Das Geschehen an den Finanzmärkten gleicht seit einigen Wochen einer Achterbahnfahrt. Es scheint fast, als hätten die Börsen es darauf abgesehen, in diesem Jahr so viele Rekorde wie möglich aufzustellen.
Nachdem der DAX im Februar 2020 seinen historischen Höchststand von fast 13.800 Punkten erreicht hatte, registrierte die Frankfurter Börse im März mit einem Verlust von fast vierzig Prozent innerhalb von weniger als zwei Wochen den schnellsten Absturz, den sie je erlebt hat. Nach der Zusage der größten jemals gewährten Geld-Injektionen durch die EZB kam es anschließend im April zur schnellsten Erholung aller Zeiten. Inzwischen hat sich der DAX kurzfristig sogar wieder der 13.000er Marke genähert und trotz des aktuellen scharfen Rücksetzers scheint ein neuer Höchststand in den kommenden Wochen nicht ausgeschlossen.
Ähnlich wie in Deutschland sieht es international aus. Der Dow Jones als wichtigster Aktienindex der Welt hatte die Verluste der vergangenen Monate nach dem dramatischen Absturz im März fast vollständig ausgeglichen und vor dem Einbruch in dieser Woche bereits wieder Kurs auf die 28.000 Punkte genommen – und das, obwohl die Wirtschaftsdaten genau wie in Deutschland und dem Rest der Welt verheerend sind.
„Die Finanzmärkte haben sich von der Realwirtschaft entkoppelt“, geben mittlerweile auch Finanz-Medien zu. Diese Entkoppelung hat allerdings bereits vor knapp fünfzig Jahren stattgefunden, und wir erleben zurzeit nichts anderes als die Endphase eines langen historischen Prozesses, der im August 1971 begann.
Die Weichen wurden 1971 gestellt
Mit der Loslösung des Dollars vom Gold wurde am 15. August 1971 dem 1944 in Bretton Woods festgelegten weltweiten Geldsystem der Boden entzogen. Zusammen mit der kurz darauf einsetzenden Deregulierung – der kontinuierlichen Beseitigung rechtlich einengender Vorschriften für das Finanzgewerbe – begann mit der Finanzialisierung der Weltwirtschaft eine neue historische Ära. Die Zulassung von Hedgefonds, die Einführung immer neuer Derivate und die Abschaffung des Trennbankensystems in den angelsächsischen Ländern ermöglichten eine Entwicklung, durch die der globale Finanzsektor förmlich explodieren und sich in ein riesiges Casino verwandeln konnte.
Damit aber stiegen nicht nur die Gewinnchancen, sondern auch die Risiken. Wie groß diese waren, zeigte sich zum ersten Mal 1998, als der Zusammenbruch des US-Hedgefonds „Long Term Capital Management“ das internationale Finanzgebäude fast zum Einsturz gebracht hätte. Damals gelang es einer Gruppe von Banken unter der Führung der US-Zentralbank FED, das System durch den Einsatz von etwa vier Milliarden Dollar zu retten.
2007/08 kam es zum nächsten Beinahe-Crash. Diesmal reichte die Finanzkraft der Großbanken allerdings nicht mehr aus, um die entstandenen Verluste auszugleichen. Deshalb mussten die Staaten mit Steuergeldern in dreistelliger Milliardenhöhe einspringen. Da selbst diese Summen nicht ausreichten, um das System dauerhaft zu stabilisieren, mussten die Zentralbanken anschließend eingreifen und immer mehr Geld zu immer niedrigeren Zinsen vergeben. Da sie jedoch wussten, dass ein solches Regime nicht dauerhaft aufrecht zu erhalten war, begannen sie ab 2015, die Zinsen anzuheben und dem System Geld zu entziehen.
Die Zentralbanken legen nach und nach alle Hemmungen ab
Dieser zunächst zaghafte Versuch wurde 2018 verschärft, endete jedoch in einem Fiasko. Nachdem die FED den Leitzins im Dezember desselben Jahres zum vierten Mal innerhalb eines Jahres erhöht hatte, erlebten die Aktienmärkte zu Weihnachten 2018 den stärksten Einbruch seit über siebzig Jahren. Daraufhin erfolgte die große Umkehr, und seitdem erleben wir Zentralbanken, die nach und nach immer mehr Hemmungen ablegen, wenn es darum geht, das System nicht zusammenbrechen zu lassen.
Der erste große Eingriff erfolgte durch die Federal Reserve im September 2019, als der Repo-Markt, an dem sich große in den USA tätige Finanz-Institutionen über Nacht refinanzieren, in Schwierigkeiten geriet. Bis heute hat die FED mit mehr als drei Billionen Dollar eingegriffen und Banken sowie Hedgefonds damit über Wasser gehalten.
