Die Corona-Krise fordert einen hohen Tribut: Hunderttausende werden sterben, die Wirtschaft nimmt immensen Schaden, und die psychischen Belastungen sind enorm, nicht nur für den Einzelnen, sondern für ganze Regionen, ja ganze Nationen. Aber die Krise hat, so befremdlich das derzeit klingen mag, auch ihr Gutes: Sie zwingt uns nämlich, über die Zeit nach Corona nachzudenken und dabei – hoffentlich – den Grundstein für eine bessere Zukunft zu legen.
Die EU: Nur ein Zweckbündnis
Eins hat die Pandemie deutlich gezeigt: Die EU ist ein Zweckbündnis, das der Erleichterung des Handels zwischen den 27 Mitgliedsstaaten dient. Die Staaten einander näher gebracht hat das Bündnis nicht, wie das Verhalten der einzelnen Regierungen während Corona demonstriert hat (und weiter demonstriert). Ob dieses Verhalten gerechtfertigt oder moralisch falsch war, soll an anderer Stelle erörtert werden. Hier sei nur dies festgehalten: In der Krise hat die Union keine Bedeutung, jeder Einzelstaat vertritt ausnahmslos seine eigenen Interessen.
Dies macht eines endgültig deutlich: Wir müssen anfangen, über die EU nachzudenken. Wie sinnvoll ist eine Organisation, die sich über einen ganzen Kontinent erstreckt? Wie sollen Staaten eine Gemeinschaft bilden, die sich politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell so stark unterscheiden wie Malta und Finnland, wie Irland und Rumänien? Selbst wenn die gemeinsame Währung gerade für ein so exportorientiertes Land wie Deutschland von Vorteil sein sollte: Wer legt eigentlich fest, dass wirtschaftliche Gesichtspunkte grundsätzlich schwerer wiegen als andere Aspekte?
Für mich steht eins fest: Die Kooperation mit vielen (süd)osteuropäischen Ländern ist aus politischen Gründen schwierig, und wird noch viel schwieriger werden, sollten weitere Staaten wie Serbien oder Albanien in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Was die Zusammenarbeit mit den Südländern angeht: Sie ist aus wirtschaftlichen sowie aus wirtschafts-kulturellen Gründen kaum noch möglich. Spanien, Frankreich, Italien: Sie sind alle hochverschuldet und von der Corona-Krise am stärksten betroffen, weshalb Experten schätzen, dass der Verschuldungsgrad der drei Mittelmeer-Anrainer nach der Krise auf rund 150 Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandprodukts anwachsen könnte. Zum Vergleich: In Deutschland sind es derzeit knapp über 60 Prozent, durch die Corona-Hilfspakete wird die Zahl voraussichtlich auf 70 Prozent ansteigen. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was sich die Südländer leisten.
Griff nach der Weltmacht
Was heißt das nun? Dass Deutschland sich in Zukunft den Herausforderungen einer globalisierten Welt alleine stellen sollte?
Nein, das heißt es nicht. Im fernen Asien schickt sich eine neue Supermacht an, das Weltgefüge politisch und wirtschaftlich grundlegend zu verändern. Man darf skeptisch sein, ob es China tatsächlich gelingen wird, die USA als Weltmacht Nummer eins abzulösen. Militärisch ist das Reich der Mitte davon noch meilenweit entfernt, und auch wirtschaftlich ist China nicht so stark, wie es oft scheint: Die Verschuldung vieler Unternehmen ist hoch, die Zahl der nicht überlebensfähigen Zombie-Firmen Legion. Darüber hinaus steigen die Gehälter überproportional zur Produktivität, die von westlichen Standards noch weit entfernt ist.
Dennoch ist China für Deutschland weniger ein Konkurrent denn eine Bedrohung. Nehmen wir die USA: Amerikanische und deutsche Unternehmen konkurrieren auf Augenhöhe. Chinesische und deutsche tun das nicht, denn in China sitzt fast immer der Staat mit im Boot. Mit anderen Worten: Es heißt General Electric gegen Siemens, aber nicht Huawei gegen Siemens, sondern China gegen Siemens.
