht ein ‚Green Deal’, der die Klimaneutralität Europas bis zum Jahr 2050 sichern soll. Darüber hinaus ist er auch ambitiös schon in den nächsten Jahren. Einer der wesentlichen Punkte ist das Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr für Personen und für Güter, weg von der Straße. Darüber hinaus sollen die CO2-Emissionen über Obergrenzen drastisch gesenkt werden. Es ist klar, dass dies mit einem Bedeutungsverlust der Autoindustrie und mit einem Ausstieg aus der Kohle als Energielieferant verbunden sein wird. Die Rolle der Europäischen Investitionsbank soll dabei aufgewertet und zentral werden.

Die neue EZB-Chefin Christine Lagarde will da nicht nachstehen und ebenfalls nach neuen Ufern streben. Die EZB soll helfen, den Klimaschutz zu finanzieren. Da sind die Pläne über die Absichtserklärung hinaus noch weniger konkret.

Beiden Prioritäten und Plänen gemeinsam ist, dass sie vorab von Altlasten der Vergangenheit eingeschränkt werden - der Fehlentwicklung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Symbol der jahrelangen Negativzinspolitik der EZB und dem Aufschwung eines rabiaten, destruktiven Nationalismus in vielen Mitgliedstaaten - Deutschland einschließlich.

Die neue EZB-Chefin hat dabei einen klassischen Fehlstart hingelegt: Sie hat sich vom abtretenden Vorgänger Mario Draghi den Zinsausblick mit jahrelang unveränderten Zinsen und einem weiteren Paket an Anleihekäufen festschreiben lassen. Ohne ihr Einverständnis, das sie im Voraus signalisiert hat, wäre es dazu nicht gekommen. Gelingt den beiden Damen nicht, das auf Grund gelaufene Schiff in völlig neue Bahnen zu lenken, besteht wenig Hoffnung auf Besserung. Wirtschaftlich und politisch, beide Projekte der Europäischen Union und des Euro stehen auf wackligen Grundlagen, auch wenn die geschlossene Haltung der Regierungen in den Brexit-Verhandlungen Stabilität suggeriert. Mit etwas Charme und Eleganz, positiven Worten, neuen spektakulär klingenden Projekten und einer de facto Fortsetzung der bisherigen Politik ist die ganze Sache gegessen. Das Ende wird schnell und überraschend kommen.

Auch Deutschland steht vor einem Endspiel, aber nicht im Fußball, und nicht mit Jogi Löw. Das deutsche Wachstumsmodell der 2000er und 2010er Jahre hat das Ablaufdatum erreicht und bereits überschritten. Die einseitige Exportförderung mit Zentrum Autoindustrie und Zulieferindustrien (Chemie, Maschinenbau) sieht sich neuen Realitäten der Weltwirtschaft und der Branchenentwicklung gegenüber. Die Globalisierung wird zurückgedreht, die Massenkaufkraft ist weg durch Überschuldung und Inflation, die Förderwirkung durch Niedrigzinsen erschöpft, dies just im Moment, wo die Autoindustrie einen Hochseilakt durch die technologische Disruption vollführen soll - Elektrifizierung, autonomes Fahren, drakonische Reduktion des CO2-Ausstoß. Sie muss hohe Investitionen stemmen, und sieht sich dem Wettbewerb finanzstarker Technologie-Konzerne gegenüber, die am Horizont ganz neue Geschäftsmodelle einführen wollen und warten können. Diese Technologie-Konzerne haben die Daten und damit die Macht. Selbst wenn diese Klippen erfolgreich gemeistert werden sollten, werden die Autoindustrie, ihre Zulieferindustrien sowie das Autogewerbe nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa erheblich weniger Beschäftigung als in der Vergangenheit generieren.

Die deutsche wie die gesamte europäische Binnenwirtschaft ist nach dem Holzhammer der Agenda 2010 und der sogenannten Euro-Rettungspolitik der 2010er Jahre nie mehr richtig in die Gänge gekommen. Die Beschäftigung hat unstreitig deutlich zugelegt. Jahrzehnte der Reallohn-Stagnation oder des Reallohn-Rückgangs, der Segmentierung des Arbeitsmarktes und einer einseitiger gewordenen Einkommens- und Vermögensverteilung lassen aber keinen Konsumboom zu, wie er aufgrund der Beschäftigungsgewinne und ultraniedriger Zinsen erwartet werden könnte.