Der nächste große Eingriff erfolgte im März dieses Jahres, als die Börsen nach dem Absturz des Ölpreises weltweit einbrachen und die Situation sich durch den globalen Lockdown als Antwort auf die Corona-Pandemie drastisch verschlimmerte. Sowohl die FED als auch die EZB reagierten, indem sie sämtliche Geldschleusen öffneten, Billionensummen mobilisierten und den Aufkauf von Unternehmensanleihen – sogar solchen mit Ramsch-Status – ankündigten.
Die Rettung gelang nicht nur ein weiteres Mal, sondern löste zudem einen fulminanten Boom an den Finanzmärkten aus. Der wiederum hat nicht nur viele Anleger versöhnt, sondern auch ungewöhnlich viele Neulinge in die Aktienspekulation einsteigen lassen. Sie alle scheinen überzeugt, dass das Finanzsystem wie nach dem letzten Beinahe-Crash auch diesmal wieder einen jahrelangen Aufwärtstrend erleben wird.
Werden wir wieder einen 12jährigen Aufwärtstrend erleben?
Damit aber begeben sie sich auf ganz dünnes Eis. Der Crash von 2007/08 und die gegenwärtige Situation unterscheiden sich nämlich grundlegend voneinander. Während der Crash von damals seine Ursachen großenteils im Finanzsystem hatte und hauptsächlich Banken, Versicherungen und Hedgefonds betraf, sieht die Situation diesmal vollkommen anders aus.
Zwar haben wir es aktuell auch mit extremen Problemen im Finanzsystem zu tun, doch diesmal kommt der Zusammenbruch der weltweiten Realwirtschaft infolge des Lockdowns hinzu, dessen Folgen wegen der internationalen Verzahnung von Lieferketten und Handelswegen noch gar nicht abzusehen sind. Vor allem aber sind die Löcher, die das Geschehen der vergangenen drei Monate in die Staatshaushalte gerissen hat, viel größer als beim letzten Mal, ganz zu schweigen von der Bilanzausweitung der Zentralbanken, die exponentielle Formen angenommen hat.
Ein Blick auf die Schuldenentwicklung des amerikanischen Staatshaushaltes und ein weiterer auf die Bilanz der US-Zentralbank Federal Reserve genügen, um die Dramatik der gegenwärtigen Situation zu erkennen: Lag die US-Staatsverschuldung 2008 noch bei zehn Billionen Dollar, so hat sie im Mai 2020 die Grenze von 26 Billionen überschritten und allein in den letzten zwei Monaten um 2 Billionen Dollar zugenommen - bei weiterhin ansteigendem Tempo.
Noch extremer sieht es bei der FED aus. Deren Bilanz betrug im August 2008 – einen Monat vor der Lehman-Pleite – unter einer Billion US-Dollar, stieg dann bis Januar 2015 auf 4,5 Billionen Dollar und wurde anschließend bis zum August 2019 auf 3,8 Billionen Dollar verringert. Heute, ganze neun Monate später, liegt sie bei atemberaubenden 7,1 Billionen Dollar.
Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Firmensterbens im Mittelstand, der globalen Massenarbeitslosigkeit und der daraus resultierenden sinkenden Nachfrage, kann man angesichts dieses sich selbst beschleunigenden Mechanismus mit großer Sicherheit voraussagen, dass wir nicht noch einmal einen 12jährigen Boom an den Finanzmärkten erleben werden. Die Logik des Systems zwingt die Zentralbanken ganz unabhängig vom Willen der Banker, in immer kürzeren Abständen immer mehr Geld zu erschaffen und es zu immer niedrigeren Zinsen zu vergeben.
Schulden mit Schulden bekämpfen – ein aussichtsloses Unterfangen
Das Geld aber wird, wie der Boom der vergangenen Wochen eindrucksvoll gezeigt hat, nicht in die Realwirtschaft, sondern erneut zum größten Teil in die Finanzspekulation fließen. Da die Zentralbanken gleichzeitig wegen der dramatischen weltweiten Zunahme der Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden sozialen Spannungen gezwungen sein werden, Helikoptergeld zu verteilen und auf diese Weise die Inflation anzuheizen, wird ein Prozess in Gang gesetzt, der nur als Fiasko enden kann: Die Realwirtschaft wird weiter verkümmern und das Finanzcasino wird sich noch schneller drehen.
Dadurch wird eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale in Gang gesetzt, deren Umdrehungsgeschwindigkeit rasant zunehmen und der Welt beweisen wird, was passiert, wenn Zentralbanker und Politiker meinen, Schulden mit noch mehr Schulden bekämpfen zu können.