Die Vereinten Nationen (UN) werden in diesem Herbst 75 Jahre alt, und wenn dies ein normales Jahr wäre, würden sich viele Staatsoberhäupter in New York versammeln, um diesen Meilenstein zu feiern und die Jahrestagung der Generalversammlung zu eröffnen.
Aber dieses Jahr ist alles andere als normal. Wegen der Corona-Pandemie wird es kein Treffen geben – und selbst wenn, gäbe es kaum Grund zum Feiern. Die Vereinten Nationen sind nämlich weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, „freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln“ und „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme zu lösen“.
Wie der Sicherheitsrat versagt
Anhand der Pandemie wird deutlich, warum. Der UN-Sicherheitsrat, die wichtigste Komponente des UN-Systems, hat selbst dafür gesorgt, weitgehend an Relevanz zu verlieren. China hat eine maßgebliche Rolle für das Exekutivorgan der UN blockiert, damit es nicht für sein anfängliches Fehlverhalten im Umgang mit dem Ausbruch des Coronavirus kritisiert und für die Folgen verantwortlich gemacht werden kann. Die Weltgesundheitsorganisation hat sich China unterdessen schon früh gefügt und ist durch die Entscheidung der Vereinigten Staaten, die WHO zu verlassen, weiter geschwächt worden. Das Ergebnis ist, dass die Großmächte die Vereinten Nationen bekommen, die sie wollen, und nicht die, die die Welt braucht.
Nichts davon ist neu. Während der vier Jahrzehnte des Kalten Krieges wurden die UN zum Austragungsort für Rivalitäten zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Tatsache, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde (wie es aufgrund der Konkurrenz zwischen Großmächten im zwanzigsten Jahrhundert zweimal zuvor der Fall gewesen war), ist weniger auf die Geschehnisse in den Vereinten Nationen zurückzuführen als vielmehr auf die nukleare Abschreckung und ein Kräftegleichgewicht, das die USA und die Sowjetunion zu großer Vorsicht zwang. Der wichtigste Anlass, bei dem die UN zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens intervenierten – indem sie eine internationale Truppe einsetzten, um gegen Nordkoreas Aggression gegen Südkorea vorzugehen – war nur möglich, weil die Sowjetunion die damals entscheidende Sitzung boykottierte.
Eine einmalige Ausnahme
Es gab weit verbreitete Hoffnungen, dass die UN nach dem Kalten Krieg eine größere Rolle spielen könnten. Die Optimisten schienen Recht zu behalten, als die Länder der Welt 1990 im UN-Sicherheitsrat zusammenkamen, um die Invasion Kuwaits durch Saddam Hussein zu verurteilen und die Souveränität des Emirats letzten Endes wiederherzustellen.
Leider erwies sich der Golfkrieg als Ausnahme. Der Kalte Krieg war gerade zu Ende gegangen, und die Beziehungen zwischen den USA, China und der Sowjetunion waren relativ gut. Wenig Zuneigung gab es für den irakischen Diktator, dessen Aggression die grundlegende internationale Norm verletzte, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert werden sollten. Und das Ziel der von der UN abgesegneten, von den USA geführten Koalition war begrenzt und konservativ: Die Vertreibung der irakischen Streitkräfte und die Wiederherstellung des Status quo in Kuwait, nicht der Sturz des irakischen Regimes.
Solche Bedingungen ließen sich nicht einfach reproduzieren. Die Beziehungen zwischen den Großmächten wurden in den darauf folgenden Jahren immer schlechter, und die UN verloren zunehmend an Bedeutung. Russland (das den Sitz der Sowjetunion im Sicherheitsrat erbte) verhinderte ein einheitliches Vorgehen, um das Blutvergießen auf dem Balkan zu stoppen. Ein Mangel an internationaler Unterstützung veranlasste die Regierung von Präsident George W. Bush, die UN zu umgehen, als sie 2003 gegen den Irak in den Krieg zog. Widerstand aus Russland verhinderte jedwede Maßnahme der UN, als Russland 2014 illegal die Krim annektierte.
