Politik

Der Bürger-Verrat der Sozialdemokraten führte zum Aufstieg der Nationalisten in Europa

Lesezeit: 8 min
09.08.2020 12:00
Der Aufstieg der Nationalisten in Europa ist auf den Verrat der Sozialdemokraten an ihren Idealen zurückzuführen. Doch auch die Zerschlagung der "demokratischen Rechte" spielte eine wichtige Rolle.
Der Bürger-Verrat der Sozialdemokraten führte zum Aufstieg der Nationalisten in Europa
Wahlurnen mit dem Logo der SPD. (Foto: dpa)
Foto: Daniel Karmann

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In ganz Europa und vielen anderen Teilen der Welt scheinen die traditionellen sozialdemokratischen Parteien im Niedergang begriffen zu sein. In Westeuropa verlor die Unterstützung für sozialdemokratische und sozialistische Parteien bei den französischen und niederländischen Wahlen 2017 stark an Bedeutung. Bei den deutschen Parlamentswahlen 2018 erhielt die einst so mächtige Sozialdemokratische Partei (SPD) den niedrigsten Stimmenanteil seit dem Ende der Weimarer Republik, und in Skandinavien kämpfen die Mitte-Links-Parteien um ihre Zukunft.

Die Situation in Mittel- und Osteuropa ist noch schlimmer. In Ungarn erhielt die Sozialistische Partei (MSzP), ursprünglich eine der stärksten Parteien nach dem Übergang zur Demokratie, bei den Wahlen zur Nationalversammlung im April 2018 nur zwölf Prozent der Stimmen. In Polen ist die sozialdemokratische Demokratische Linke Allianz (SLD) nicht mehr im Parlament vertreten, und in der Tschechischen Republik haben sich bei den Parlamentswahlen 2017 nur sieben Prozent der Wähler für die Mitte-Links-Sozialdemokratische Partei (CSSD) entschieden. Der Trend setzte sich bei den Wahlen zum 751-köpfigen Europäischen Parlament im Mai 2019 fort, bei denen der Block der Mitte-Links-Sozialisten und Demokraten 38 der 191 Sitze verlor, die er 2014 innehatte.

Ein kurzer länderspezifischer Abriss verschafft uns einen Überblick:

Deutschland

Ihren Höhepunkt erzielte die SPD bei den Bundestagswahlen im Jahr 1972 mit 45,8 Prozent. Ihren Tiefpunkt erreichte die SPD im Jahr 2017 mit 20,5 Prozent.

Italien

Die italienische sozialdemokratische Partido Democratico (PD) wurde im Jahr 2007 aus einem Zusammenschluss von mehreren linken Parteien gegründet. Bei den Parlamentswahlen 2008 erzielte die PD 33,09 Prozent. Bei den Wahlen im Jahr 2018 erreichte sie 18,74 Prozent.

Großbritannien

Die Wahl 1983 markierte für die Labour-Partei einen Tiefpunkt. Unter ihrem Vorsitzenden Michael Foot erhielt die Partei nur 27,6 Prozent der Stimmen. Bei der Wahl 1987 erhielt die Partei nur 30,8 Prozent, wohingegen die Tories 42,2 Prozent erhielten. Bei den Unterhauswahlen 2015 verfehlte Labour einen Sieg. Labour erhielt 30,5 Prozent und die Tories 36,9 Prozent. Im vergangenen Jahr erzielte Labour 32,5 Prozent und die Tories 43,6 Prozent.

Frankreich

Im Jahr 1981 gelangt die sozialistische Partei (PS) unter Francois Mitterand als Präsident erstmals an die Macht. Er erhielt 34,11 Prozent der Stimmen. Jacques Chirac erhielt nur 19,96 Prozent der Stimmen. Erst im Mai 2012 konnten sich die Sozialisten erstmals seit Mitterand gegen die UMP durchsetzen. Der PS-Kandidat Francois Hollande siegte knapp mit 51,6 Prozent über Sarkozy, der 48,4 Prozent erhielt. Bei der Parlamentswahl 1997 erzielte die PS als stärkste Kraft 23,49 Prozent. Die Gaullisten der Rassemblement pour la Republique (RPR) erzielten 15,65 Prozent und lagen damit auf dem zweiten Platz. Der Front National (FN) erreichte mit 14,94 Prozent den dritten Platz. Bei der Parlamentswahl 2002 erzielte die PS als zweitstärkste Kraft 24,11 Prozent. Die UMP gewann die Wahlen mit 33,3 Prozent. Der FN erhielt 11,34 Prozent.

