Deutschland

Regierung erwartet deutlich mehr Kurzarbeit als in der Finanzkrise

Die Kurzarbeit wird in der Virus-Krise nach Einschätzung der Bundesregierung einen neuen Rekordstand erreichen. Die Kurzarbeit werde derzeit stärker genutzt als während der Finanzkrise
08.04.2020 14:59
Aktualisiert: 08.04.2020 14:59
Lesezeit: 2 min
Regierung erwartet deutlich mehr Kurzarbeit als in der Finanzkrise
Zweigstelle der Agentur Bundesagentur für Arbeit in Oberhausen, Nordrhein-Westfalen. (Foto: dpa) Foto: Fabian Strauch

Die Kurzarbeit in der Virus-Krise wird nach Einschätzung der Bundesregierung die Rekordzahl von knapp 1,5 Millionen betroffenen Beschäftigten im Frühjahr 2009 weit übertreffen. In einer von Bundesfinanzminister Olaf Scholz an die SPD-Fraktion verschickten Übersicht aller Maßnahmen der Bundesregierung zur Bewältigung der Krise heißt es, es zeichne sich "eine ungleich intensivere Nutzung als in der Finanzkrise 2008/09 ab".

In dem Reuters am Mittwoch vorliegenden Papier wird auf eine erste Auswertung der Bundesagentur für Arbeit (BA) verwiesen. Demnach betrafen die bis zum 25. März geprüften Kurzarbeitanzeigen von 55.300 Betrieben rund 1,05 Millionen Beschäftigte. Dies berücksichtigt aber weniger als ein Achtel aller 470.000 Betriebe, die bis Ende März Kurzarbeit angezeigt haben.

Ein BA-Sprecher verwies darauf, dass die Behörde keine Prognose über die Inanspruchnahme der Kurzarbeit abgeben könne. Anders als in der Krise 2008/2009 sind nicht nur große Industriebetriebe etwa aus der Automobilwirtschaft, sondern weitere Branchen wie Gastgewerbe und Handel bis hin zu kleinen Selbstständigen betroffen. Die Auswertung der bis zum 25. März geprüften Anzeigen zeigt, dass die meisten der davon betroffenen Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen (272.000), Baden-Württemberg (166.000) und Bayern (136.000) angesiedelt sind.

FORSCHUNGSINSTITUTE ERWARTEN 2,4 MILLIONEN KURZARBEITER

Die BA will in Kürze neue Zahlen vorlegen, wie viele Unternehmen Kurzarbeit angezeigt haben. Die Zahl dürfte noch einmal deutlich zugelegt haben. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrer am Mittwoch vorgelegten Frühjahrsprognose mit etwa 2,4 Millionen Kurzarbeitern im Durchschnitt des zweiten Quartals.

In seiner Verordnung zur Ausweitung der Kurzarbeit ging Arbeitsminister Hubertus Heil davon aus, dass mindestens 2,15 Millionen Beschäftigte als Folge der Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus von Kurzarbeit und damit von Einkommensverlusten betroffen sein werden. In der Bundesregierung wird derzeit darüber beraten, für geringe und mittlere Einkommen das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Bisher erstattet die BA 60 Prozent und für Beschäftigte mit Kindern 67 Prozent des Einkommensausfalls durch Kurzarbeit.

DAIMLER VERLÄNGERT KURZARBEIT BIS ENDE APRIL

Daimler will angesichts der andauernden Corona-Krise die Beschäftigten in Deutschland noch länger in Kurzarbeit halten. "Wir haben vor, die Maßnahme Kurzarbeit in den meisten Werken bis Ende April zu verlängern", erklärte Finanzchef Harald Wilhelm am Mittwoch. Trotz des Absatzrückgangs im ersten Quartal habe das Unternehmen in allen drei Geschäftsfeldern - Cars/Vans, Truck/Bus und Mobilitätsdienstleistungen - operativ schwarze Zahlen geschrieben. Im ersten Quartal war der Absatz der Kernmarke Mercedes-Benz um fast 15 Prozent weltweit gegenüber dem Vorjahresquartal gesunken.

Das schon vor der Corona-Pandemie eingeleitete Sparprogramm, mit dem Daimler den tiefgreifenden Umbruch in der Branche bewältigen will, werde durch die Krise beschleunigt, ergänzte Wilhelm, ohne in Details zu gehen. Die im November angekündigten Maßnahmen sollten schneller umgesetzt werden.