Völkermord: Völlige Hilflosigkeit
Die UN konnten auch den Völkermord in Ruanda 1994 nicht abwenden. Ein Jahrzehnt später gelobte die Generalversammlung, so etwas nie wieder zuzulassen, und erklärte, dass die Welt die „Verantwortung für den Schutz“ oder für ein Eingreifen habe, wenn ein Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, seine Bevölkerung vor massiver Gewalt zu schützen.
Diese Doktrin ist weitgehend ignoriert worden. Inmitten schrecklicher Konflikte, die Hunderttausende von Zivilisten in Syrien und im Jemen das Leben gekostet haben, hat die Welt untätig zugesehen. Der einzige Fall, in dem auf die Doktrin zurückgegriffen wurde, 2011 in Libyen, hat ihrem Ansehen geschadet, weil die in ihrem Namen handelnde Koalition unter der Führung der NATO weiter ging, als es die Schutzverantwortung forderte, indem sie die bestehende Regierung absetzte und dann keine Folgemaßnahmen ergriff, wodurch ein Machtvakuum entstand, das dem Land weiterhin zusetzt.
Das soll nicht heißen, dass die Vereinten Nationen wertlos sind. Sie bieten einen zweckdienlichen Rahmen, in dem Regierungen für Gespräche zusammenkommen, sei es zur Abwendung oder Beilegung einer Krise. Die UN-Agenturen haben die wirtschaftliche und soziale Entwicklung gefördert und Regelungen erleichtert, die von der Telekommunikation bis zur Überwachung von Nuklearanlagen reichen. Friedensmissionen haben in vielen Ländern zur Aufrechterhaltung der Ordnung beigetragen.
Infolge von Rivalitäten zwischen den Großmächten und der mangelnden Bereitschaft ihrer Mitgliedsländer, Handlungsfreiheit abzutreten, haben die Vereinten Nationen jedoch insgesamt enttäuscht. Die eigenen Defizite der Organisation sind ebenfalls nicht hilfreich: Ein System der Ämterpatronage, das zu viele Menschen aus anderen Gründen als Kompetenz in wichtige Positionen befördert; weitern mangelnde Verantwortlichkeit und Heuchelei (etwa wenn Länder, die die Menschenrechte missachten, in einem UN-Gremium sitzen, das diese verteidigen soll).
Reformen: Nicht möglich
Eine grundlegende Reform der UNO ist keine realistische Option, da potenzielle Veränderungen, wie etwa eine Änderung der Zusammensetzung des Sicherheitsrates, um die Machtverteilung in der heutigen Welt widerzuspiegeln, einige Länder begünstigen und andere benachteiligen würden. Es überrascht nicht, dass diejenigen, die Gefahr laufen, etwas zu verlieren, eine solche Änderung blockieren können und dies auch tun.
Währenddessen fehlt es der Generalversammlung, der „demokratischsten“ und repräsentativsten Organisation innerhalb der UN-Strukturen, an Schlagkraft. Sie ist insofern unwirksam, als jedes Land unabhängig von seiner Größe, Bevölkerungszahl, seinem Reichtum oder seiner militärischen Macht über ganz genau eine Stimme verfügt.
Die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit ist so groß, dass wir es mit einer Krise zu tun haben. Wir stehen nicht nur vor dem Wiederaufleben der Rivalität zwischen den Großmächten, sondern auch vor vielfältigen globalen Herausforderungen, von Pandemien und Klimawandel bis hin zur Verbreitung von Kernwaffen und Terrorismus, für die keine einseitigen Antworten existieren.
Alternativen
Die gute Nachricht ist, dass Länder Alternativen – wie die G7 und G20 – schaffen können, wenn die Vereinten Nationen versagen. Koalitionen der maßgeblich Beteiligten, der Willigen und der Fähigen können zusammenkommen, um spezifische regionale und globale Herausforderungen anzugehen. Wir sehen Versionen davon in der Handelspolitik und in der Rüstungskontrolle, und wir könnten es durchaus beim Klimaschutz und bei der Festlegung von Verhaltensnormen im Cyberspace erleben. Die Argumente für Multilateralismus und Global Governance sind stärker denn je. Nur wird beides wohl oder übel weitgehend außerhalb der Vereinten Nationen stattfinden müssen.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow
Richard Haass hat in Oxford studiert und promoviert und ist gegenwärtig Präsident des US-amerikanischen Think Tanks “Council on Foreign Relations”.
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