Bei der Parlamentswahl 2007 baute die UMP ihren Vorsprung aus und erhielt 39,54 Prozent. Die PS erhielt lediglich 24,73 Prozent. Im Jahr 2012 gewann die PS die Parlamentswahlen mit 29,35 Prozent. Die UMP erhielt 27,12 und der FN 13,79 Prozent. Im Juni 2017 erzielte die PS 7,44 Prozent und büßte im Vergleich zu den Wahlen zuvor insgesamt 21,91 Prozentpunkte ein.

Portugal

Den absoluten Höhepunkt erlebte die Partido Socialista (PS) bei den Parlamentswahlen 2005. Damals erhielt sie unter Jose Socrates 45 Prozent der Stimmen und gewann die Wahlen. Die Sozialdemokraten (PSD) waren mit 28,77 Prozent zweitplatziert. Bei den Parlamentswahlen 2009 erhielt sie nur noch 36,6 Prozent, während die PSD 29,11 Prozent erhielt. Bei den Parlamentswahlen 2019 erreichte die PSD 27,76 und die PS 36,4 Prozent. Damit büßte die PSD 10,59 Prozent ein, während die PS 4,03 Prozent dazu gewann.

Spanien

Die sozialistische PSOE erzielte bei der Parlamentswahl 1982 mit 48,1 Prozent ihren ersten und letzten Höhepunkt. Gonzalez übernahm das Amt mit sehr viel Vertrauen innerhalb der Bevölkerung. Ab diesem Jahr verlor die PSOE kontinuierlich an Zustimmung. Bei den Parlamentswahlen 2011 erhielt sie nur noch 28,8 Prozent. Bei den darauffolgenden Parlamentswahlen im Jahr 2015 und 2016 erhielt sie 22,0 und dann 22,6 Prozent, während die konservative Volkspartei (PP) 2016 auf 33 und die linke Protestpartei auf 21,2 Prozent der Stimmen kam. Bei den Parlamentswahlen 2019 konnte die PSOE 28,0 Prozent erzielen. Die PP erzielte 20,81 Prozent und Vox erzielte 15,08 Prozent.

Griechenland

Ihren Höhepunkt erlebte die griechische sozialdemokratische Partei PASOK insbesondere in den 1980er Jahren. Bei den Parlamentswahlen 1981 erhielt sie unter Parteichef Andreas Papandreou 48,07 Prozent und wurde damit Sieger. Auch im Jahr 1985 ging sie unter Papandreou mit 45,82 Prozent als Sieger aus den Wahlen hervor. Im Jahr 1993 wurde sie – ebenfalls unter Papandreou – mit 46,88 Prozent, 1996 mit 41,49 Prozent unter Costas Simitis und im Jahr 2000 mit 43,79 Prozent ebenfalls unter Costas Simitis Wahlsieger.

Im Jahr 2009 erlebte die Partei unter George Papandreou ihren letzten Höhepunkt. Sie erhielt bei den Parlamentswahlen 43,92 Prozent und wurde Wahlsieger. Doch anschließend kam unter der Führung von Evangelos Venizelos der große Einbruch. Unter ihm erzielte PASOK bei den Parlamentswahlen im Mai 2012 nur 13,18 Prozent. Bei den Wahlen im Juni 2012 fiel PASOK auf 12,28 Prozent und bei den Wahlen im Januar 2015 auf 4,68 Prozent. Bei den Wahlen im September 2015 konnte die Partei unter Fofi Gennimata 6,28 Prozent erzielen. Mittlerweile spielt PASOK überhaupt keine Rolle mehr in der griechischen Politik.

Türkei

Die sozialdemokratische CHP erreichte bei den Parlamentswahlen 1977 ihren Höhepunkt von 41,38 Prozent. Ihren Tiefpunkt erreichte die Partei im Jahr 1999 mit 8,71 Prozent. Danach erholte sie sich etwas und erzielte im Jahr 2002 19,39 Prozent. Bei den darauffolgenden verschiedenen Wahlen im Jahr 2007 erzielte sie 20,88 Prozent, im Jahr 2011 25,95 Prozent, im Juni 2015 24,95 Prozent und im November 2015 25,32 Prozent. Bei den Parlamentswahlen 2018 erzielte die Partei 22,7 Prozent - ein Rückgang von 2,6 Prozentpunkten.