KURZARBEIT IN CHEMIE- UND PHARMABRANCHE

In der Chemie- und Pharmabranche steigt die Zahl der Kurzarbeiter in der Corona-Krise rasant. Im April werden voraussichtlich knapp 85.000 Beschäftigte in Kurzarbeit sein, heißt es in einer Umfrage des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC) unter fast 250 Mitgliedsfirmen. Das seien jeder siebte Mitarbeiter oder 14 Prozent in der Branche mit ihren 580 000 Beschäftigten hierzulande. Zum März verfünffache sich damit der Anteil der Menschen in Kurzarbeit, heißt es in dem Papier, das der dpa am Mittwoch vorlag.

Die Corona-Krise treffe die Branche weit stärker als die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, sagte BAVC-Präsident Kai Beckmann. Damals seien in der Spitze etwa 50.000 Beschäftigte in der Chemie- und Pharmaindustrie in Kurzarbeit gewesen. Heute seien Unternehmen entlang der Zulieferketten für die Autoindustrie wie Lacke, Kunststoff, Reifen und Fasern am stärksten betroffen.

In der gesamten Branche werde es im April in fast der Hälfte der Betriebe (43 Prozent) Beschäftigte in Kurzarbeit geben. Meist gehe es aber nur um einzelne Bereiche oder Produktionslinien. Ursache für Kurzarbeit sei meist die fehlende Nachfrage (76 Prozent).

Zugleich zeigten die Daten, dass 85 Prozent der Branchenbeschäftigten im üblichen Umfang arbeiteten, so Beckmann. "So kann unsere Industrie die Produktion bisher weitgehend aufrechterhalten." Er forderte einen Ausstieg aus den Corona-Beschränkungen: Man brauche dringend einen Plan mit nachvollziehbaren Kriterien, um das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben schrittweise wieder hochzufahren. "Anderenfalls werden noch mehr Lieferketten reißen, wir werden noch mehr Nachfrage verlieren und die Kurzarbeit zusätzlich ausdehnen müssen."

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Experten-Webinar: Ist Bitcoin das neue Gold? – Chancen, Risiken und Perspektiven

Inflation, Staatsverschuldung, geopolitische Unsicherheiten: Viele Anleger fragen sich, wie sie ihr Vermögen in Zeiten wachsender...

DWN
Panorama
Panorama EU-Reform könnte Fluggastrechte deutlich schwächen
01.06.2025

Von Verspätungen betroffene Fluggäste haben in Zukunft möglicherweise deutlich seltener Anspruch auf Entschädigung. Die EU-Staaten...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wettlauf um die Zukunft: Wie die USA ihre technologische Überlegenheit retten wollen
01.06.2025

China wächst schneller, kopiert besser und produziert billiger. Die USA versuchen, ihre Führungsrolle durch Exportverbote und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Freelancer: Unverzichtbare Stütze in flexiblen Arbeitswelten
01.06.2025

Trotz Homeoffice-Boom bleibt die Nachfrage nach Freelancern hoch. Warum Unternehmen auf Projektarbeiter setzen, wo die Vorteile liegen –...

DWN
Politik
Politik „Choose Europe“: Brüssel will Gründer mit Kapital halten
31.05.2025

Die EU startet einen neuen Wachstumsfonds, der Start-ups mit Eigenkapital unterstützen und in Europa halten soll. Doch Geld allein wird...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Energiewende umgekehrt: US-Firmen fliehen vor Trumps Klimapolitik – nach Europa
31.05.2025

Während Trump grüne Fördermittel in den USA kürzt, wendet sich die Clean-Tech-Branche von ihrer Heimat ab. Jetzt entstehen in Europa...

DWN
Politik
Politik Ärztepräsident warnt vor „Versorgungsnotstand“
31.05.2025

Ärztepräsident Klaus Reinhardt warnt vor Beeinträchtigungen im medizinischen Netz für Patienten, wenn nicht bald Reformen zu mehr...

DWN
Finanzen
Finanzen Gesetzliche Erbfolge: Wer erbt, wenn es kein Testament gibt
31.05.2025

Jeder kann selbst bestimmen, wer seine Erben sein sollen. Wer das allerdings nicht durch ein Testament oder einen Erbvertrag regelt und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Datensammeln ohne Richtung: Warum der falsche Analyst Ihrem Unternehmen schadet
31.05.2025

Viele Unternehmen sammeln Daten – doch ohne den richtigen Analysten bleiben sie blind. Wer falsche Experten einsetzt, riskiert...