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DWN WISSENSCHAFT: Was geschieht mit dem Bewusstsein nach dem Tod?

Lesezeit: 7 min
23.05.2021 13:06  Aktualisiert: 23.05.2021 13:06
Der renommierte Neuropsychologe Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth hat einen Gastbeitrag für die Deutschen Wirtschaftsnachrichten verfasst, in dem er sich mit einer Frage befasst, die die moderne Wissenschaft noch nicht gelöst hat: Was ist das Bewusstsein?
DWN WISSENSCHAFT: Was geschieht mit dem Bewusstsein nach dem Tod?
Das aufklappbare Modell eines "Begehbaren Gehirns" wird im Senckenberg-Museum in Frankfurt präsentiert. (dpa)
Foto: Boris Roessler

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Die Frage, wer wir sind, woher wir kommen und ob es Zustände von Bewusstsein jenseits unserer physischen Existenz gibt, beschäftigt die Menschen seit Jahrtausenden. Können die Naturwissenschaften eine Antwort darauf geben? Der Neuropsychologe Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth von der „Ludwig-Maximilians-Universität München“ (LMU) liefert hierzu faszinierende Einblicke.

Die Frage nach dem Bewusstsein begleitet die Menschheitsgeschichte von Anbeginn. Der anatomisch moderne Mensch und vermutlich schon der Neandertaler hatten eine Vorstellung vom Bewusstsein und fragten sich nach dem Schicksal des Bewusstseins nach dem Tod. Vor allem die Frage, ob das Bewusstsein mit dem Tod vergeht oder ob ihm eine vom Körper losgelöste Existenz in einer jenseitigen Welt bevorsteht, legte den Grundstein zur Entstehung unterschiedlicher Religionen und philosophischer Spekulationen.

Die älteste Überlieferung über das Weiterleben des Bewusstseins nach dem Tod in einer unwirtlichen Unterwelt ist das vor etwa 4.000 Jahre in Babylon entstandene Gilgamesch-Epos. Die Seelen der Verstorbenen verweilen nach Vorstellung der Babylonier in einer unwirtlichen dunklen Welt, „wo Staub ihre Nahrung und Lehm ihre Speise ist“.

Das „Ägyptische Totenbuch“ fasst den mehr als 4.000 Jahre zurückreichenden Jenseitsglauben der Ägypter zusammen. Nach ihrem Glauben muss das vom Körper getrennte Bewusstsein, das als „Ach-Seele“ bezeichnet wird, nach dem Tod zahlreiche Prüfungen bestehen, die die Götter ihm auferlegt haben, um in die jenseitige Welt der Glückseligen zu gelangen. Gelingt es dem Bewusstsein nicht, die Prüfungen zu bestehen, so verweilt es für immer an einem dunklen und schauerlichen höllengleichen Ort.

Auch die griechischen Helden der um 800 v. Chr. entstandenen Ilias erwartete kein Paradies. Ihr vom Körper getrenntes Bewusstsein, das die Griechen als „Psyche“ bezeichneten, erwartet nach dem Tod nur ein unerfreuliches Dasein im Hades, den Homer als „dunstiges Dunkel“ beschrieb. Nicht so pessimistisch sieht der griechische Philosoph Platon (428 - 348 v. Chr.) das Schicksal der Seele nach dem Tod. Die Guten und diejenigen, die von ihren schlechten Taten gereinigt wurden, gelangen als körperlose Wesen in eine paradiesische Welt. Doch weder Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) noch die Mitglieder der Philosophenschule des Epikur (341-270 v. Chr.) glaubten an eine Weiterexistenz des Bewusstseins nach dem Tod. Nach ihrer Vorstellung vergeht das Bewusstsein mit dem Tod des Körpers.