Israel

Die israelische Arbeiterpartei Avoda erzielte ihren Bestwert im Jahr 1969 mit 46,2 Prozent. Ihren absoluten Tiefpunkt erreichte sie bei den Wahlen 2009 mit 9,93 Prozent. Bei den Wahlen im Jahr 2013 erhielt sie 11,39 Prozent und bei den Wahlen im Jahr 2015 18,73 Prozent. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2019 rutschte Avoda auf 4,80 Prozent ab.

Belgien

Die Parti Socialiste (PS) erreichte ihren Höhepunkt bei den Wahlen im Jahr 1987 mit 15,66 Prozent. Als Tiefpunkt ist die Wahl im Jahr 1999 einzustufen, wo sie 10,26 Prozent erreichte. Bei den vergangenen Nationalwahlen im Jahr 2014 erzielte die PS 11,67 Prozent. Bei den Parlamentswahlen 2019 rutschte die PS um 2,2 Prozentpunkte auf 9,5 Prozent ab.

Der dritte Weg: Pakt zwischen Sozialdemokratie und Neoliberalismus

Der herrschenden Meinung zufolge kam es im späten 20. Jahrhundert zum Abstieg der europäischen sozialdemokratischen Parteien, weil sie sich bei vielen wirtschaftlichen Fragen in das politische Zentrum bewegt hatten. Allerdings muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden, dass es weitaus schlimmer war. Die Ursünde der europäischen Sozialdemokraten ist ideell auf den Wissenschaftler Anthony Giddens zurückzuführen, der im Jahr 1998 das Buch “Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie” veröffentlicht hatte. Dieser dritte Weg der Sozialdemokratie führte in ganz Europa dazu, dass die Sozialdemokraten vollständig in das Lager des Neoliberalismus abgeglitten sind. Tony Blair und Gerhard Schröder waren die führenden Vertreter dieser Idee. Was in Großbritannien “The Third Way” genannt wurde, nannte Schröder “Neue Mitte”.

Am 22. Juli 2001 berichtete der Tagesspiegel: “Die SPD spricht heute kaum noch über das Schröder/Blair-Papier, groß war der Widerstand. Vor allem der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine stellte höhnisch fest, der Dritte Weg sei überhaupt kein Weg - ,der Dritte Weg ist ein Holzweg’. Für Lafontaine läuft diese Modernisierung der Sozialdemokratie im Endeffekt auf die Befürwortung eines globalen uneingeschränkten Marktkapitalismus heraus. Der Dritte Weg ist demnach nicht mehr und nicht weniger als die teilweise Anpassung der Sozialdemokraten an den neoliberalen Zeitgeist.”

Giddens hielt seinen Kritikern entgegen, dass die Sozialdemokratie keine andere Wahl hatte, als sich zu reformieren. “Die Entstehung neuer globaler Märkte, die wissensbasierte Ökonomie und das Ende des Kalten Krieges haben die Möglichkeiten der Nationalstaaten beschnitten, ihre Volkswirtschaften zu steuern und die immer zahlreicheren Sozialleistungen zu erbringen. Man kann Ungleichheit nicht mehr, falls dies jemals möglich war, durch eine reine Einkommensumverteilung bekämpfen. Bestimmte wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die einer Bekämpfung der Armut dienen sollten, haben sie vielmehr zementiert oder sogar erst hervorgebracht”, meint Giddens.

Giddens Kritiker beschreiben ihn hingegen als “neoliberalen Ideologen”. Schlussendlich hat das Einlenken der europäischen Sozialdemokraten auf Giddens dazu geführt, dass es zu einer Entfremdung zwischen den Bürgern und den sozialdemokratischen Parteien gekommen ist. Wer erinnert sich nicht an diesen seltsamen Wind der Erneuerung unter Schröder? An die Abwehrhaltung zahlreicher Sozialdemokraten, die mundtot gemacht wurden?

