Politik

Merkel und Corona sind gar nicht so wichtig: Die nächste Kanzlerwahl entscheidet Deutschlands Schicksal

Lesezeit: 6 min
26.12.2020 12:13  Aktualisiert: 26.12.2020 12:13
Deutschlands Geschichte vollzieht sich in 20-jährigen Zyklen, schreibt DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph. Deshalb sind Merkel und Corona auch gar nicht so wichtig - über Deutschlands Schicksal entscheidet vielmehr, wer nächstes Jahr zum Kanzler gewählt wird und ob der Neue die größte Herausforderung bewältigt.
Merkel und Corona sind gar nicht so wichtig: Die nächste Kanzlerwahl entscheidet Deutschlands Schicksal
Miniaturfiguren der Bundeskanzler (von links nach rechts): Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel. (Foto: dpa)

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Die Geschichte der Bundesrepublik verläuft in Zyklen. Sie alle währen 20 Jahre (plus/minus ein Jahr). Und sie beginnen und enden stets (fast) exakt am Anfang beziehungsweise am Ende eines Jahrzehnts. Am Ende jedes dieser 20-jährigen Zeiträume steht immer ein großes, epochales Ereignis, das den alten Zyklus beendet und den neuen einläutet. In jedem Zyklus gibt es eine Persönlichkeit, die ihn besonders prägt, ihn symbolisiert.

Dass die Entwicklung unseres Landes zyklenhaft verläuft, ist eine ausgesprochen wichtige Erkenntnis. Nicht nur, weil sie uns hilft, ein tieferes Verständnis unserer Geschichte zu erlangen. Sondern auch und vor allem deshalb, weil sie uns die Möglichkeit gibt, die Gegenwart besser zu verstehen. Uns klar darüber zu werden, was bestimmend und definierend für den Zyklus ist, in dem wir uns gerade befinden, hilft uns, die richtigen Entscheidungen für die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen zu treffen – und die geeigneten Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen.

Bevor wir uns dem Heute zuwenden, lassen Sie uns kurz einen Blick auf die vergangenen Zyklen werfen.

1. Zyklus: 1949 bis 1969 – Gründung und Wiederaufbau

Der erste Zyklus begann mit der Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949, auf die der Wiederaufbau folgte. In einem Kraftakt ohnegleichen verwandelten die Deutschen während des Wirtschaftswunders ein vom Krieg fast völlig zerstörtes Land in die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die prägende Gestalt dieser Zeit war Bundeskanzler Konrad Adenauer, der die Westbindung betrieb und unter dem die Soziale Marktwirtschaft zur außerordentlich erfolgreichen Wirtschaftsordnung wurde, dessen konservative und rückwärtsgewandte Gesellschaftspolitik aber auch den Grundstein für die Studentenunruhen legte, die Deutschland Ende der 60er Jahre erschütterten und das Ende des ersten 20jährigen Zyklus bedeuteten.

2. Zyklus: 1969 bis 1989 – Die goldenen Jahre

Der zweite Zyklus begann mit der Wahl einer SPD/FDP-Koalition unter dem progressiven Kanzler Willy Brandt. In den folgenden zwei Jahrzehnten ging es fast ununterbrochen aufwärts. Zwar taten sich – in einer materiell befriedigten und abgesicherten Gesellschaft – die ersten „Zivilisationskrankheiten“ auf (beispielsweise Phasen von höherer Arbeitslosigkeit sowie der Terror der RAF), doch waren diese Herausforderungen in keiner Weise dazu geeignet, den Staat und das System ernsthaft in Frage zu stellen oder gar zu gefährden. In den 80er-Jahren entwickelten sich Atomkraft und Nachrüstung zu den beiden dominanten politischen Themen, wobei die damit verbundenen Gefahren zwar (je nach Sichtweise) sehr reell waren, jedoch keinen unmittelbaren Einfluss auf das Leben der Deutschen hatten (es ging eben kein AKW in die Luft, und der Dritte Weltkrieg blieb auch aus). Im Großen und Ganzen ging es den Menschen sehr gut – beispielsweise waren Tarifabschlüsse jenseits der Zehn-Prozent-Marke keine Ausnahme. Die symbolhafte Persönlichkeit dieses zweiten Zyklus war Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der spröde Hanseat stand steif im Wind und hielt den Laden zusammen. Allerdings taten sich Ende der 80er Jahre – unter Schmidts Nachfolger Helmut Kohl – die ersten Risse auf, die Wirtschaft bekam Probleme. Und dann fiel in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Mauer – und beendete mit einem lauten Krachen den zweiten Zyklus.