Als besonders hinderlich erweist sich die Wohnungsnot. Trotz rekordtiefer Zinsen kommt wenig neue Ware auf den Markt. Der Neubau harzt aus einer Vielfalt von Gründen. Die zusätzliche Kaufkraft der Mehrbeschäftigung versickert in fiebrig überteuerten Mieten und Preisen von Häusern älterer Generation und minderer Qualität, löst aber keine oder eine ungenügende Bauproduktion aus. Der Wohnungsbau ist in den meisten europäischen Ländern in den 2010er Jahren richtiggehend zusammengebrochen. In Deutschland hat er sich von der Depression der 2000er Jahre erholt, bleibt aber angesichts der Nachfrage auf einem viel zu niedrigen Niveau.

Graphiken 1-3: Neu- und Umbauaktivität in der Europäischen Union (EU-28), Eurozone (17 Länder) und in Deutschland 1995 - 2019

Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik

Die Graphiken bilden die Bautätigkeit in physischen Größen ab, nämlich den bewilligten Neu- und Umbauprojekten für Wohnungen (blau: Anzahl Wohnungen, rot: m2 Nutzfläche) und Nichtwohnbauten (grün: m2 Nutzfläche) wie Gewerbe- oder Büroflächen. Indexiert sind sie jeweils für das Jahr 2015=100. Das ist die offizielle Baustatistik der Europäischen Kommission. Die Tatsache, dass die physische Aktivität viel geringer als selbst vor 25 Jahren liegt, demonstriert die Tiefe des Einbruchs. Damals war die Wirtschaft gemessen am BIP viel kleiner als heute.

Der Einbruch der gesamten Hochbautätigkeit liegt unter anderem an der seit Jahrzehnten unterdotierten Infrastruktur-Bautätigkeit. Die beinharte Sparpolitik setzt neben den Sozialleistungen vor allem hier den Rotstift an. Deutschland ist diesbezüglich auf dem Weg zu einem zweit- oder drittklassigen Industrieland. Alles aufs Auto gesetzt, den öffentlichen Verkehr kaputtgeschrumpft, dabei aber Straßenbau und -unterhalt nonchalant unterlassen, keine genügende Ausscheidung und Erschließung von Bauland. Die Liste ist ellenlang.

Die Staustunden zählen sich. Der hohen betrieblichen Effizienz der Unternehmen steht eine drittklassige, nervtötende, ineffiziente und umweltverschmutzende Verkehrs-Infrastruktur gegenüber. Der Einzelne kann sich dem nur entziehen oder ausweichen, indem er das Home-Office wählt oder mit einem neueren Auto mit allerlei elektronischem Schnickschnack unterwegs ist - gute Stereoanlage, Navi mit Staumelder, bequeme Sitze, umfassende Anbindung des Smartphone ans Internet durch Apple Car oder Android - und viel Geduld. Andere Beispiele der unterdotierten Infrastruktur sind rasch aufgezählt: Bildungswesen, fehlende Glasfasernetze und Mobilfunk-Versorgung im Telecom-Bereich, usw. Die Digitalisierung, die zweite Priorität der EU-Kommission ist mit der vorhandenen oder geplanten Infrastruktur jedenfalls nicht zu schaffen.

Die Baukrise betrifft keineswegs nur den Wohnungs- und Infrastrukturbau. Sie erstreckt sich genauso auf den Nicht-Wohnungsbau, also den Bau von Gewerbeliegenschaften, von Fabriken, Bürogebäuden, Verkaufsflächen, Lagern, gemischten Liegenschaften, was alles immer.

Die Bautätigkeit ist der größte Motor der Wirtschaftsaktivität. Kein anderer Sektor hat eine derartig breite Palette an Vorleistungen im Inland und importiert so wenig. In Europa läuft er mit angezogener Handbremse, zudem bei Vollgas im ersten Gang, aber ohne die Möglichkeit, hochschalten zu können. Mit einer solch depressiven Kernaktivität ist keine Umstellung des exportgetriebenen zu einem binnenwirtschaftlichen Wachstumsmodell möglich. Die Bauinvestitionen sind auch eine wichtige Voraussetzung für die künftige Produktivitätsentwicklung, vor allem im Dienstleistungssektor. Mit dieser niedergedrückten Aktivität wird es keine Produktivitätsschübe geben, da kann noch so sehr eine Digitalisierung angestrebt werden.

