Politik

Die Abenteuer des Monsieur Macron, oder: Wie Frankreich sich einen neuen Napoleon wünschte - aber einen Don Quijote bekam

Lesezeit: 6 min
20.09.2020 11:15  Aktualisiert: 20.09.2020 11:15
Emmanuel Macron war angetreten, Frankreich aus seiner lähmenden Erstarrung zu befreien. Doch daraus ist nichts geworden, wie DWN-Kolumnist und Frankreich-Kenner Ronald Barazon pointiert und mit einem gehörigen Schuss Ironie aufzeigt. Statt eines zweiten Napoleons hat die Grande Nation lediglich einen modernen Don Quijote bekommen.
Die Abenteuer des Monsieur Macron, oder: Wie Frankreich sich einen neuen Napoleon wünschte - aber einen Don Quijote bekam
So sehen die Mainzer Karnevalisten Emmanuel Macron. (Foto: dpa)

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Im Jahr 2016 trat Emmanuel Macron mit guten Vorsätzen aus der Sozialistischen Partei Frankreichs aus und schaffte es innerhalb eines Jahres, Präsident zu werden. Der damals 36-Jährige wollte das erstarrte Frankreich modernisieren und die lahmende EU beleben. Der kometenhafte politische Aufstieg des ehemaligen Finanzinspektors und Investmentbankers und seine unverhohlen zur Schau gestellte Überheblichkeit sorgten für Vergleiche mit Napoleon. Heute, nur drei, vier Jahre später, setzt sich Macron immer noch für seine liberalen Ideale ein, doch erinnert er immer stärker an Don Quijote, der heldenhaft gegen vermeintliche Ritter und Armeen kämpfte, aber tatsächlich nur Windmühlen angriff . Wie beim legendären spanischen Hidalgo in Cervantes‘ genialem Roman sind allerdings nicht Häme und Spott für die Grande Nation am Platz, sondern Bedauern: Frankreich und die EU würden tatsächlich einen Erneuerer benötigen.

Die Franzosen verteidigen ihren teuren Sozialstaat mit Klauen und Zähnen

Frankreich zahlt die höchsten Renten in Europa und ermöglicht den frühesten Übertritt in den Ruhestand. Kündigungen sind immer noch kaum möglich, sodass die Unternehmen die Belegschaften so klein wie möglich halten. Arbeitslos zu sein, ist in der Regel allerdings keine finanzielle Katastrophe – die staatlichen Zahlungen sind durchaus üppig.

Alle diese genussreichen, aber teuren Sozialleistungen bekämpft Macron, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern, und stößt auf heftigsten Widerstand. Naturgemäß von den Gewerkschaften und von den Linken in der sozialistischen Partei, aber auch von einer großen Masse in der Bevölkerung: Das zeigte sich eindrucksvoll bei der über Aufrufe in den sozialen Medien entstandenen Protest-Bewegung der „Gelben Westen“ 2018 und 2019. Erst am vergangenen Donnerstag hatten einige Gewerkschaften erneut zu einem Generalstreik und zu Demonstrationen aufgerufen. Dieses Mal hielt aber die Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus die Teilnahme in engen Grenzen.

Die Zahl der Anhänger Macrons geht dramatisch zurück

Bis vor kurzem konnte der Präsident noch argumentieren, die Mehrheit würde seine Modernisierungspolitik unterstützen. Die jüngsten Umfragen zeigen allerdings eine dramatische Entwicklung. 2018 bewerteten noch 73 Prozent der Bevölkerung den jungen Präsidenten positiv, heute sind es nur mehr 42 Prozent. Die Zustimmung zu einer liberalen Politik, die die Rolle des Staates zurückdrängt und den Sozialstaat reduziert, nimmt bei den Anhängern von Macron ab: Fast jeder zweite erwartet sich wieder einen größeren Einsatz des Staates, insbesondere in der aktuellen, durch Corona ausgelösten Krise. Der in Frankreich tief verwurzelte Protektionismus ist eine von Macrons größten Windmühlen. Dem Intellektuellen gelingt es nicht, den Demonstranten klar zu machen, dass sie gegen ihre eigenen Interessen agitieren und die Finanzierung der Renten zu Lasten der Löhne und Gehälter geht.

In der EU stehen die Zeichen auf Desintegration und nicht auf Solidarität

In der EU muss Macron zur Kenntnis nehmen, dass aktuell ein Abbau der europäischen Integration und nicht ein Ausbau dem Zug der Zeit entspricht. Dies zeigt sich am Austritt Großbritanniens, an der nationalistischen Politik in Polen und in Ungarn, an der Schließung der Grenzen, wenn ein Zustrom von Flüchtlingen droht oder man die Ausbreitung des SARS-II-Virus verhindern will. Macrons Windmühlen bilden geradezu einen Windmühlen-Park.

