Was das Sehen anbelangt, so kann man davon ausgehen, dass visuelle Reizverarbeitung durch den Hirnstamm unbewusst ist. Das lässt sich zum einen daraus schließen, dass Patienten erblinden, wenn die Verbindung von den Augen zur Rinde des Hinterhauptslappens (Okzipiallappens) des Gehirns, also dem Hirnbereich, in dem visuelle Reize verarbeitet werden, unterbrochen ist. Zum anderen, wenn der Hinterhauptslappen selbst zerstört ist. Der Hinterhauptslappen ist der Bereich des Gehirns, zu dem die Sehinformation aus dem Auge geleitet und in dem diese verarbeitet wird. Im Fall einer Zerstörung des Hinterhauptslappens kann es nur noch zu einer unbewussten visuellen Reizverarbeitung der oben beschriebenen Art kommen. Diese unbewusste visuelle Reizverarbeitung wird durch neuronale Verbindungen vermittelt, die aus der Netzhaut der Augen zu einer entwicklungsgeschichtlich hunderte Millionen Jahre alten Struktur auf der Oberseite des Hirnstamms (den Colliculi superiores und dem Praetectum) führen. Es kann auch angenommen werden, dass die oben beschriebenen Zuwendungen zu akustischen Reizen bei Kindern ohne Großhirn unbewusst waren. Auch diese werden von entwicklungsgeschichtlich alten Strukturen auf der Oberseite des Hirnstamms (den Colliculi inferiores) verarbeitet, zu denen die Hörinformation geleitet wird. Damit stellt sich auch die Frage, ob Tiere, die noch nicht über ein Großhirn verfügen, zu bewussten Erfahrungen fähig sind. Unsere Ergebnisse erlauben uns daran zu zweifeln, doch letztlich bewiesen ist dies nicht.
Auch wenn wir ein Objekt bewusst sehen, bedeutet das nicht, dass wir dieses Objekt erkennen. Betrachten wir zum Beispiel eine Tasse aus verschiedenen Perspektiven, so wissen wir noch nicht, dass man Flüssigkeiten in sie füllen und aus ihr trinken kann und auch nicht, dass sie zerbrechlich ist. Um ein Etwas als etwas zu erkennen, muss man einiges über die Funktion und Verwendungsweise des Gesehenen gelernt, das Gelernte im Gedächtnis gespeichert und wieder aus dem Gedächtnis abgerufen haben. Nach Hirnschädigungen kann es geschehen, dass das, was wir über Objekte gelernt haben, aus dem Gedächtnis gelöscht wurde oder nicht mehr aus dem Gedächtnis abrufbar ist. Die Patienten haben dann zwar noch einen bewussten Seheindruck von diesem Objekt, wissen aber nichts mehr mit diesem Objekt anzufangen. Sie erkennen eine Tasse nicht als Trinkgefäß, einen Kugelschreiber nicht mehr als Schreibgerät. Das heißt, sie leiden dann an einer Objekterkennensstörung, einer sogenannten „Objektagnosie“.
Die Unfähigkeit, Erlerntes, das mit einem Objekt in Verbindung steht, aus dem Gedächtnis abzurufen, kann auch das eigene Gesicht sowie die Gesichter anderer Personen betreffen. Schon aus der Alltagserfahrung wissen wir, dass manche Personen ein schlechtes, andere ein gutes Gedächtnis für Gesichter haben. Bei einigen Menschen wird der Zusammenhang von Gesichtern und bestimmten Personen sehr gut, bei anderen nur schlecht gespeichert. Es wurden jedoch zahlreiche Fälle beschrieben, in denen Personen nach einem Schlaganfall ihr eigenes Gesicht nicht mehr erkannten, wenn sie sich im Spiegel sahen. Die Patienten wussten wohl, dass das, was im Spiegel erscheint, ein Gesicht ist. Doch es war für sie das Gesicht einer fremden Person. Auch die Gesichter des Ehepartners oder der Kinder wurden nicht mehr erkannt. Doch die Information über die Personen war nicht aus dem Gedächtnis gelöscht. Hörten die Patienten die Stimme der zu einem Gesicht gehörenden Person, so wurde ihnen wieder bewusst, um welche Person es sich handelt, und die Erfahrungen mit dieser Person wurden wieder aus dem Gedächtnis abgerufen. Über das Bild des Gesichts einer Person war jedoch keine Information über diese Person mehr abrufbar.