Die Geldpolitik der EZB und die Regulierung des Bankensektors sind, neben der Infrastrukturbremse, der zentrale Grund für den Einbruch und die Stagnation der Binnenwirtschaft in ganz Europa. Die EZB operiert seit Tag 1 ihrer Existenz mit verzerrten Inflationsindikatoren, welche große Teile der Wohnungskosten ausschließen. Die Kosten selbst bewohnten Eigentums sind die größte Position der Haushalts-Budgets, und sie wachsen am schnellsten über die Zeit hinweg. Viele nationale Statistikämter in Europa schließen sie aus den Verbraucherpreis-indizes aus, genauso wie die EZB. Diese setzt deshalb ein völlig falsches Inflationsziel von 2 Prozent. Die effektiv deutlich höhere als die ausgewiesene Inflation frisst die Realeinkommen der Haushalte verdeckt auf, und dies über lange Zeiträume hinweg. Da bleibt nur für Wenige die Möglichkeit zum Wohnungs- oder Häuserkauf.

Die EZB verhindert über viel zu niedrige Zinsen und verschiedene andere Mechanismen und Politiken auch die Kreditvergabe des Bankensystems nicht nur an den Immobiliensektor, sondern die gesamte produktive Aktivität.

Ein Kanal betrifft die Profitabilität und die Eigenkapitaldecke des Bankensystems. Durch die während sehr langer Zeit anhaltenden Negativzinsen erleiden die Banken in ihrem Kerngeschäft eine extreme Verengung ihrer Zinsmarge, d.h. der Differenz zwischen Aktiv- und Passivzinsen. Die Banken verdienen schlicht zu wenig oder nichts. Sie können so viel weniger langfristige Kredite gewähren. Sie können darüber hinaus so kein Eigenkapital bilden, was ihre zukünftigen Möglichkeiten zur Kreditvergabe zusätzlich stark einschränkt. Viele Banken sind zudem noch durch Kreditverluste aus der Finanzkrise geschädigt und sind in Europa ohnehin schon seit der Jahrtausendwende unterkapitalisiert. In einer solchen Situation ist die Politik der Negativzinsen ein schwerer, katastrophaler Fehler. Er wird noch ergänzt durch die von der deutschen Bundesregierung durchgesetzte Politik, die Rekapitalisierung der Banken durch Staatsgelder per se zu erschweren oder zu verunmöglichen. Die Flaute oder besser schwere Krise der Binnenwirtschaft verewigt sich so, selbst 10 Jahre nach der Großen Finanzkrise. Durch die Negativzinspolitik, jetzt auch unter Frau Lagarde wieder verlängert, wird sich die Agonie des Bankensystems nur noch vertiefen. Damit ist auch klar, wohin die Bautätigkeit und die gesamte Wirtschaftsaktivität zukünftig gehen werden.

Die EZB bremst mit ihrer Negativzinspolitik nicht nur die laufende Wirtschaftsaktivität. Sie hilft so mit, den Sparprozess in den europäischen Volkswirtschaften zu sabotieren. Nicht nur für Individuen, sondern auch in den kollektiven Vorsorgewerken für die Altersvorsorge wie die Pensionskassen oder die Lebensversicherungen. Damit leistet sie einer Verarmung ganzer Generationen über Jahre und Jahrzehnte Vorschub. Darüber hinaus schafft sie multiple Systemrisiken.

Die deutsche schwarze Null als Klammer und Bindeglied zwischen der GroKo und dem Negativzins der EZB

Die schwarze Null ist zum Markenzeichen der Großen Koalition geworden. Sie verkörpert wie nichts Anderes ihre finanzpolitische Leitlinie und damit ihre wirtschaftspolitischen Prioritäten. Die Finanzminister Schäuble und Scholz haben sie als Ausdruck umsichtiger und verantwortungsvoller Haushalt-Führung hochstilisiert. Ist dem so?

Zunächst ist die schwarze Null Ausdruck der Niedrig- bzw. Negativzinspolitik der EU. Nur weil der deutsche Staat seine ausstehenden Schulden praktisch zu Null- oder Negativzinsen refinanzieren kann, resultiert überhaupt ein Budget-Überschuss bzw. die schwarze Null. Es gibt also eine enge Beziehung zwischen der Zinspolitik der EZB und dem Budgetstatus. Doch diese Beziehung läuft nicht nur in die eine Richtung.