Damit nicht genug: Der französische Präsident war einer der eifrigsten Vorkämpfer für das neue 750-Milliarden-Euro-Programm der EU-Kommission. Dieses Paket zur Belebung der Wirtschaft wird im Rahmen einer Wirtschaftslenkung durch die Brüsseler Beamten umgesetzt. Welche ein Widerspruch: Zu Hause in Frankreich kämpft Macron gegen die überbordende Rolle des Staates, in Brüssel kämpft er für den Ausbau der Bürokratie. Wobei es ihm bei Letzterem wohl nicht um die Sache an sich geht, sondern ganz banal um die Erschließung zusätzlicher Geldquellen für sein überstrapaziertes Budget.

Nur leere Parolen zur Digitalisierung: Die IT-Branche ist enttäuscht

Demaskierend war vor wenigen Tagen ein Auftritt im Elysée-Palast, dem Amtssitz des Präsidenten. Zu Gast waren Vertreter der französischen und europäischen IT-Branche, und Macron inszenierte sich als lockerer Kumpel, mit kragenlosem Hemd und ohne Krawatte, gleichsam wie eben aus der US-Hochburg der Digitalisierung, dem Silicon Valley, eingeflogen. Frankreich sei doch das Land der Aufklärung und werde daher nicht an der Hexenjagd gegen 5G teilnehmen. Auch verfüge man über das beste Schulwesen der Welt, also über den entsprechenden Nachwuchs ­ allerdings wusste jeder im Saal, dass dies, wie die PISA-Studien zeigen, schon lange nicht mehr der Fall ist. Man werde es auf dieser Basis den USA und China schon zeigen und ihnen nicht die Beherrschung der Cloud überlassen. Und im Übrigen werden Milliarden aus dem 750-Milliarden-Programm in die Digitalisierung fließen. Wenn er während der Rede voller Parolen die Faust gegen die nicht anwesenden Feinde ballte, wirkte er vollends wie ein moderner Don Quixote in voller Aktion.

Der einzige Freund Russlands in der EU muss nach dem Nawalny-Anschlag ins Lager der Putin-Kritiker wechseln

Die Windmühlen zerzausen den Caballero aus Paris auch auf der internationalen Ebene. Emmanuel Macron wehrte sich jahrelang – durchaus zu Recht – gegen die unreflektierte Anti-Russland-Politik der EU und sprach sich für die Fortsetzung der partnerschaftlichen Vorgangsweise nach der Wende 1990 aus. Die Proteste aus den ehemals zum Sowjetblock gehörigen EU-Mitgliedstaaten im Osten nahm er gelassen hin. Auch die kritische Position der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der Macron herzlich verbunden ist, korrigierte seinen Weg in diese Frage nicht. Bis jetzt, bis zum Mordanschlag auf den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vor wenigen Wochen. Jetzt ist der französische Präsident auf Distanz zu Wladimir Putin gegangen und hat seine Russland-freundliche Politik für beendet erklärt.

Don Quixote kommt nur schwer in der Realität an

Geradezu skurril ist Macrons Auftritt im Libanon. Wenige Wochen nach der katastrophalen Explosion im Hafen von Beirut, die hunderte Tote und tausende Verletzte forderte, reiste der französische Präsident in das Krisenland. Er betonte die bereits erfolgten französischen Hilfeleistungen und kündigte weitere an. Allerdings verlange er, dass endlich das seit Jahren herrschende Chaos beendet werde. Innerhalb von vierzehn Tagen müsse eine tragfähige Regierung installiert sein. Er agierte wie der eigentliche Herrscher, der seine ungezogenen Untertanen rügt. Man war erstaunt. Don Quixote hatte um viele Jahrzehnte in der Zeit geirrt. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg war der Libanon tatsächlich ein französisches Mandatsgebiet, doch wurde das Land nach dem Zweiten Weltkrieg ein unabhängiger Staat.

Unbeirrt kam Macron einige Wochen später wieder. Knapp vor seiner Landung wurde schnell eine Regierung gebildet, offenkundig um den französischen Präsidenten weiterhin als Fürsprecher für internationale Hilfen zu bewahren. In vierzehn Tagen hatte man nicht einmal eine Scheinregierung zustande gebracht. Das Land erstickt in der Korruption seiner Machthaber und kann sich aus dem Würgegriff der ganz offen vom Iran gesteuerten Terrororganisation Hisbollah nicht befreien. Daran ändern auch markige Sprüche aus Paris nichts.