Diese Auffassung stand im Widerspruch zur christlichen Lehre und den Suren des Koran, wonach ein dem Körper nach dem Tod entschwundenes Bewusstsein (Seele) in den Himmel oder in die Hölle fährt. Nachdem das Leugnen einer körperlosen Existenz des Bewusstseins vor allem durch die christliche Kirche als ketzerisch verfolgt wurde, konnte mit dem Aufstreben der modernen Neurowissenschaft der wissenschaftliche Nachweis geführt werden, dass ein Bewusstsein außerhalb von Gehirnfunktionen nicht existieren kann. Diese Erkenntnis entstammt vor allem der Untersuchung der Folgen von Hirnschädigungen beim Menschen. Einige Beispiele sollen diese Forschungs-Ergebnisse illustrieren.

Damit Bewusstsein überhaupt möglich ist, muss das Gehirn auf einem bestimmten Erregungsniveau gehalten werden. Dieses Erregungsniveau wird durch Nervenfasern, die aus dem Hirnstamm zum Großhirn aufsteigen, gesteuert. Schädigungen dieses Systems können zu tiefer Bewusstlosigkeit führen, in der keine Reize der Außenwelt verarbeitet werden und keine Reaktionen erfolgen. In ausgeprägten Fällen, in denen das Großhirn völlig deaktiviert ist, tritt zudem eine völlige Starre des Körpers (die sogenannte Enthirnungs-Starre) ein. Erst wenn die geschädigten Neuronenverbände sich erholen und das Großhirn wieder ein hinreichend hohes Erregungsniveau erlangt, kehrt das Bewusstsein zurück.

Zahlreiche Forschungsergebnisse zeigen, dass bewusste Erfahrung nur möglich ist, wenn Neuronenverbände der Hirnstrukturen, die bestimmte Erfahrungen vermitteln, aktiv sind. So erblinden Menschen – auch wenn ihre Augen völlig gesund sind – wenn die Hirnstrukturen, die visuelle Information aus den Augen im Okzipitallappen des Gehirns verarbeiten, ihre Funktion eingestellt haben. Sind diese Strukturen nicht völlig zerstört, so kann die Funktion dieser Systeme in vielen Fällen durch systematische Reizung zurückgewonnen und das Sehen wiederhergestellt werden.

Auf welche Weise die wiedergewonnene Aktivierung von Neuronenverbänden des Großhirns bewusste Erfahrung vermittelt, zeigt der Fall eines meiner Patienten, bei dem ein Schlaganfall Gebiete der Hirnrinde im Sehsystem geschädigt hatte, worauf er in einem bestimmten Bereich des Gesichtsfeldes erblindete. An den erblindeten Bereich schloss sich ein Gebiet des Gesichtsfeldes an, in dem der Patient angab, das Gefühl zu haben, dass sich etwas in seinem Gesichtsfeld befände, er aber absolut nichts sehen könne. An diesen Bereich schloss sich ein Areal an, in dem der Patient Licht bewusst sehen konnte. Nachdem ich das beeinträchtigte Gesichtsfeld in mehreren Sitzungen systematisch mit Lichtpunkten gereizt hatte, verkleinerte sich der blinde Bereich. In einem Teil des zuvor blinden Areals hatte der Patient jetzt das Gefühl der Anwesenheit eines Reizes, ohne diesen zu sehen, und in dem Bereich, in dem er früher nur das Gefühl der Anwesenheit eines Reizes hatte, konnte er nun Licht bewusst sehen.

Diese Abstufungen von Blindheit, die vom Gefühl der Anwesenheit eines Lichts bis hin zum bewussten Sehen reichten, entsprachen unterschiedlichen Restfunktionen noch erhaltener Neuronenverbände. In dem Bereich der Hirnrinde, der den blinden Bereich des Gesichtsfeldes repräsentierte, fand keine Verarbeitung visueller Reize mehr statt. Im sich anschließenden Bereich der Hirnrinde, der das Gesichtsfeldareal repräsentierte, in dem der Patient nur das Gefühl der Anwesenheit eines Reizes hatte, waren die Neuronenverbände zwar durch die Hirnschädigung ausgedünnt, aber noch in der Lage, das Gefühl der Anwesenheit eines Reizes zu vermitteln. Durch die systematische Reizung mit Lichtpunkten hatten geschädigte Neuronenverbände ihr Erregungsniveau wieder erhöht und alle drei Bereiche – der blinde, der nur ein Gefühl vermittelnde und der bewusst sehende – hatten sich verschoben.