Deutschland hat mit der Agenda 2010 die Binnenwirtschaft massiv zusammengestaucht. Diese Politik geht einher mit einer Vernachlässigung der Infrastruktur und mit einem harten Sozialabbau. Unter anderem deswegen verzeichnet Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre (Nullerjahre) stark steigende Leistungsbilanz-Überschüsse.

Graphik: Deutschland Leistungsbilanz-Saldo in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 1970-2018

Quelle: Destatis

Deutschland ist das Zentrum der Europäischen Währungsunion. Ausgerechnet kurz nach Beginn der Einheitswährung hat also das größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland mit einer Rosskur der Binnenwirtschaft begonnen. Dadurch sind automatisch andere Länder in die Bredouille geraten, umgekehrt hat Deutschland durch die Lohnpolitik noch zusätzlich Wettbewerbsvorteile errungen.

Mit der Politik der schwarzen Null zementiert die GroKo diese Überschüsse in der Leistungsbilanz, statt sie zu reduzieren. Das hat die Vernachlässigung der Infrastruktur im Inland zur Folge, zwingt aber die anderen Mitgliedsstaaten in die gleiche Schlaufe. Um die von der EU-Kommission auferlegten Budgetziele von 3 Prozent oder weniger (Italien, Griechenland) angesichts schwachen Wirtschaftswachstums einhalten zu können, sind diese Länder praktisch zur permanenten Austerität verurteilt. Damit das System nicht implodiert, sieht sich die Europäische Zentralbank veranlasst, die Zinsen immer tiefer und länger in den Negativbereich zu drücken.

Die schwarze Null Deutschlands und die Negativzinspolitik der EZB sind somit zwei Seiten der gleichen Medaille: Einer wirtschaftlichen Stagnation Europas, einer latenten Bankenkrise im ganzen Kontinent einschließlich Deutschlands und einer strukturellen Verarmung der deutschen und europäischen Bevölkerung. Der deutsche Staat spart sich scheinbar, aber nur scheinbar gesund, indem er die Altersguthaben seiner Bevölkerung so anlegt, dass diese noch froh sein muss, ihren Schuldnern Zinsen bezahlen zu dürfen, statt von diesen entschädigt zu werden. Eine Perversion der speziellen Sorte. Es ist eine langsam drehende Abwärtsspirale, die den Kontinent in immer neue Sparübungen hineinzwingt. Kein Wunder, kommt Europa keinen Schritt voran, und sabotiert sich immer wieder aufs Neue. Eine Währungsunion, in der das Land im Zentrum strukturell derart hohe Überschüsse erzielt und einen konstanten Druck auf die Realaktivität anderswo auslöst, hat keine gute Überlebenschance.

Frau Von der Leyen hat einen ‚Green Deal‘ als eines der beiden Hauptziele ihrer neuen Kommission präsentiert. Sie will damit eine klimapolitische Wende in Europa schaffen. Gegenüber diesem Ziel nehmen sich die Vorgaben der Finanzplanung für 2020 der Großen Koalition wie ein Witz aus. Im größten Mitgliedsland, das zudem bisher über Budgetüberschüsse und eine im Vergleich geringe Staatsverschuldung verfügt, werden einige wenige Milliarden zusätzlich eingesetzt. (Hinweis auf Artikel vom 27./28. November über deutsches Budget) Was sollen denn die übrigen Länder in Bezug auf den Klimaschutz investieren, welche Budgetdefizite und eine viel höhere Staatsverschuldung haben? Darf man klimapolitisch erst aktiv werden, wenn der Staat nachhaltig hohe Überschüsse erzielt und die Staatsverschuldung unter der völlig willkürlich festgelegten 60-Prozent-Grenze gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt liegt? Ist Klimaschutz mit anderen Worten ein Luxusgut, das sich nur die Wohlhabendsten in einer außergewöhnlich positiven Konstellation leisten sollen? Die Frage aufwerfen, heißt sie zu beantworten. Was die deutsche Bundesregierung macht, ist die Agenda ihres bisherigen langjährigen Mitgliedes Von der Leyen in der neuen Funktion von der ersten Minute an zu sabotieren oder zu unterminieren. Wie sollen denn die anderen Staaten reagieren, wenn sie von der Kommission zu mehr Anstrengungen im Klimaschutz aufgerufen werden? Sie werden kurz auf Deutschland verweisen und einige unverbindliche Zusagen geben, aber keinen müden Euro aufwerfen wollen. So wird das Klimaschutz-Bekenntnis zur absoluten Hypokrisie.