3. Zyklus: 1989 bis 2009 – Wiedervereinigung und Orientierungslosigkeit

Der – damals kaum noch für möglich gehaltene – Mauerfall und die kurz darauf erfolgende Wiedervereinigung lösten Jubelstürme aus. Doch schon bald wurde klar, dass die von Kanzler Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ nur ein Traumgebilde waren und es viele Jahrzehnte dauern würde, bis die fünf neuen Bundesländer sich auf gleichem wirtschaftlichen Niveau befänden wie die elf alten. Kohl war die prägende Kraft dieses dritten Zyklus – als Vereinigungskanzler politisch erfolgreich, war ihm die aufkommende wirtschaftliche Misere allerdings vollkommen gleichgültig, und die Gesellschaft auf die neuen schweren Probleme vorbereiten konnte beziehungsweise wollte er nicht.

Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und von den berüchtigten Hartz IV-Gesetzen der auf Kohls CDU/FDP-Regierung folgenden rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder. Gleichzeitig befanden sich Politik und Gesellschaft, befand sich die ganze Republik in einem Zustand der Orientierungslosigkeit. Deutschland hatte seine Unschuld verloren – eine soziale Hängematte existierte kaum noch, und die bequem gewordene politische und militärische Selbstisolation, in die sich das Land mit Verweis auf seine Weltkriegs-Vergangenheit begeben hatte, wurde von seinen westlichen Verbündeten immer häufiger in Frage gestellt. Auch Schröders Nachfolgerin Angela Merkel vermochte es nicht, einen klaren Kurs vorzugeben. In den Jahren 2008/2009 suchte die Finanzkrise die Welt und Deutschland heim – und beendete den dritten Zyklus.

4. Zyklus: 2009 bis 2029: Aufschwung, Krisen – und dann?

Die Bundesrepublik überwand die Finanzkrise besser als die meisten anderen Länder. Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich massiv, auf den Titel „Exportweltmeister“ war und ist man stolz. Jedenfalls, wenn man vom Aufschwung profitiert(e) – Millionen Niedriglöhner und Solo-Selbstständige taten und tun es bis heute nur bedingt oder gar nicht. Die Generation der Weltkrieg-Teilnehmer starb aus, Deutschland verstärkte seine internationalen Aktivitäten – nicht zuletzt auf militärischer Ebene.

Zwei große Krisen suchten das Land heim: 2015/16 strömten rund eine Million Flüchtlinge über die Grenzen, 2020/21 legten die Corona-Pandemie und die von der Politik beschlossenen Gegenmaßnahmen große Teile der Wirtschaft lahm. Beide Ereignisse verursachten nicht nur hohe materielle und soziale Kosten, sondern spalteten und polarisierten die Gesellschaft in hohem Maße. Die „ewige“ Kanzlerin Angela Merkel hat angekündigt, bei der Bundestagswahl 2021 nicht wieder anzutreten. Im Ausland wird die Frau aus dem Osten geschätzt, teilweise bewundert, zuhause dagegen polarisiert sie – für die einen ist sie (der einzige) Garant für Stabilität, für die anderen der Inbegriff dessen, was in Deutschland schief läuft.

Das zweite Jahrzehnt des 4. Zyklus

Was haben wir aus diesem kurzen historischen Abriss gelernt? Vor allem, die Dinge in Relation zu setzen. Viele Ereignisse haben wir nur gestreift, teilweise überhaupt nicht erwähnt. Wenn in einigen Jahrzehnten jemand einen ähnlichen Rückblick auf die vergangenen Zyklen der deutschen Geschichte wirft, wird er beispielsweise Corona vielleicht gar nicht erwähnen – wer weiß? Aufzeigen möchte ich mit dieser Einsicht nur, dass man sich bei der Zukunftsplanung nicht zu sehr lenken lassen sollte von Ereignissen, die zu ihrer Zeit zwar alles andere in den Schatten stellten, aber in historischer Dimension nicht umwälzender und richtungsweisender Natur sind.

Darüber hinaus haben wir gelernt, historischen Persönlichkeiten nicht zu viel Bedeutung zuzumessen. Eine Reihe von Menschen, die für die bundesrepublikanische Geschichte enorm wichtig waren, haben wir überhaupt nicht berücksichtigt (zum Beispiel Ludwig Erhard), andere nur im Vorübergehen erwähnt (beispielsweise Willy Brandt). Das heißt: Wer sagt uns, dass die prägende Figur des vierten Zyklus Angela Merkel sein wird?

Letztere Frage bringt uns zu folgendem Punkt: Nächstes Jahr findet die Bundestagswahl statt. Ein – im Hinblick darauf, dass Merkels Kanzlerschaft 16 Jahre währte – richtungsweisendes Ereignis. Über welche Fähigkeiten sollte der neue Kanzler verfügen, welche Schwerpunkte sollte er setzen? Zur Beantwortung dieser Frage sollten wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, welche Ereignisse die ersten zehn Jahre des gegenwärtigen Zyklus geprägt haben. Darauf aufbauend, können wir folgende Antworten geben:

