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ZWEITES DWN-INTERVIEW ZUR GEGENWÄRTIGEN RECHTSLAGE: Staat kann Bürger dienstverpflichten, Rechtsschutz wird nach hinten verlegt

Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten haben ein weiteres Interview zur derzeitigen Rechtslage geführt. Darin erläutert der Privatdozent Alexander Thiele, Experte für Öffentliches Recht, welche besonderen Befugnisse der Staat in der derzeitigen Krisensituation hat.
21.03.2020 07:34
Lesezeit: 5 min
ZWEITES DWN-INTERVIEW ZUR GEGENWÄRTIGEN RECHTSLAGE: Staat kann Bürger dienstverpflichten, Rechtsschutz wird nach hinten verlegt
Die Polizei kann Ausgangssperren und Quarantäne-Maßnahmen zwangsweise durchsetzen. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Staat hat im Zuge der Corona-Bekämpfung eine ganze Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet. Auf welcher rechtlichen Grundlage basiert dieses Vorgehen?

Alexander Thiele: Der Staat stützt sich im Kern auf das Infektionsschutzgesetz. Das gibt ihm die Möglichkeit, den Umfang und die Intensität der Maßnahmen je nach wechselnder Gefahrenlage zu steigern oder herunterzufahren.

Wie weit der Staat mit seinen Maßnahmen gehen darf, ist in diesem Gesetz gar nicht so genau beschrieben, teilweise wird von den „notwendigen Maßnahmen“ gesprochen. Und zwar aus gutem Grund: Der Gesetzgeber wollte, dass die Exekutive angemessen auf den jeweiligen Einzelfall reagieren kann.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das klingt, als ob der Staat ziemlich weit gehen kann. Können Sie uns Beispiele für weitere staatliche Maßnahmen geben, die durch das Infektionsschutzgesetz rechtlich abgesichert sind?

Alexander Thiele: Begonnen hat es mit der am 1. Februar dieses Jahres in Kraft getretenen Verordnung, nach der sich jeder, der mit dem Corona-Virus infiziert ist, bei den Behörden melden muss. Wer das nicht tut, begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldstrafe belegt ist.

Viele andere Maßnahmen haben wir auch schon gesehen: Schulen sind geschlossen, wir dürfen bestimmte Orte nicht mehr betreten, Geschäftszeiten sind reduziert. Für Infizierte kann auch die (häusliche) Quarantäne angeordnet werden. Eine allgemeine Ausgangssperre – also auch für Nichtinfizierte – könnte der Staat allerdings nur im Katastrophenfall und gestützt auf die Katastrophengesetze der Länder erlassen. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt das nicht. In jedem Fall muss der Staat aber begründen können, warum es einer solchen Maßnahme bedarf.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und wie kann der Staat solche Maßnahmen durchsetzen?

Alexander Thiele: Durch Zwang. Wie er auch zu „normalen“ Zeiten angewendet werden darf. Nur ein Beispiel: Wenn jemand mit einer Waffe durch die Gegend spaziert, wird die Polizei die notwendigen Zwangsmaßnahmen durchführen, die in dieser Situation notwendig sind. Genauso wird die Polizei die notwendigen Maßnahmen durchführen, wenn sich jemand nicht an die Quarantäne-Vorschriften oder ans Ausgehverbot hält. Um es nochmals zu betonen: Letzteres ist unter bestimmten Voraussetzungen nach meiner Ansicht möglich – das heißt, auch Nichtinfizierte können gezwungen werden, zuhause zu bleiben. Das können die Behörden im Extremfall effektiv durchsetzen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Verstehen wir das richtig? Im Grunde verfügt der Staat über uneingeschränkte Herrschaftsgewalt?

Alexander Thiele: Nein, das tut er nicht. Er muss stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Zudem hat er schon nicht die Ressourcen, um alles immer und stets mit Zwang durchzusetzen. Der Staat ist darauf angewiesen, dass der Großteil dieser Anordnungen freiwillig befolgt wird. Und ich kann dazu auch nur raten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und wer stellt fest, dass dieser Grundsatz befolgt wird?

Alexander Thiele: Das tun die Gerichte. Jede staatliche Anordnung ist gerichtlich angreifbar, das steht außer Frage. Das heißt beispielsweise, dass Bürgerinnen und Bürger, die durch ungerechtfertigtes staatliches Handeln in Mitleidenschaft gezogen werden, Schadensersatz fordern können.

Allerdings wird der Rechtsschutz gewissermaßen nach hinten, also auf die Zeit nach der Katastrophe verlegt. Das heißt, die staatlichen Maßnahmen werden erst dann, wenn die es Umstände (wieder) erlauben, durch ein Gericht auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft und nicht, während die Katastrophe gerade bekämpft wird. Denn wenn letzteres zuträfe, wäre der Staat ja praktisch handlungsunfähig. Stellen Sie sich vor, ein Gericht müsste erst prüfen, ob die von der Regierung verhängte Quarantäne rechtmäßig ist. Dann würden sich, bis das Gericht die Rechtmäßigkeit festgestellt hat, unter Umständen viele Menschen anstecken und sterben. Das wäre absurd.