Genauso verhält es sich mit Frau Lagarde, der neuen EZB-Präsidentin. Völlig zu Recht hat sie mehrfach gefordert, dass Deutschland eine expansive Finanzpolitik einschlagen soll. Die Wirksamkeit der Geldpolitik ist längst erschöpft, sie ist hochgradig kontraproduktiv, vor allem auch in Deutschland selber. Sie dürfte den deutschen Steuerzahler längerfristig noch teuer zu stehen kommen. Mit dem schnöden Weiter so demontiert die Große Koalition die neue EZB-Präsidentin vom ersten Tag an.

Innenpolitische Nabelschau in Deutschland - Die GroKo im Endspiel

Und just hier muss die Kurve zur deutschen Politik gezogen werden. Die beiden Parteien in Deutschland, welche diese Entwicklung unter verschiedenen Titeln organisiert haben, befinden sich beide im Endspiel für ihre gemeinsame Große Koalition. Diese hat aller wahlarithmetischen Voraussicht nach spätestens nach den Neuwahlen 2021 ein Ende. Als Partei trifft das Endspiel zudem für die Sozialdemokratie zu, die im ungebremsten freien Fall ist und einen letzten Versuch für einen Führungswechsel und Umschwung macht. Doch auch die CDU muss sich vorsehen, nicht das gleiche Schicksal wie andere große bürgerliche Volksparteien in Europa zu erleiden. Lange zu erodieren und dann schlicht und einfach von der Landkarte eliminiert zu werden wie die Democrazia Christiana in Italien, die Gaullisten und ihre Nachfolgeparteien (Les Républicains) in Frankreich.

Angesichts der mit Händen zu greifenden Untätigkeit der GroKo haben die Grünen in der bürgerlichen Mitte zu Recht praktisch ein Monopol im Klimaschutz. Und mit der AfD ist auch in Deutschland nach vielen Metamorphosen eine stramm rechte nationalistische Partei entstanden, die nach ihrem Parteitag organisatorisch gefestigt wirkt. Es ist nicht von ihrem Charakter, sondern von ihrer Wählerschaft her immer noch primär eine Protestpartei. Die Leute wählen nicht das exakte Programm der Partei, das sie wahrscheinlich nicht einmal genau kennen. Sie wählen sie als Zeichen des Misstrauens und Protests gegenüber den beiden etablierten Volksparteien und Präferenzen für einzelne zentrale Aspekte der AfD-Rhetorik.

Das neue Führungsduo der SPD ist mit einer seltenen Feindseligkeit und verachtungsvollen Reaktion von Politik und Medien empfangen worden. Ihre absolut berechtigten Forderungen nach einem Ende der schwarzen Null, höheren Infrastruktur-Ausgaben und einer aktiven Klimapolitik sind mit Hinweis auf drittklassiges Personal abgekanzelt worden. Alles wird nur noch unter kurzfristigen wahlarithmetischen Aspekten betrachtet. Die beiden Koalitionspartner wären gut beraten, nicht etwas neue Farbe und Rhetorik zu wählen und alles beim Alten zu belassen. Sie sollten die ungewöhnliche Situation als eine unverhoffte Chance ansehen, einen verfehlten Kurs, der zudem direkt mit den neuen Zielen der EU und EZB kollidiert, noch korrigieren zu können. Es wird so oder so einen Umstieg von der Autoindustrie als deutscher Konjunkturlokomotive geben. Dafür braucht es Infrastruktur-Investitionen in ganz anderen Dimensionen, genauso wie für die erfolgreiche Bewältigung der Digitalisierung. Die Konsequenzen könnten sonst in jeder Hinsicht gravierend werden.

Hier gelangen Sie zu Teil 1 der Serie.

Hier gelangen Sie zu Teil 2 der Serie.

Hier gelangen Sie zu Teil 3 der Serie.


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