Dieses Beispiel zeigt, dass die verminderte Funktion neuronaler Netzwerke eine Empfindung der Gegenwart eines Reizes hervorrufen kann, ohne dass es zu einer bewussten visuellen Erfahrung kommt. Damit bewusstes Sehen entsteht, bedarf es eines hinreichend vernetzten und hinreichend hoch aktivierten Neuronenverbandes im Sehsystem.

Die Anwesenheit eines Reizes kann sogar registriert werden, wenn dieser Reiz keinerlei Empfindung hervorruft. Dies zeigt das Beispiel eines Mannes, der bei einem Autounfall eine Hirnschädigung erlitten hatte, woraufhin ein umgrenzter Bereich seines Gesichtsfeldes völlig erblindet war. Da er in diesem Bereich nichts sehen konnte, bat ich ihn, wenn immer er ein akustisches Signal hörte, zu raten, ob ein Lichtpunkt im blinden Bereich anwesend war. In der einen Hälfte der Fälle war ein Lichtpunkt anwesend, wenn das Signal hörbar war, und in der anderen Hälfte der Fälle war kein Lichtpunkt anwesend. Erstaunlicherweise riet der Patient dennoch zu 95 Prozent richtig, ob ein Lichtpunkt gegenwärtig war. Er versicherte aber, absolut nichts gesehen und nur geraten zu haben, um den Studienleiter zufrieden zu stellen. In weiteren Studien an hirngeschädigten Patienten konnte nachgewiesen werden, dass Lichtpunkte im blinden Gesichtsfeld nicht nur entdeckt, sondern auch korrekt lokalisiert werden können, ohne dass es zu einer bewussten visuellen Erfahrung kommt.

Dabei stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise man bewusste von unbewussten visuellen Leistungen wissenschaftlich abgrenzen kann. Das einfachste Kriterium dafür, dass eine Leistung unbewusst ist, besteht darin, Patienten zu fragen, ob sie Kenntnis von dieser Leistung haben. Im Falle der beschriebenen Untersuchungen bezeichneten wir die Entdeckung und Lokalisation eines Reizes, die durch Raten zustande gekommen war, als unbewusst, weil die Patienten uns versicherten, dass sie keine Kenntnis davon hatten, ob ein Reiz anwesend war und wenn, wo sich dieser befand. Aber eine solche verbale Einschätzung der eigenen Leistung ist eine wissenschaftlich unbefriedigende Vorgehensweise. Die Begriffe „bewusst“ und „unbewusst“ sollen erst dadurch exakt festgelegt werden, dass man die Methode angibt, mit der die Grenze zwischen bewusster Wahrnehmung und unbewusster Reizverarbeitung gezogen werden kann, und indem man die Anwendbarkeit dieser Methode in einer Untersuchung nachweist. Man spricht in diesem Fall auch von der „operationalen Definition“ von Begriffen, obwohl diese Ausdrucksweise formallogisch nicht ganz korrekt ist. Fragt man zum Beispiel eine Person, ob sie einen Lichtpunkt sehen kann oder wo ein Lichtpunkt sich befindet, so ist damit gemeint, ob eine bewusste visuelle Erfahrung besteht. Bittet man jemanden zu raten, ob ein Lichtpunkt anwesend ist und wo dieser sich befindet, so bedeutet dies, dass eine Antwort gegeben werden soll, ohne dass ein Lichtpunkt bewusst gesehen wird. Bei einer solchen Instruktion der Versuchsperson würde man ein Verständnis der Begriffe „bewusst“ und „unbewusst“ voraussetzen und damit das Verständnis dessen vorwegnehmen, was erst begrifflich festgelegt (operational definiert) werden soll. Derartige Probleme kann man beispielsweise mittels nicht verbaler experimenteller Verfahren, wie zum Beispiel operanter Konditionierungsverfahren umgehen. Solche Verfahren erlauben es sogar, den Grad des Bewusstseins quantitativ zu bestimmen. Ausgehend von diesen Untersuchungen lässt sich der Begriff „bewusste Erfahrung“ dann im Rahmen der mathematischen Logik wissenschaftlich exakt einführen. Die Beschreibung dieses komplexen Verfahrens würde über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehen. Ich habe solche Verfahren bereits 1982 detailliert beschrieben und in einer klinischen Untersuchung erprobt.

