Deutschland

Nach Razzia: Kritik an Fleischbranche wegen gefälschter Papiere

Leiharbeit in der Fleischindustrie steht spätestens seit der Corona-Pandemie im Fokus der Öffentlichkeit. Am Mittwoch hat die Bundespolizei eine Großaktion wegen des Verdachts der illegalen Einschleusung durchgeführt.
23.09.2020 10:02
Aktualisiert: 23.09.2020 10:02
Lesezeit: 2 min
Nach Razzia: Kritik an Fleischbranche wegen gefälschter Papiere
Die Bundespolizei führt seit den frühen Morgenstunden in fünf Bundesländern Durchsuchungen im Zusammenhang mit der illegalen Einschleusung von Arbeitskräften für die Fleischindustrie durch. (Foto: dpa) Foto: Jan Woitas

Eine Razzia wegen Verdachts der illegalen Einschleusung von Arbeitskräften hat erneut Kritik an den Verhältnissen in der deutschen Fleischbranche ausgelöst. Die Bundespolizei durchsuchte am Mittwoch mit mehr als 800 Beamten über 60 Wohn- und Geschäftsräume in fünf Bundesländern, vor allem in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Die Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass überwiegend osteuropäische Staatsbürger mit gefälschten Papieren als EU-Bürger angemeldet wurden und sie "unerlaubt einer Erwerbstätigkeit im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie" nachgegangen sind, wie die Bundespolizei mitteilte.

Die Razzia erfolgte wenige Tage vor der Bundestagsanhörung zum geplanten Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischbranche am 5. Oktober. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, der Einsatz der Bundespolizei zeige, "dass wir mit unserem Gesetz auf dem richtigen Weg sind". In Teilen der Fleischindustrie sei "die kriminelle Ausbeutung der Beschäftigten leider noch an der Tagesordnung". Die geplanten Änderungen dürften deshalb "nicht durch lautes Gebrüll der Lobby verwässert werden".

Auch die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) forderte, das Gesetz müsse "ohne Abstriche beschlossen und umgesetzt werden". Ausnahmen für Leiharbeit dürften auf keinen Fall zugelassen werden. Branchenverbände hatten dagegen kritisiert, bestimmte Arbeiten in den Schlachthöfen würden durch das Gesetz unmöglich gemacht. Auch die Wurstproduzenten wollen weiter externe Mitarbeiter für bestimmte Tätigkeiten wie das nächtliche Reinigen beschäftigen.

Schwerpunkt der Razzia war Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Dort seien bislang 49 Arbeitsunterkünfte durchsucht worden, teilten die Ermittler mit. In Weißenfels hat der Fleischriese Tönnies mit etwa 2200 Mitarbeitern seinen zweitgrößten Schlachtstandort und beschäftigt dort etwa 2 200 Mitarbeiter. Tönnies betonte, an seinen Standorten habe es keine Durchsuchungen gegeben. "Wir haben keine Informationen, ob und wenn ja, in welchem Maße Dienstleistungsunternehmen, mit denen wir zusammen arbeiten, von den Durchsuchungen betroffen sind", sagte ein Sprecher. Durchsuchungen gab es auch in Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen.

Das geplante Arbeitsschutzkontrollgesetz sieht vor, dass Kerntätigkeiten in der Fleischwirtschaft wie Schlachten, Zerlegen und Verarbeiten künftig nicht mehr von betriebsfremden Beschäftigten ausgeführt werden dürfen. Werkverträge und Leiharbeit sollen in der Branche von 2021 an verboten sein. Ausgenommen sind Fleischerhandwerksbetriebe mit bis zu 49 Mitarbeitern.

