Der im Zuge der Corona-Krise verhängte Lock-Down hat die Menschen an ihre Wohnungen gebunden und – vermeintlich – demonstriert, dass man auf Vieles verzichten und trotzdem ein gutes Leben führen könne. Die von Moralisten der verschiedensten politischen, philosophischen und religiösen Richtungen gerne betrieben Kritik an der Konsumgesellschaft hat jetzt viele neue Anhänger. Dieses Phänomen spielt dieser Tage eine wichtige Rolle beim Kaufverhalten, wird also zu einem bestimmenden Wirtschaftsfaktor.
„Braucht“ man nur das zum Überleben Notwendige?
Wirtschaft wird immer stark von der psychischen Verfassung der Menschen bestimmt. Käme jetzt eine Aufbruchsstimmung zustande, würde die Gesellschaft allgemein die Zukunft positiv beurteilen, wären die Verluste weniger bedeutsam. Da aber derzeit die Überzeugung vorherrscht, dass man einer länger anhaltenden Krise entgegengeht, zeichnet sich generell eine Konsumverweigerung ab, die die Probleme vergrößert. Für eine zusätzliche Verschärfung sorgt die immer öfter gehörte Frage „Brauchen wir, brauch ich das alles wirklich?“ Im Corona-Stillstand ist ein gesellschaftspolitischer Sprengstoff entstanden, der in Zukunft Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändern könnte.
Der Wohlstand, der seit vielen Jahren das Leben eines Großteils der Menschen in den entwickelten Ländern bestimmt, steht auf dem Prüfstand. Die Antwort auf die Frage „Brauche ich denn das alles?“ ist einerseits sehr einfach: Nein. Man braucht nur Nahrungsmittel, die ausreichen, um den Hunger zu stillen; ein Minimum an Kleidung; eine wie immer geartete Unterkunft; und im Winter eine Heizstelle, an der sich mehrere Personen aufwärmen können.
Man braucht ein menschengerechtes, menschenwürdiges Leben
Anderseits: Ist die Beschränkung auf das Notwendige, also auf Dinge, die mal gerade eben die nackte Not abwenden, ethisch und moralisch? Ist die Aussage „So ärmlich möchte ich nicht leben“ verwerflich? Auch hier ist die Antwort einfach: Wohl kaum. Der Anspruch auf ein „menschenwürdiges“ Leben ist legitim! Askese und Verzicht sind keine universell gültigen menschengerechte Lebensformen. Vor allem stellen sie keinen höheren Wert an sich dar. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was denn ein „menschenwürdiges, menschengerechtes“ Leben sei. Umfasst letzteres wirklich nur das absolut Notwendige, und nicht auch das, was das Leben lebenswert macht? Die Wohnung, die Mahlzeiten, das Auto, Fernseher, Zeitung und Internet, Theaterbesuche und Bücher, Sportveranstaltungen, Reisen – kurzum, angenehme Lebensumstände, Kultur, Selbstverwirklichung, ein gewisses Maß an Freiheit? Die Einzelheiten mögen in den unterschiedlichen Gruppen verschieden gewichtet sein: Jung und Alt, Bildungsbürger und Arbeiterschicht, Stadt- und Landbevölkerung – sie mögen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Doch Bedürfnisse an sich: Die haben sie alle.
Eine kleine historische Anmerkung: Im Schloss Versailles, dem Prunkbau des Sonnenkönigs Ludwig XIV, war der Komfort in vielerlei Hinsicht geringer als in der kleinsten heutigen Wohnung. So gab es damals keine sanitären Anlagen, die hohen Adeligen erleichterten sich oft auf den Stufen vor dem Schloss. Wollen wir das heute wieder?