Was hier im Fall des bewussten und unbewussten Sehens beschrieben wurde, kann prinzipiell auch auf andere Leistungen übertragen werden. Dann kann man den Begriff des Bewusstseins, das eine Person innerhalb eines bestimmten Zeitfensters hat, definieren als die Gesamtheit dessen, was dieser Person innerhalb dieses Zeitfensters bewusst ist.

Die Erkenntnis, dass es neben bewusstem Sehen auch eine unbewusste visuelle Reizverarbeitung gibt, warf die Frage auf, ob die beschriebene unbewusste visuelle Reizverarbeitung nur durch geschädigte und unteraktivierte Neuronenverbände des Großhirns vermittelt wird, oder ob der entwicklungsgeschichtlich alte Hirnstamm solch unbewusste visuelle Leistungen vermitteln kann. Der Hirnstamm ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns. Bereits unsere Vorfahren besaßen einen Hirnstamm, lange bevor sie dem Wasser entstiegen und zu Landtieren wurden. Bevor das Großhirn sich entwickelte, war das Gehirn auf den Hirnstamm beschränkt. Er verarbeitete Umweltreize, regulierte Atmung und Nahrungsaufnahme, Verteidigung und Fluchtverhalten, Fortpflanzung und Brutpflege. Waren dies alles unbewusste Mechanismen, die in einem noch nicht bewusstseinsfähigen Organismus, Automaten gleich, abliefen, und trat das Bewusstsein erst mit dem Entstehen des Großhirns in die Welt?

Die einzige Möglichkeit, sich einer Antwort zu nähern, ist die Untersuchung von Menschen, die ohne Großhirn geboren werden.

Ich hatte Gelegenheit, die Frage, zu welchen Leistungen der menschliche Hirnstamm fähig ist, an Kindern zu untersuchen, bei denen das Großhirn von Geburt an fehlte. Diese Kinder können weder selbständig sitzen oder gar gehen, können keine Sprache verstehen und nicht sprechen, und auch sonst ist keine Kommunikation mit ihnen möglich. Doch diese Kinder können schlucken und gähnen, sie haben einen Schlaf-Wach-Rhythmus, und bei einem solchen Kind konnte ich sogar durch Streicheln des Kopfes ein Lächeln auslösen. Da nach dem Lehrbuchwissen erst das Großhirn Seh-Reize in bewusste visuelle Erfahrungen und akustische Reize in bewusste Hörerfahrungen verwandelt, sollte man annehmen, dass diese Kinder keine Sinneserfahrungen haben. Genaue Untersuchungen an Kindern ohne Großhirn zeigten jedoch, dass sie visuellen Reizen mit den Augen folgen und sich akustischen Reizen zuwenden können. Nun stellt sich die Frage, ob es sich dabei nur um automatenartige Reaktionen oder um bewusste Sinneserfahrungen handelt.

Info zur Person: Reinhard Werth www.reinhard-werth.de/ ist Professor für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Neuropsychologe am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Universität München sowie Autor zahlreicher Bücher. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Lesestörungen (Legasthenie), Wiederherstellung visueller Funktionen nach Hirnschädigung, neurobiologische Grundlagen des Bewusstseins, Willensfreiheit sowie wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie.

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