Finanzen

Multiple Krisen in London: Brexit-Chaos, Jahrhundert-Rezession und ein Kniefall vor Trump

Die britische Regierung hat sich in eine gefährliche wirtschaftliche und politische Sackgasse manövriert. Ein Handelsabkommen mit den USA auf Augenhöhe wird es nicht geben, zudem drohen Massenarbeitslosigkeit und ein ungeregelter Brexit. Mit China - welches auf vielen Feldern Chancen bieten könnte - hat man es sich inzwischen verscherzt.
31.08.2020 11:00
Lesezeit: 5 min
Multiple Krisen in London: Brexit-Chaos, Jahrhundert-Rezession und ein Kniefall vor Trump
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson. (Foto: dpa)

Die britische Regierung hat sich in eine wirtschaftliche und politische Sackgasse manövriert. Während ein ungeordnetes Ausscheiden aus der EU immer wahrscheinlicher wird, sind die Träume von einem auf Augenhöhe verhandelten Freihandelsabkommen mit den USA geplatzt. Jetzt deuten erste Vorstöße aus London eine Unterordnung gegenüber Washington an, um die im Zuge der Corona-Pandemie noch verstärkte Schieflage der öffentlichen und wirtschaftlichen Finanzelage wenigstens mit einem suboptimalen Freihandelsabkommen abzufedern.

So will der britische Finanzminister Rishi Sunak einem Zeitungsbericht zufolge die Steuer für amerikanische Technologie-Riesen wie Facebook und Google abschaffen. Zur offiziellen Begründung hieß es, die Steuer bringe nicht so hohe Einnahmen und sei zudem eine Hürde für ein Freihandelsabkommen mit den USA, wie die Mail on Sunday berichtete. Die Regierung in London hatte die Digitalsteuer erst im April einseitig eingeführt, weil die Gespräche darüber auf internationaler Ebene kaum Fortschritte machten. In Großbritannien werden Einnahmen von rund 500 Millionen Pfund (554 Millionen Euro) erwartet.

„Wir haben klar gesagt, dass das eine vorübergehende Steuer ist, die ersetzt wird, sobald eine passende globale Lösung in Kraft ist“, zitiert die Zeitung einen Vertreter des Finanzministeriums. Diese globale Lösung ist derzeit jedoch überhaupt nicht in Sicht. Vom Ministerium war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten.

Zeichen der Unterordnung

Die Abschaffung der Digitalsteuer soll aus Sicht Londons offenbar einen Durchbruch bei den Freihandelsgesprächen mit den Amerikanern ermöglichen und ist primär als eine Art Unterordnung zu verstehen, um in der aktuell schwierigen Wirtschaftslage überhaupt noch ein Resultat zustande zu bringen. Schon vor einigen Wochen wurde nämlich klar, dass die amerikanische Seite nicht bereit ist, den Briten trotz des traditionell guten Verhältnisses beider Staaten in zentralen Bereichen entgegenzukommen, wie die Deutschen Wirtschaftsnachrichten damals berichteten.

Prekäre Finanz- und Wirtschaftsdaten

Die Konzillianz der britischen Regierung wurzelt im Druck, der von der angeschlagenen Wirtschaft des Landes sowie der aus dem Ruder laufenden Staats- und Privatschulden ausgeht.

So hat der Schuldenberg des Staates inzwischen ein Allzeithoch erreicht. Die öffentlichen Verbindlichkeiten stiegen im Juli erstmals über die Marke von 2 Billionen Pfund (rund 2,2 Billionen Euro). Die Schuldenstandquote - also die Relation von Staatsschulden zur Jahreswirtschaftsleistung - stieg auf 100,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und markierte damit den höchsten Stand seit 1961.

Viel folgenreicher dürfte allerdings die schwere Rezession sein, in welche die britische Volkswirtschaft gestürzt ist. Im zweiten Quartal schrumpfte die Wirtschaftsleistung um 20,4 Prozent im Vergleich zum Vorquartal, wie das Statistikamt ONS Mitte August nach einer ersten Schätzung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Monate April bis Juni mitteilte. Zwar kam es im Juli und August verglichen mit dem zweiten Quartal zu einer deutlichen Erholung - diese fällt aber deutlich zu schwach aus, um das Niveau des Vergleichszeitraums des vergangenen Jahres zu erreichen.