Erst Kaufrausch, dann Depression und Askese: Die psychische Verfassung kippt leicht um 180 Grad
Die tatsächliche Problematik der viel kritisierten Konsum-, Überfluss- oder Wegwerfgesellschaft besteht nicht im Konsum an sich, sondern in dem Umstand, dass Viele sich nicht wirklich überlegen, wie sie ihr Leben und ihr Umfeld gestalten wollen, sondern ziel- und planlos nach dem bloßen Besitz von Gütern streben. Die Beispiele sind Legion: Vom protzigen Auto über die überdimensionierte Wohnung bis hin zum teuersten Handy oder zum Fernsehapparat in Kinogröße. Der Kauf- und Besitz-Rausch nimmt dabei allerdings häufig eine 180-Grad-Wende, geht von hier auf jetzt in einen depressiven Zustand über, in dem materielle Güter auf einmal nichts mehr zählen, sondern, im Gegenteil, der Lust auf Verzicht, die Wonne der Askese, die Überhand gewinnen. Am Ende ist der Mensch unzufrieden und unbefriedigt, sowohl beim Raffen und Horten, als auch im Zustand der materiellen Enthaltsamkeit. Beide Extreme sorgen nicht für Wohlbefinden und Erfüllung, die letztlich Sinn des Wirtschaftens sind.
Es kann nicht Sinn des Lebens sein, Besitztümer zu erwerben. Aber: Die Predigt der Moralisten, nur der Verzicht sei edel, läuft genauso ins Leere. Genau wie ihre Kritik an der Werbewirtschaft, weil diese Dinge anpreist, die „niemand braucht“. Doch das ist Unfug: Die Werbewirtschaft macht nur das, wozu sie geschaffen wurde, nämlich, den Konsumenten die Angebote der Unternehmen zu präsentieren. Ob sie darauf eingehen, ist Sache der Konsumenten. Der Ansatz der Moralisten stellt auf eine Entmündigung der Konsumenten ab. In die gleiche Richtung weist der von verschiedenen Institutionen betriebene „Konsumentenschutz“, der davon ausgeht, dass Konsumenten unfähig wären zu erkennen, was sie wollen und sollen. Eins steht doch wohl außer Frage: Die Menschen müssen eigenständig und eigenverantwortlich die Frage beantworten „Wie will ich leben?“, und unweigerlich auch die Frage: „Was kann ich mir leisten, ohne jeden finanziellen Spielraum zu verlieren?“ Diese Entscheidung kann ihnen niemand abnehmen.
Nur bei einem gefestigten Konsumverhalten ist die Wirtschaft stabil
Die Politik interessiert sich lediglich für die Einkommen: Renten und Arbeitslosengeld sollen möglichst hoch sein. Die Bezieher höherer Einkommen will man zwar gerne schonen, doch müssen sie als Steuerzahler den Staat erhalten. Den Begriff des „menschengerechten Umfelds“ findet man hingegen kaum je. Das ist auch bis zu einem gewissen Grad richtig so, weil in einer freien Gesellschaft jeder sein eigenes Umfeld gestalten muss und sollte, wobei das jeweils verfügbare Einkommen ohnehin Grenzen setzt.
Hilfreich wäre allerdings, würde es gelingen – und da wäre die Politik eigentlich gefordert – dass generell in der Bevölkerung das Leben auf hohem Niveau als selbstverständlich und moralisch richtig angesehen wird. Diese Einstellung würde den Bezug zum Konsum entkrampfen. Auch die Anstrengungen, die notwendig sind, um das entsprechende Lebensumfeld zu schaffen, bekämen einen anderen, einen positiven Charakter und wären nicht mehr „Arbeitsleid“. Man kann diesen Faktor auch ökonomisch ausdrücken: Ein gefestigtes Konsumverhalten bildet einen wesentlichen Stabilisator der Wirtschaft und somit der Gesellschaft und des Staates.
Konsumverzicht bedeutet Massenarbeitslosigkeit. Ist das ethisch?
Um bei der Ökonomie zu bleiben: Würde man sich konsequent nur dem Notwendigen verschreiben, so gäbe es in Deutschland nicht 45 Millionen Erwerbstätige, sondern bestenfalls 15 Millionen, die übrigen 30 Millionen wären arbeitslos und müssten von den 15 Millionen Arbeitenden am Leben erhalten werden. Ich frage noch einmal: Wäre das ein erstrebenswerter Zustand?