Häufig werden in deutschen Medien Untergangs-Szenarien verbreitet: Wir sollten uns von ihnen nicht beirren lassen. Die Chinesen sind nicht omnipotent, und was den Lebensstandard anbelangt: Die durchschnittliche Kaufkraft eines Chinesen (berechnet auf Grundlage des Einkommens und der Lebenshaltungskosten) beträgt genau ein Drittel des eines Deutschen. Das ist der Preis, den China dafür zahlt, eine gelenkte Marktwirtschaft zu haben. Aber nach außen, im internationalen Wettbewerb, sind die einzelnen Mitglieder eines auf solche Weise organisierten Systems weitaus stärker, als es die einzelnen Mitglieder des in Deutschland herrschenden Systems – der freien beziehungsweise sozialen Marktwirtschaft – sein können. Das heißt, einen freien, fairen Wettbewerb zwischen chinesischen und deutschen Unternehmen kann es unter den derzeit herrschenden Bedingungen nicht geben. Und genau deshalb, und weil das 80-Millionen-Einwohner-Land Bundesrepublik dem 1,4-Milliarden-Staat China auch in politischer Hinsicht mehr entgegensetzen muss, ist es für Deutschland notwendig, zusammen mit anderen Akteuren ein neues Bündnis zu schmieden.
Ein neues Bündnis
Die Mitglieder dieses Bündnisses müssen europäische Staaten sein, die sich kulturell ähnlich sind. Und die vergleichbare wirtschaftspolitische Ziele verfolgen.
Das sind zunächst einmal die mitteleuropäischen Staaten Österreich, Luxemburg, Niederlande, vielleicht Belgien. Einer Reihe von osteuropäischen Staaten könnte das Bündnis auch offenstehen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, den baltischen Staaten, Polen. Darum habe ich oben auch von den „gleichen wirtschaftlichen Zielen“ gesprochen, nicht den gleichen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Wichtig ist, dass die Mitglieder des neuen Bündnisses allesamt wirtschaftliche Stabilität anstreben (wie es die südeuropäischen Staaten eben nicht tun). Weil aber keine wirtschaftliche Parität zwischen ihnen besteht, und damit nicht wieder – wie in der EU üblich – Kompetenzgerangel einer einheitlichen politischen Linie im Wege steht, ist es notwendig, das neue Bündnis stärker hierarchisch zu organisieren. Und das heißt: Das in jeder Hinsicht – wirtschaftlich, politisch, militärisch – stärkste Bündnismitglied wird einen überproportionalen Anteil an Befugnissen erhalten müssen. Dieses Bündnismitglied heißt Deutschland.
Was ist eigentlich mit der deutsch-französischen Freundschaft, mögen Skeptiker an dieser Stelle fragen. Für den von den Schreckensereignissen des Zweiten Weltkriegs traumatisierten Helmut Kohl war ein enges Verhältnis zwischen Paris und Bonn (ja, das war damals die deutsche Hauptstadt) stets Staatsräson. Doch hat sich die Welt seit den Zeiten des „ewigen Kanzlers“ gewandelt – ein Krieg zwischen den beiden ehemaligen Erzfeinden ist heute völlig ausgeschlossen. Deshalb braucht und sollte Frankreich – wo, wie oben bereits ausgeführt , ganz andere wirtschaftspolitische Vorstellungen herrschen als in Mitteleuropa – dem neuen Bündnis nicht angehören, was darüber hinaus auch noch den Vorteil hat, dass von Paris keine Provokationen mehr ausgehen, deren Ziel es ist, die Grande Nation gegenüber der Bundesrepublik in die Vorhand zu bringen.
Die von mir hier skizzierte neue europäische Ordnung ist ein gedankliches Konzept. Einige mögen ihm zustimmen, andere es nur in Teilen gutheißen, noch wieder andere es rundherum ablehnen. Unabhängig davon, welchen Weg Deutschland und Europa nehmen werden, bin ich mir eines sicher: Beide Gebilde, der Kontinent als auch das große, mächtige Land in seiner Mitte, werden sich in ihrer politischen Verfasstheit verändern, und zwar in gar nicht ferner Zukunft. Zur Unterstützung meiner These möchte ich Ihnen, liebe Leser, die fiktive Person eines 105-jährigen geborenen Berliners vorstellen, der sein ganzes Leben in seiner Heimatstadt verbrachte, und zwar im Osten der Stadt.