Doch nun dreht sich das Rad der Geschichte in die entgegengesetzte Richtung. Die Globalisierung, der Neoliberalismus und die Deregulierung der Märkte ist einem starken Gegenwind ausgesetzt. Es hat sich ein weltweites Lager gegen diese politische Ausrichtung gebildet. Sie reicht von Donald Trump und Wladimir Putin über Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Mihály Orbán und Boris Johnson bis hin zu Benjamin Netanjahu.

Man kann sehr wohl argumentieren, dass der weltweite Aufstieg des nationalistischen Lagers, das sich gegen die Globalisierung aufstellt, direkt auf das Versagen der Sozialdemokratie zurückzuführen ist.

Das Versagen besteht aus dem Verrat der sozialdemokratischen Idee durch sozialdemokratische Entscheidungsträger zugunsten der Globalisierung und des Neoliberalismus.

Die demokratische Rechte als zweite Säule

Das Aufkommen der nationalistischen Parteien in Europa war nur deshalb möglich, weil das sozialdemokratische Lager durch diesen eklatanten Verrat komplett in sich zusammengefallen ist wie ein Kartenhaus. Der zweite wichtige Faktor, der zum Aufstieg der Nationalisten führte, war die Fragmentierung der demokratischen Rechten. Die demokratische Rechte ist der einzige reale Pfeiler, der in der Parteienlandschaft durch die Sozialdemokratie als dialektischer Gegner gestützt werden muss, um den Aufstieg der extremen Rechten, die sehr leicht erpressbar und manipulierbar ist, zu verhindern.

Der ehemalige Ministerpräsident Bayerns, Franz Josef Strauß, hatte im Jahr 1986 nicht grundlos folgende Worte gewählt: “Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben!”

Edmund Stoiber führt in einer Kolumne im Bayernkurier aus: “Viele Jahrzehnte lang haben in Deutschland mit Union und SPD zwei große Volksparteien neben der Mitte der Gesellschaft auch die demokratische Rechte beziehungsweise Linke politisch abgebildet (...) Die Union hat am rechten Flügel Konkurrenz durch die AfD bekommen, obwohl diese Partei und ihr Führungspersonal durch eine wachsende Nähe zum Rechtsextremismus auffallen und Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit angebracht sind (...) Wenn immer mehr traditionell konservative Menschen, die Zuwanderung nicht nur als Bereicherung empfinden oder alles in allem stolz auf ihr Land sind, vom Mainstream tabuisiert werden, werden die Träger dieser Positionen aus dem akzeptierten Meinungsspektrum an den rechten Rand gedrängt und deren Ansichten dort diskutiert und noch bestärkt (...) Diese systematische Ausgrenzung eines beachtlichen Teils der Bevölkerung führt nur zur Stärkung der Ränder und zur Schwächung der Volksparteien.”

Was Stoiber in seiner Kolumne erwähnt, ist richtig. Allerdings sind soziale Ursachen der eigentliche Grund für den Aufstieg von Parteien, die sich trügerischerweise als “Befreier” aufspielen. Die Sozialdemokraten haben den sozialen Abstieg ganzer Bevölkerungsteile durch eine Gesetzgebung, die sich zum Nachteil von Arbeitnehmern ausgewirkt hat, regelrecht beschleunigt.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die größte Reaktion gegen die Eliten kommt nicht von Menschen, die bereits über Jahre hinweg arbeitslos sind, sondern von Menschen, die durchgehend mit der Angst leben müssen, arbeitslos zu werden oder in existenzielle Not zu geraten. Hinzu kommt die enorme Panikmache im Verlauf der Flüchtlingskrise, die gezielt über die sozialen Medien gesteuert wurde, um die Sicherheitsbedürfnisse der Bürger im Umfeld einer surrealen Welt zu erschüttern.

Das erklärt auch, warum die AfD und ähnliche Parteien eben keine Wähler aus der Unterschicht, sondern vor allem Wähler aus der Mittelschicht mobilisieren können.

Allerdings sollten die Wähler sich keinen Illusionen hingeben. Keine Partei und keine Regierung wird in den kommenden Jahren die Fähigkeit aufweisen können, die Probleme im Land zu lösen, weil die negativen Faktoren (intern und extern), die unter anderem durch die Corona-Krise verstärkt wurden, zu groß sind.

Es ist eher zu erwarten, dass sich in Europa links- und rechtsnationalistische Kräfte durchsetzen werden, um auf den Teller zu spucken, aus dem sie essen.

Und dieser Teller nennt sich "EU".

                                                                                ***

Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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