Die Zukunft am Arbeitsmakt sieht recht düster aus: Beobachter rechnen mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Fast täglich kündigen britische Unternehmen Stellenstreichungen an. Zuletzt hatte die Einkaufshauskette Marks & Spencer den Abbau von 7.000 Stellen bekanntgegeben. „Hunderttausende haben ihren Job verloren - und leider werden in den kommenden Monaten noch viel mehr hinzukommen“, wird Finanzminister Sunak zitiert. Bislang federte die Regierung die Folgen der Pandemie mit einem Programm (Job Retention Scheme) ab, das der deutschen Kurzarbeit nachempfunden ist. Doch das läuft nun schrittweise bis Ende Oktober aus. Zahlte der Staat noch bis Ende Juli 80 Prozent der Gehälter und den Arbeitgeberanteil der Sozialabgaben, müssen Unternehmen seit August wieder selbst für die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Angestellten aufkommen. Im September und Oktober kommen je zehn Prozent des Gehalts hinzu. Im November zieht sich der Staat dann komplett zurück.

Nicht nur der Staat - auch Bürger und Firmen stehen tief in der Kreide

Doch nicht nur der Staat, insbesondere auch die Bürger und Unternehmen des Landes sind hoch verschuldet. Dem Guardian zufolge sollen alleine in der Corona-Pandemie rund 4,6 Millionen Bürger mindestens 6 Milliarden Pfund neue Schulden aufgenommen haben - die Zahlen seien aber wahrscheinlich viel höher, so das Blatt. Jeder achte in Kurzarbeit Beschäftigte habe bereits Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

Der Guardian beschreibt die Situation vieler Briten und kleinerer Unternehmen mit drastischen Worten:

Mehr als eine Million kleiner Firmen haben Notfall-Kredite ohne die üblichen Bonitätsprüfungen bekommen. Ein Großteil dieses Geldes dürfte dazu verwendet worden sein, die Miete für die inzwischen geschlossenen Geschäfte zu zahlen. Für viele dieser Unternehmer wird langsam klar, dass es keine schnelle Rückkehr zur Normalität geben wird. Viele davon werden untergehen - inklusive vieler Firmen mit einer eigentlich soliden Geschäftsidee, welche aber nicht die finanziellen Reserven haben, um unseren Quasi-Lockdown zu überstehen. Wenn das passiert, dann wird dem Gläubiger 100 Prozent seiner Forderungen vom Staat erstattet - die Firma und die Arbeiter bekommen nichts.

Unterdessen sind viele Haushalte mit einem perfekten Sturm aus einbrechenden Einkommen und steigenden Kosten konfrontiert, weil die Aussetzung der Rückzahlungspflichten bei Schulden sich ihrem Ende nähert und das Kurzarbeit-Programm ausläuft. (..) Einige Daten legen nahe, dass weniger als die Hälfte der ausstehenden Mieten während des Lockdowns bezahlt wurden. Wenn das Verbot von Zwangsräumungen aufgehoben wird, wird wahrscheinliche eine Welle der Obdachlosigkeit folgen.

Nicht zu unterschätzen sind auch die Folgen der Pandemie für die Gesundheit der Briten selbst. Großbritannien hat mit rund 50.000 Menschen die meisten Toten aller europäischer Staaten zu verkraften. Die Pandemie deckte darüber hinaus die schlechte Aussstattung und Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens auf der Insel auf.

Ein Nackenschlag namens „Brexit“

Auch in den Verhandlungen mit der EU um die genauen Details des Austritts aus der Union sieht es schlecht aus und eine Einigung vor Jahresende gilt inzwischen als so gut wie ausgeschlossen. Großbritannien hat die Europäische Union zwar bereits Ende Januar verlassen, gehört aber bis Jahresende noch zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion. Ohne Einigung droht zum Jahreswechsel ein harter wirtschaftlicher Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen, die beiden Seiten erheben - wobei Großbritannien als kleinerer Markt mit hohen Importquoten aus der EU eher den Kürzeren ziehen dürfte. Eine Frist zur Verlängerung des Übergangszeitraums ließ London übrigens Ende Juni ungenutzt verstreichen. Offenbar hofft Premierminister Boris Johnson, den ungeregelten Austritt dazu nutzen zu können, Großbritannien als Niedrigsteuerzone vor Kontinentaleuropa zu positionieren.