Das Wesen einer Demokratie ist ja, dass die Wähler den Gewählten ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbringen. Ist dieses Vertrauen nicht vorhanden, kann die Demokratie nicht funktionieren – dann ist unser ganzes politisches System von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Im Übrigen sind normale Einschätzungsfehler des Staates nicht unbedingt schadensersatzpflichtig. Man muss sich nur die gegenwärtige Situation vor Augen führen: Die Regierung tappt in hohem Maße im Dunkeln, weil niemand genau weiß, wie

mit dem Corona-Virus umgegangen werden muss. Dennoch muss sie Entscheidungen treffen. Dass sie da früher oder später einen Fehler macht, ist unausweichlich. Das heißt, solche erwartbaren Einschätzungsfehler sind nicht schadensersatzpflichtig, nur besonders gravierende Fehler, wo ein Verschulden nachweisbar ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben die politischen Entscheidungsträger auf Bundes- beziehungsweise Länder-Ebene schon gravierende Fehler begangen?

Alexander Thiele: Nein – jedenfalls kann ich keine erkennen. Natürlich kann es sein, dass einzelne Anordnungen, dass einzelne Maßnahmen später von einem Gericht kassiert werden – ich habe etwa gewisse Bauchschmerzen bei der in einem Ort in Bayern verhängten Ausgangssperre. Ob da aber schon die Schwelle für die Staatshaftung überschritten ist, wird man sehen. Insgesamt ist das Krisenmanagement aus meiner Sicht im Großen und Ganzen gelungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kann der Staat die Bürger eigentlich zu Hilfsdiensten verpflichten?

Alexander Thiele: Ja, das kann er. Und zwar jedenfalls im Katastrophenfall, wenn die öffentliche Versorgung nicht anders aufrecht zu erhalten ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns ein Beispiel geben?

Alexander Thiele: Nehmen wir mal ein junges Ehepaar ohne Kinder. Da könnte der Staat etwa einen Ehepartner dazu verpflichten, in einer Lagerhalle Lebensmittel-Kisten auf Lastwagen zu hieven. Und der andere würde gleichzeitig bei der Betreuung von Pflegebedürftigen eingesetzt. Viele dieser Tätigkeiten werden aber ja schon jetzt freiwillig von der Zivilgesellschaft organisiert. Und das ist ebenso sinnvoll wie beeindruckend.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In der öffentlichen Diskussion ist immer wieder davon die Rede, dass die Bundesregierung den Notstand ausrufen könnte. Könnten Sie sich vorstellen, dass die Bundesregierung zu dieser Extrem-Maßnahme greift? Und wenn ja, was hätte das für Implikationen?

Alexander Thiele: Zunächst einmal dies: Das Grundgesetz sieht „den Notstand“ gar nicht vor, er findet an keiner Stelle explizite Erwähnung. Die sogenannte Notstandsverfassung, die vom Bundestag im Jahr 1968 als Reaktion auf die Studentenproteste beschlossen wurde, besteht vielmehr aus einer Vielzahl an Regelungen, die sich mit einer äußeren oder inneren Krisensituation beschäftigen. Für den inneren „Notstand“ beinhalten sie tatsächlich eine Reihe von weitreichenden Maßnahmen – beispielsweise den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, um Aufstände zu bekämpfen.

Aber sehen Sie irgendwo die Gefahr von Aufständen? Wohl kaum. Selbst von Plünderungen sind wir weit entfernt. Selbst wenn es zu solchen Szenarien kommen würde, wäre aber die Polizei aller Voraussicht nach in der Lage, mit der Situation fertig zu werden – sie verfügt über die dementsprechende Bewaffnung. Die Bundeswehr müsste wohl erst eingreifen, wenn es zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen käme. Aber davon kann nun wirklich keine Rede sein.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Um noch mal auf das Infektionsschutzgesetz zurückzukommen: Das fällt in die Kompetenz der Länder, der Bund besitzt überhaupt kein Mitspracherecht. Ist das nicht zu viel des Föderalismus´? Mit anderen Worten: Ist es notwendig, nach Überwindung der Corona-Krise eine Gesetzesänderung in die Wege zu leiten?

Alexander Thiele: Sie haben Recht, das Infektionsschutzgesetz ist zwar ein Bundesgesetz, wird aber von den Ländern vollzogen. Dennoch teile ich die Kritik nicht, im Gegenteil: Der Föderalismus hat doch funktioniert. Dass nicht die Bundesregierung, sondern die jeweils einzelnen Länderregierungen entscheiden, hat in meinen Augen zwei Vorteile.

Erstens hat eine Landesregierung eine viel bessere Übersicht, kann viel eher entscheiden, was notwendig ist und was nicht – ein Paradebeispiel für das Subsidiaritäts-Prinzip. Damit wird verhindert, dass auch dort Einschränkungen der Freiheitsrechte vorgenommen werden, wo es gar nicht notwendig ist.

Zweitens kann eine solche Verantwortungsteilung auch entlastend wirken. Man kann diese große Verantwortung so vielleicht besser tragen und ist eher bereit, das Notwendige zu tun, wenn andere damit auch einverstanden sind. Falsche Entscheidungen werden dadurch nicht ausgeschlossen. Aber das wären sie ja auch nicht, wenn eine einzelne Person entscheidet. Dann aber würden sie sich immer gleich für alle schädlich auswirken.

Am Ende kommt es also weniger auf Föderalismus oder nicht, sondern auf die Personen an. Jeder sollte wissen: Es macht einen Unterschied, ob die zentralen Personen Trump oder Merkel heißen.

Zur Person: Alexander Thiele ist Privatdozent an der Universität Göttingen und vertritt aktuell einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Osnabrück. Er wurde in Göttingen zu einem europarechtlichen Thema promoviert, absolvierte sein Zweites Staatsexamen in Hamburg und Brüssel und habilitierte sich sodann mit einer Arbeit zur Finanzaufsicht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie sowie dem Europa- und Finanzrecht.

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