Nach einem blutigen Jahrhundert eine neue Achse zwischen Paris und Alger

Die Geschichte beschäftigt den jungen Präsidenten offenbar sehr. Schon während seines Wahlkampfs verglich er die Eroberung Algeriens im 19. Jahrhundert und die fast hundert Jahre währende brutale Unterdrückung der Bevölkerung mit dem Holocaust. Die französische Armee beging bis zum Algerienkrieg 1954-1962 Massenmorde, um die Aufstände zu unterdrücken. 1962 wurde Algerien unabhängig, doch erfolgte bislang keine Aufarbeitung der Geschichte. Als symbolischer Akt wurden im vergangenen Juli 2020 die sterblichen Überreste von 24 Soldaten, die in einem Pariser Museum aufbewahrt wurden, im Rahmen einer militärischen Feier nach Algerien gebracht.

Macron telefoniert auch regelmäßig mit dem algerischen Präsidenten, Abdelmadjid Tebboune. Die beiden bemühen sich um eine Annäherung zwischen Frankreich und Algerien und wollen auch im Libyschen Bürgerkrieg vermitteln und in der Sahel-Zone aktiv werden. In der Sahel-Zone bekämpft die französische Armee seit längerem – ohne besonderen Erfolg – islamistische Terroristen, immerhin konnte im vergangenen Juni 2020 die Tötung des Al-Kaida-Führers in der Region, Abdelmalek Drukdal, im Norden Malis verkündet werden.

An der Seite Griechenlands mit Bravado gegen die Türkei

Die Mittelmeer-Region scheint den Ritter ohne Furcht und Tadel aus dem Elysée-Palast auch sehr zu faszinieren. So startete er heftige Attacken gegen die Türkei und verlangte, dass das Land aufhören müsse, die Ansprüche Griechenlands auf bestimmte Gasvorkommen im Mittelmeer in Frage zu stellen. Griechenland hat angesichts der türkischen Aktivitäten ein militärisches Aufrüstungsprogramm beschlossen, das von Frankreich aktiv unterstützt wird. Bei einem Treffen mit den Regierungschefs der EU-Mittelmeerstaaten auf Korsika forderte Macron die Solidarität der EU mit Griechenland und Zypern gegenüber der Türkei ein.

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan reagierte zornig und warnte Macron vor den Konsequenzen, die ein Streit mit der mächtigen Türkei mit sich brächte. Wohl auch, weil Macron mit seinem algerischen Kollegen darüber nachgedacht hat, wie man die Türkei aus Libyen fernhalten könnte: Derzeit agiert Erdogan als Protektor der libyschen Regierung im Bürgerkrieg gegen die Opposition und kündigt die Errichtung von Militärstützpunkten an. Doch der libysche Präsident hat plötzlich genug; diese Woche erklärte Fayez Sarraj seinen Rücktritt im Oktober, während sein Widerpart, General Chalifa Haftar, mit seinen Gefolgsleuten weiterhin den Osten des Landes besetzt hält. In der Region ändert sich die Lage der Windmühlen, noch bevor Don Quixote sein Pferd satteln losreiten kann.

Kein neuer Lock-Down in Frankreich. Die Sonne scheint, die Cafés bleiben geöffnet

Doch zurück nach Paris, wo sich die Regierung am Freitag mit dem starken Ansteigen der Corona-Infektionen beschäftigen musste. Zur Debatte standen wie schon im Frühjahr drastische Maßnahmen und ein neuerlicher Lock-Down. Präsident Macron und sein Premierminister Jean Castex erklärten allerdings, dass man nicht mehr sklavisch den Empfehlungen des Expertengremiums folgen werde: "Unsere Strategie bleibt unverändert. Wir bekämpfen das Virus, aber wir legen unser kulturelles, soziales und wirtschaftliches Leben nicht still. Wir bewahren uns die Fähigkeit, ein normales Leben zu führen. Wir müssen noch einige Monate mit dem Virus leben, aber es kann keinen allgemeinen Lock-Down geben. Der Beirat sagt seine Meinung. Aber die demokratisch gewählte Regierung trifft die Entscheidungen."

Kurzum: Don Quixote möchte den Unmut seiner Mitbürger nicht noch mehr provozieren. In Paris herrscht prächtiges Wetter mit Temperaturen bis zu 30 Grad. Wenn da die Bistros und die Märkte am Wochenende geschlossen blieben, müsste sich Don Quixote einer echten Armee wütender Bürger stellen. Da heißt es besser „Bon weekend!“, oder für Franzosen, die noch nicht alles anglifizieren, „Bonne fin de semaine!“

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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