Die US-Finanzmärkte erleben seit drei Monaten einen einzigartigen Aufschwung. Das zweite Quartal war für sie das Beste seit mehr als zwanzig Jahren. Der Dow Jones stieg um 18 Prozent und erzielte die höchsten Gewinne seit 1987, der S&P erreichte mit 20 Prozent den schnellsten Zuwachs seit 22 Jahren. Der Technologie-Index Nasdaq brachte es sogar auf ein Plus von 31 Prozent. Ein Ende des Booms: Er scheint nicht in Sicht.
Die US-Realwirtschaft dagegen befindet sich derzeit im Zerfall. Sie befindet sich in der tiefsten Rezession seit den 1930er Jahren und verzeichnete im zweiten Quartal 2020 einen noch schnelleren Rückgang als in der Großen Depression. Gegenwärtig mehren sich die Anzeichen, dass 2020 das seit mehr als einem Jahrhundert schlechteste Wirtschaftsjahr der amerikanischen Geschichte werden könnte.
Wie passt das alles zusammen?
Vordergründig scheint es, als hätten sich hier zwei Welten entwickelt, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Zwar war klar, dass es nach den dramatischen Einbrüchen vom März zu einer Gegenbewegung an den Börsen kommen würde, doch selbst unter Insidern hätte wohl niemand einen so lang anhaltenden Aufwärtstrend für möglich gehalten. Aber wie kommt es zu diesem historisch einmaligen Missverhältnis zwischen dem, was an den Finanzmärkten geschieht, und der Entwicklung der Realwirtschaft?
Ein Grund dafür sind die riesigen Rettungspakete, die einmal mehr vom Weißen Haus und der US-Zentralbank FED in das System gepumpt wurden. Mit mittlerweile 6,5 Billionen Dollar handelt es sich um die höchsten jemals aufgebrachten Summen. Und nicht nur in den USA wurden schwere Geschütze aufgefahren: Die Regierungen in Europa, Japan und China haben insgesamt zwölf Billionen Dollar zur Rettung des Systems beigetragen, womit die globale Gesamtsumme der Rettungsgelder mittlerweile etwa 22,5 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes ausmacht.
Ein Großteil dieses Geldes ist in der Tat wegen der anhaltenden Rezession und der düsteren Aussichten für die Realwirtschaft in das globale Finanzcasino geflossen und hat für einen kräftigen Anstieg an den Börsen gesorgt. Doch das allein reicht als Erklärung für den gegenwärtigen Boom nicht aus. Dieser weist nämlich einige zum Teil aberwitzige Besonderheiten auf, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.
Start-Ups als Kurstreiber
Dazu gehört unter anderem der Höhenflug von Elon Musks Autounternehmen Tesla, dessen Aktienkurs sich innerhalb eines Jahres versiebenfacht hat und das mittlerweile weit mehr wert ist als VW, obwohl der deutsche Autohersteller mehr als fünfzehn Mal so viele Autos wie Tesla verkauft. Oder der fast irrsinnig anmutende Anstieg der Hertz-Aktie, deren Wert sich nach der Insolvenzverkündung zeitweile versechzehnfachte. Oder der Kurs der Fluggesellschaft United Airlines, der sich trotz der historischen Einbrüche im Flugbetrieb zwischen dem 14. Mai und dem 8. Juni mehr als verdoppelte – knapp fünf Wochen, bevor das Unternehmen für 36.000 Beschäftigte Kurzarbeit beantragte.
Das sind nur drei Beispiel für einen Markt, der auf den ersten Blick neuen, bisher unbekannten Gesetzen zu folgen scheint, für dessen Kapriolen es aber eine Erklärung gibt: Während des Lockdowns im Rahmen der Corona-Krise sind nämlich viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Idee gekommen, sich mit Aktien zu beschäftigen. Dabei sind zahlreiche von ihnen, die sonst hauptsächlich zum Gamen (Videospielen) im Netz waren, auf Daytrading-Plattformen gestoßen, die sich in der jüngeren Vergangenheit darauf spezialisiert haben, Neu-Einsteiger in das riskante Geschäft mit der Aktienspekulation zu locken.
Diese zum großen Teil sehr jungen Start-Ups verlangen vom User keine Gebühren, bieten häufig ein „Einstiegsgeschenk“ und ermöglichen es durch professionelle Apps fürs Handy, innerhalb von kürzester Zeit mit dem Traden loszulegen. Außerdem bieten sie ihren Kunden an, die Einsätze zu „hebeln“, das heißt: Sie machen es den Usern leicht, sich Geld zu leihen und die Wetteinsätze auf diese Weise um ein Mehrfaches zu erhöhen.
Erfolgreichstes Unternehmen dieser Art ist das 2013 gegründete und seit 2015 am Markt aktive Start-Up „Robinhood“, das nach eigenen Aussagen mittlerweile über mehr als zehn Millionen Kundenkonten verfügt. Robinhood betreibt eine Website namens „Robintrack“, die stündlich anzeigt, wie viele Robinhood-User zu diesem Zeitpunkt welche Aktien halten. Da fast allen Neueinsteigern Börsenerfahrungen fehlen, orientieren sich viele an diesen Charts und folgen ganz einfach der Meute.