Die „doppelte Bedrohung“ durch eine mögliche zweite Coronavirus-Welle und die langsamen Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen seien besorgniserregend, sagte Alpesh Paleja vom britischen Industrieverband CBI der Nachrichtenagentur Reuters. Von der Regierung forderte er „maximale Agilität“, um die Zukunft der Wirtschaft zu sichern.

Ähnlich wie im Falle der Wirtschaftsverhandlungen mit den USA erwarten Beobachter auch mit Blick auf den EU-Austritt, dass die britische Regierung letztendlich einknicken wird. So kommentiert die Magedburger Volksstimme: „Die Gefahr eines harten Brexit ist vermutlich nicht so groß, wie die Verlautbarungen über den Stand der Verhandlungen vermuten lassen. Möglicherweise glauben die Briten kurz vor dem Stichtag unter Zeitdruck noch mehr erreichen zu können. Auf jeden Fall muss Premier Boris Johnson vor den harten Brexiteers dokumentieren, dass die Regierung bis zuletzt gekämpft hat, bevor sie dann doch Kompromisse gemacht hat. In den Verhandlungspaketen ist genug Spielraum, um einen Vertrag zu gestalten, mit dem beide Seiten leben können. Die Corona-Krise, die Großbritannien besonders trifft, wird ein Übriges tun, um die Brexit-Verhandlungsführer zum Einlenken zu bringen. Die britische Regierung hat schon unter normalen Umständen mit einer schwierigen Übergangsphase nach dem Brexit gerechnet. Corona-Krise und harter Brexit könnten aber ein Desaster anrichten, das auch ein Johnson nicht riskieren wird.“

Mit Peking hat man es sich verscherzt

China, dass in der gegenwärtigen Situation nicht nur als dringend benötigter wirtschaftlicher Partnern und Absatzmarkt, sondern auch als politischer Verbündeter sehr hilfreich wäre, wird sich davor hüten, Großbritannien derzeit öffentlich zu unterstützen.

In den vergangenen Monaten hatte sich das bilaterale Verhältnis zwischen beiden Ländern deutlich verschlechtert. So ließ die britische Regierung praktisch keine Gelegenheit aus, die Chinesen diplomatisch vor den Kopf zu stoßen. Nicht nur belehrte man Peking angesichts der monatelangen und teilweise äußerst zerstörerischen Proteste in der Sonderverwaltungszone Hongkong öffentlich zu Themen wie „Menschenrechten“ und „Pressefreiheit“, weil China schließlich ein Sicherheitsgesetz erließ, welches festlandchinesischen Sicherheitsbehörden mehr Durchgriffsrechte in Hongkong gestattet - London bot zudem hunderttausenden Hongkongern auch die Einreise nach Großbritannien und die Vergabe der britischen Staatsbürgerschaft an.

Zuletzt schloss Johnson auch den chinesischen Technologiekonzern Huawei vom Aufbau des britischen 5G-Mobilfunknetzes aus - eine Entscheidung, die als Entgegenkommen gegenüber der US-Regierung verstanden werden muss, welche seit geraumer Zeit weltweit einen Feldzug gegen den Konzern führt.

Nachdem die britische Regierung dann auch ein Auslieferungsabkommen Großbritanniens mit Hongkong aufgekündigt hatte, drohte China mit „scharfen Gegenmaßnahmen“. Außenamtssprecher Wang Wenbin sagte, die britische Regierung solle „ihre Fehler sofort korrigieren“, um die Beziehungen zu China nicht weiter zu schädigen. Auch weitete London das für China geltende Waffenembargo auf Hongkong aus.

Der chinesische Außenamtssprecher sah „fehlerhafte britische Äußerungen und Maßnahmen gegenüber Hongkong“. „Hongkong ist eine innere Angelegenheit Chinas, und kein Land hat ein Recht, sich einzumischen“, sagte der Sprecher zu den Entscheidungen der früheren britischen Kolonialmacht.

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