  • Der neue Kanzler sollte in der Lage sein, ausgleichend zu wirken, eine Vermittlerrolle zu spielen. Die deutsche Gesellschaft ist in vielen Bereichen polarisiert, die Gräben sind tief, nicht nur in der Flüchtlings- und der Corona-Frage. Wobei, und das ist wichtig zu verstehen, die Polarisierung allerdings kein existenzielles Problem darstellt. Viele Gegensätzlichkeiten sind Ausdruck von reiner Streitlust, teilweise auch von der Dekadenz einer übersättigten Gesellschaft (zum Beispiel die Gender-Thematik). Andere Differenzen werden abklingen, wenn es keinen Anlass mehr für sie gibt (beispielsweise, wenn Corona besiegt ist). Und überhaupt: Viele Gegensätzlichkeiten führen zwar zu erbittertem Streit, aber dabei belassen es ihre Protagonisten dann auch – eine Gefahr für Staat und Gesellschaft stellen sie nicht dar.
  • Der neue Kanzler muss die zunehmende soziale Spaltung in den Griff bekommen – sie ist die größte innenpolitische Herausforderung. Dieses Land muss sich auf die soziale Marktwirtschaft besinnen als eines der Fundamente, die es groß gemacht haben. Wer ein ungezügeltes Spiel der Marktkräfte propagiert, mag an der Wall Street anheuern – ins Kanzleramt gehört er nicht.
  • Die wichtigste Aufgabe des Neukanzlers wird es sein, Deutschland darauf vorzubereiten, in einem zunehmend komplexeren und teilweise auch feindseligeren internationalen System zu bestehen. Lassen Sie uns noch einmal die Punkte aufzählen, die wir in der obigen Beschreibung des vierten Zyklus, in dem wir uns derzeit befinden, erwähnt haben: Es sind – neben dem Problem der sozialen Spaltung – die Flüchtlingskrise: Sie hat ihren Ursprung in Teilen Afrikas, in Afghanistan, vor allem in Syrien. Weiterhin Corona: Das Virus nahm seinen Ursprung im chinesischen Wuhan. Und schließlich die Finanzkrise, die den dritten Zyklus beendete und den vierten einleitete: Auch sie hatte ihren Ursprung im Ausland, nämlich in den USA. Und weiter geht es: Welches Land wird als Abnehmer deutscher Produkte immer wichtiger? Genau, das Land, das mit seiner Neuen Seidenstraße darauf abzielt, den eurasischen Kontinent zu dominieren. Wird es gelingen, (das halbwegs demokratische) Indien als Gegengewicht zum chinesischen Tiger aufzubauen und als teilweisen Ersatz für die chinesischen Lieferketten zu etablieren? Wird die deutsche Marine sich aktiv daran beteiligen müssen, Handelswege offen zu halten und die Freiheit der Meere zu verteidigen? Und was ist mit den USA? Ist die von Obama begonnene und von Trump enorm vorangetriebene Abkehr von Europa noch rückgängig zu machen? Wie sehr kann Deutschland noch auf den Schutz amerikanischer Truppen bauen? Wird die Bundesrepublik – zusammen mit Frankreich – zum Schutz des Kontinents eine neue europäische Streitmacht aufbauen? Und wie wird sich die Gemeinschaftswährung Euro entwickeln? Wird die Europäische Zentralbank weiterhin Milliarden ins System pumpen und die Inflation anheizen? Und wird die EU fortbestehen – oder von einem neuen europäischen Bündnis mittel- und osteuropäischer Staaten ersetzt werden?

Sie sehen, liebe Leser, die Liste ist lang. Und sie könnte noch weiter fortgesetzt werden – doch wir wollen es an dieser Stelle belassen und stattdessen ein kurzes Fazit ziehen.

Der nächste Kanzler

Der nächste Kanzler - er muss, wie wir unmissverständlich aufgezeigt haben, Internationalist sein. Als solcher muss er Deutschland durch die stürmischen Gewässer einer multipolaren internationalen Welt führen, in der die Geschicke des Landes an so fernen Orten wie Peking und Wuhan, Davos und Damaskus (mit)entschieden werden. Er muss dafür sorgen, dass die Bundesrepublik dabei so viel Einfluss auf diese Entscheidungen und Entwicklungen nehmen kann wie nur irgend möglich. Und er muss die Republik auf diese geänderten Umstände vorbereiten – der Isolationismus bundesrepublikanischer Provenienz gehört unweigerlich der Vergangenheit an.

Und so, wie sich der erste Zyklus unter dem Begriff „Wiederaufbau“ subsummieren lässt, der zweite unter „goldene Jahre“ und der dritte unter „Wiedervereinigung“, so wird der vierte Zyklus unter dem Leitmotiv der „Internationalität“ stehen.

LESEN SIE MORGEN DIE KANZLER-ANALYSE VON DWN-KOLUMNIST MORITZ ENDERS:

  • Warum eine Hyperinflation droht und wie Deutschland die Euro-Bombe entschärfen kann
  • Warum nur eine Allianz mit Russland Deutschland davor bewahren kann, von China und den USA dominiert zu werden
  • Warum die Politik die Meinungsfreiheit fördern muss - statt massentauglichen Einheitsbrei


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