Im Fokus der aktuellen Ermittlungen steht ein Konstrukt aus verschiedenen Zeitarbeitsfirmen, über die in den vergangenen sechs Monaten mindestens 82 Menschen geschleust worden sein sollen. Laut Bundespolizei gibt es zehn Hauptbeschuldigte im Alter von 41 bis 56 Jahren. Darunter sind acht Männer und zwei Frauen. Bei den Durchsuchungen trafen die Polizisten mehr als 20 Personen an, bei denen der Verdacht besteht, dass sie mit gefälschten Dokumenten oder als "Scheinstudenten" illegal beschäftigt wurden. Die Erträge aus dem illegalen Geschäftsmodell bezifferten die Ermittler auf 1,5 Millionen Euro.

Arbeitsminister Heil hatte das neue Gesetz nach gehäuften Corona-Infektionen in Fleischbetrieben auf den Weg gebracht. Mehrere Schlachtkonzerne haben inzwischen mitgeteilt, sie wollten Mitarbeiter aus dem Werkvertrag in das Unternehmen übernehmen. Branchenführer Tönnies erklärte am Mittwoch, zum Monatswechsel würden 1800 Beschäftigte direkt beim Unternehmen angestellt, weitere 3200 würden zum November folgen. Dann seien alle Mitarbeiter in den Kernbereichen der Schlachtung und Zerlegung von den bisherigen Dienstleistern übernommen.

Ein Verbot von Leiharbeit und Werkverträgen ist nach Ansicht der Gewerkschaft NGG aber nur der erste Schritt für bessere Arbeitsbedingungen in der Schlachtbranche. Es müsse endlich einen "richtigen Tarifvertrag" über Einkommen und Urlaub für alle Beschäftigten geben, "und nicht nur einen Branchenmindestlohn", sagte ein Gewerkschaftssprecherin. Bisher scheitere das an der Zerstrittenheit bei den Arbeitgebern. Tönnies könne als Größter der Branche dafür sorgen, dass die Unternehmen bei diesem Thema endlich mit einer Stimme redeten.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Panorama
Panorama Grillmarkt in der Krise? Holzkohle wird teurer
03.07.2025

Grills verkaufen sich längst nicht mehr von selbst. Nach Jahren des Booms mit Rekordumsätzen schwächelt die Nachfrage. Händler und...

DWN
Finanzen
Finanzen Milliarden für Dänemark – Deutschland geht leer aus
03.07.2025

Dänemark holt 1,7 Milliarden DKK aus Deutschland zurück – ohne die deutsche Seite zu beteiligen. Ein heikler Deal im Skandal um...

DWN
Finanzen
Finanzen Vermögen im Visier: Schweiz plant Enteignung durch Erbschaftssteuer für Superreiche
03.07.2025

Die Schweiz steht vor einem Tabubruch: Kommt die 50-Prozent-Steuer auf große Erbschaften? Die Eidgenossen debattieren über ein riskantes...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Drogeriehandel: Wie dm, Rossmann und Müller den Lebensmittelmarkt verändern
03.07.2025

Drogeriemärkte verkaufen längst nicht mehr nur Shampoo und Zahnpasta. Sie werden für Millionen Deutsche zur Einkaufsquelle für...

DWN
Technologie
Technologie KI-Gesetz: Bundesnetzagentur startet Beratungsservice für Unternehmen
03.07.2025

Die neuen EU-Regeln zur Künstlichen Intelligenz verunsichern viele Firmen. Die Bundesnetzagentur will mit einem Beratungsangebot...

DWN
Panorama
Panorama Sprit ist 40 Cent teurer an der Autobahn
03.07.2025

Tanken an der Autobahn kann teuer werden – und das oft völlig unnötig. Eine aktuelle ADAC-Stichprobe deckt auf, wie groß die...

DWN
Politik
Politik Brüssel kapituliert? Warum die USA bei den Zöllen am längeren Hebel sitzen
03.07.2025

Die EU will bei den anstehenden Zollverhandlungen mit den USA Stärke zeigen – doch hinter den Kulissen bröckelt die Fassade. Experten...

DWN
Finanzen
Finanzen USA dominieren die Börsen
03.07.2025

Die Börsenwelt bleibt fest in US-Hand, angeführt von Tech-Giganten wie Nvidia und Apple. Deutsche Unternehmen spielen nur eine...