Geboren 1915 im Kaierreich, verlebte er Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik. Anschließend, bis er 30 wurde, regierten die Nationalsozialisten. Danach erlebte er eine knappe Handvoll Jahre sowjetischer Besatzung, bevor er sein Arbeitsleben in der DDR verbrachte, dort auch in Rente ging. Als mittlerweile schon recht alter, aber immer noch rüstiger Mann, wurde er Zeuge der Wiedervereinigung, lebte in der Bundesrepublik und war hautnah dabei, als Berlin wieder Hauptstadt wurde. In sein Greisenalter fiel und fällt die Phase, in der immer mehr Kompetenzen von Berlin auf Brüssel übergehen.
Wird der alte Herr noch eine weitere Ära erleben? Angesichts seines hohen Alters ist das nahezu ausgeschlossen. Aber innerhalb von 105 Jahren lebte er in sieben Systemen: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, sowjetische Besatzung, DDR, Bundesrepublik, „Brüsseler Republik“. Das sind, im Durchschnitt, genau 15 Jahre pro System. Wie wahrscheinlich ist es da, dass es nicht in absehbarer Zeit wieder zu einem Systemwechsel kommt?
Ein natürlicher Verbündeter
Allein wird das neue europäische Bündnis allerdings nicht stark genug sein, um China Paroli bieten zu können. Es benötigt Verbündete, die dem gleichen Kulturraum angehören und ein vergleichbares Wirtschaftssystem ihr Eigen nennen. Der wichtigste dieser Verbündeter wird ein alter Bekannter sein: Die USA.
Amerikas Engagement in Europa ist geringer geworden, nicht zuletzt deshalb, weil der Kalte Krieg vorbei und die Präsenz der US-Army deswegen nicht mehr notwendig ist. Einem Barack Obama, dessen Wurzeln in Hawaii liegen, war transatlantisches Denken fremd, er suchte sein Land stärker Richtung Pazifik auszurichten. Und unter seinem Nachfolger Donald Trump gilt ausschließlich „America first“.
Aber die Zeiten werden sich ändern. Spätestens in vier Jahren ist die Ära Trump vorüber. Ich erwarte sogar, dass das schon viel früher der Fall sein wird: Corona wird die USA wirtschaftlich (und nicht zuletzt auch psychisch-moralisch) so hart treffen, dass der amtierende Präsident abgewählt werden wird (man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass er schon bei seiner Wahl vor vier Jahren weniger als die Hälfte der Stimmen bekam und nur wegen des besonderen Wahlrechts der USA, das die Rolle der 50 Einzelstaaten besonders hoch bewertet, den Sieg davontrug). Trump wird nicht müde, zu betonen, dass alle Erfolge in wirtschaftlicher Hinsicht ausschließlich auf seine kluge Politik zurückzuführen sind. Geht es mit der US-Wirtschaft bergab, gibt es dann kaum noch etwas, mit dem er bei Wechselwählern punkten kann.
Sein Nachfolger wird wieder verstärkt den Schulterschluss mit Europa suchen. Die USA werden angesichts der chinesischen Bedrohung die Notwendigkeit einsehen (müssen), dass die Rückkehr zur bilateralen Politik der Nachkriegs-Ära ihre einzige Option ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Tatsache verweisen, dass rund 45 Millionen Amerikaner (also 14 Prozent der Gesamtbevölkerung) deutschen Ursprungs sind und in deutlich mehr als der Hälfte aller Countys (Kreise) die Gruppe der Deutsch-Amerikaner die zahlenmäßig größte Ethnie ausmacht. Und auch wenn ein Ozean die beiden Länder trennt: Kulturell hat Deutschland mit den USA weitaus mehr gemeinsam als mit so manchem geografisch viel näher liegendem Land in Europa.
Über die Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt lässt sich trefflich streiten. DWN-Gastautor Moritz Enders vertritt eine ganz andere Meinung als der DWN-Chefredakteur. Lesen Sie seine Sicht der Dinge in diesem Artikel.