Traden statt Gamen
Angefacht wird das Geschäft durch zahlreiche selbsternannte „Aktien-Gurus“. Eine der schillerndsten Figuren in diesem Geschäft ist der amerikanische Internet-Promi David Portnoy, der eine Website mit Sportwetten („Barstool Sports“) betreibt und im Zuge der Corona-Krise zum Star der jungen Anleger-Szene aufgestiegen ist. Portnoy brüstet sich gelegentlich damit, Aktien von Unternehmen zu kaufen, deren Namen er noch nie gehört hat, die ihm sein Unterbewusstsein aber ans Herz legt.
Dass ein derart unseriöser Charakter einen solchen Erfolg haben kann, liegt ganz gewiss nicht daran, dass Portnoy über Fähigkeiten verfügt, die andere nicht besitzen. Es liegt einzig und allein daran, dass hier ein von sich selbst überzeugter Schwätzer zur für ihn richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen ist.
Die Bewegungen an den Finanzmärkten während des Corona-Lockdowns haben nämlich bei einer großen Zahl von Laien ein vollkommen falsches Bild der Realität im Finanzsektor erzeugt. Viele von ihnen haben gesehen, wie die Aktienmärkte zunächst abgestürzt sind, dann aber eine Kehrtwende vollzogen und eine historisch einmalige Rallye hingelegt haben. Das und die Tatsache, dass es vor der Corona-Krise bereits eine zwölfjährige Phase ständig ansteigender Kurse gegeben hat, verleitet diese Laien dazu, Gurus wie Portnoy zu glauben, wenn diese behaupten, Märkte würden nur eine Richtung kennen – nach oben.
Hinzu kommt, dass besonders viele junge Internet-User durch den Lockdown in Kurzarbeit waren und eine große Zahl von ihnen immer deutlicher gespürt hat, dass der eigene Arbeitsplatz und damit das eigene Einkommen nicht mehr sicher sind. Das hat viele veranlasst, sich nach zusätzlichen Geldquellen umzusehen und so die große Stunde der Trading-Plattformen schlagen lassen: Sie haben die Zukunftsangst dieser jungen Menschen genutzt, sie bei ihrer Begeisterung fürs Gamen gepackt und diese ganz einfach auf den Bereich der Aktienspekulation übertragen, und das mit riesigem Erfolg.
Die schöne Scheinwelt der Daytrader
Was vielen wie ein Freifahrschein zu zusätzlichem Einkommen oder sogar zur Anhäufung großer Vermögen erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen allerdings als eine äußerst gefährliche Falle. Die Trading-Plattformen gaukeln den jungen Menschen nämlich eine Welt vor, die nicht viel mit der harten Börsenwirklichkeit zu tun hat.
So behaupten die Betreiber von Robinhood auf ihrer Website, sie verfolgten die Mission, „das Finanzsystem für alle zu demokratisieren“. Aus diesem Grund würden sie von ihren Kunden keine Gebühren verlangen und es Einsteigern ermöglichen, teure Aktien gestückelt zu kaufen und bereits mit nur einem Dollar mit dem Traden beginnen zu können.
Das klingt fast, als handle es sich um ein karitatives Unternehmen mit hohen ethischen Ansprüchen. Tatsächlich aber sind die Gebühren nur geschickt versteckt, denn bei Robinhood handelt es sich um ein Fintech, das mit den Daten seiner User handelt und sich durch deren Verkauf das Geld hereinholt, das ihm an Gebühreneinnahmen entgeht. Und hinter dem Angebot gestückelter Aktien steckt nichts anderes als der Versuch, junge Menschen mit wenig Anfangskapital in den Markt zu locken.
Die größte Gefahr für die vielen jungen Trader aber liegt ganz woanders, denn mit einem Marktwert von sieben Milliarden US-Dollar hat Robinhood seinen Gründern zwar viel Geld eingebracht, ist aber im Vergleich zu den Markt-Giganten bisher trotzdem nur ein kleines Licht.
So verwalten die Manager des größten Vermögensverwalters der Welt, Blackrock, mit sieben Billionen US-Dollar ein Vielfaches des Start-Ups, sind an fast allen wichtigen Unternehmen der Welt beteiligt und haben dazu mit ihrem Großrechnersystem „Aladdin“ Zugriff auf so gut wie alle wichtigen Finanzdaten der vergangenen dreißig Jahre. Außerdem beherrschen sie das Prinzip des „financial engineering“, also des Vor-sich-Hertreibens der Märkte, so perfekt wie kein anderes Unternehmen.
Da die Aktienmärkte zurzeit eine der größten Blasen der vergangenen Jahrzehnte erleben, kann man davon ausgehen, dass die Blackrock-Führung nur auf einen geeigneten Moment wartet, um den nächsten Börsencrash entweder mit der eigenen Marktmacht auszulösen oder ihm den zur eigenen Bereicherung nötigen Schwung zu verleihen.
Das alles natürlich nicht, ohne vorher mit gehebelten Einsätzen auf fallende Kurse gewettet zu haben, um am Ende als Sieger dazustehen und den Usern von Trading-Apps damit auf brutale Weise klargemacht zu haben, dass sie sich von modernen Rattenfängern in ihr Verderben haben locken lassen.