Die Fähigkeit, Erinnerungen aus dem Gedächtnis abzurufen, kann auch nur kurzzeitig gestört sein. Ich habe mehrfach erlebt, dass Boxer nach einem KO nicht mehr wussten, was geschehen war, wann sie geboren waren, wo sie wohnten, was für einen Beruf sie hatten. Dieses Wissen kehrt meist nach einigen Minuten, manchmal erst nach Stunden zurück. Hier ist das Wissen nicht verloren. Nur die Fähigkeit zum Abruf des Wissens ist vorübergehend gestört. Anders kann es sich nach bestimmten Hirnschädigungen, zum Beispiel nach operativer Entfernung des Hippocampus beider Temporallappen des Gehirns, bei einem Untergang bestimmter Hirnstrukturen beim Korsakow-Syndrom nach langem Alkoholmissbrauch oder bei der Alzheimer Demenz verhalten. Dabei werden Gedächtnisinhalte dauerhaft gelöscht. Ein Patient kann seine eigene Lebensgeschichte weitgehend oder vollständig vergessen haben, er kann sich an Personen, die er kannte, nicht mehr erinnern, wenn er deren Gesichter sieht, ihre Stimme hört oder wenn man ihm ihre Namen nennt. Die Patienten haben vergessen, wie man bestimmte Gegenstände verwendet und bestimmte Tätigkeiten verrichtet.
Die Prozesse der Gedächtnisspeicherung und des Abrufs aus dem Gedächtnis sind bis heute nicht hinreichend geklärt. Aus der Untersuchung von Patienten ist bekannt, die Beeinträchtigung welcher Hirnstrukturen zur Unfähigkeit führen, Neues zu Erlernen und aus dem Gedächtnis abzurufen. Erkenntnisse über die neurobiologischen Abläufe stammen vor allem aus tierexperimentellen Studien. Diese zeigen, dass es bei der Speicherung im Gedächtnis zu elektrophysiologischen Prozessen kommt, in die vor allem der Hippocampus eine entscheidende Rolle spielt. In die dauerhafte Speicherung im Gedächtnis sind unterschiedliche Bereiche des Großhirns eingebunden. Hierzu gehören Bereiche, die sensorische Reize verarbeiten, solche, die Handlungen vorbereiten, sowie Hirnareale, die beides tun und verschiedene Sinnesempfindungen und Handlungsvorbereitungen integrieren.
Durch Lernen bilden sich neue Verbindungen zwischen Nervenzellen des Gehirns aus, ungenutzte werden „stillgelegt“ oder abgebaut und biochemische Prozesse in den Nervenzellen und an den Kontaktstellen zu anderen Nervenzellen werden moduliert. Im Tierexperiment können durch Reizung im Bereich des Hippocampus die Speicherung von Erlerntem verbessert oder verhindert und
der Abruf von Erlerntem aus dem Gedächtnis kann blockiert werden. Auch beim Menschen können durch Stimulation bestimmter Hirnareale im Rahmen neurochirurgischer Eingriffe Empfindungen oder Bewegungsabläufe hervorgerufen oder unterdrückt werden. Man mag die Hoffnung hegen, die Inhalte seines Gedächtnisses auf einen Computer zu übertragen und dort dauerhaft aufzubewahren. Zwar besteht die Möglichkeit kleine neuronale Netzwerke mit elektronischen Schaltkreisen einer Platine zu verbinden. Eine computerbasierte Speicherung der eigenen Gedächtnisinhalte ist jedoch nicht realisierbar.
Diese Beispiele zeigen bereits, dass Wahrnehmung, Gedächtnisspeicherung und Erinnerung an neurobiologische Prozesse gebunden sind. Wir können nur etwas wahrnehmen, wenn die Information aus den Sinnesorganen im Gehirn verarbeitet wird, und wir können nur Dinge erkennen, wenn Gelerntes über diese Dinge in neuronalen Netzwerken des Gehirns gespeichert wird und neuronale Strukturen diese Information bei Bedarf aus dem Gedächtnisspeicher abrufen. Auch alle unsere Empfindungen, Gedanken und unser Wille sind nur möglich, wenn bestimmte neurobiologische Strukturen bestehen, die dies vermitteln, und wenn in ihnen bestimmte neurobiologische Abläufe stattfinden.
Wenn aber der Wille durch neurobiologische Prozesse entsteht, so stellt sich die Frage, inwiefern es einen freien Willen gibt. Mehrere Experimente zur Frage der Willensfreiheit wurden in der Weise interpretiert, als sei der Wille durch neurobiologische Prozesse festgelegt, und die Willensfreiheit sei eine Illusion. Das grundlegendste Experiment wurde von Benjamin Libet und Mitarbeitern 1983 publiziert und in technisch neuen Verfahren (Funktionelle Magnetresonanztomographie) von anderen Autoren wiederholt. In diesen Experimenten konnten die Versuchspersonen sich zwischen zwei verschiedenen Reaktionen (zum Beispiel Bewegung oder Nicht-Bewegung des Handgelenks) entscheiden. In dem Experiment von Libet und Mitarbeiter bewegte sich ein Zeiger rasch über ein Ziffernblatt. Die Versuchspersonen sollten angeben, bei welchem Zeigerstand sie den Entschluss fassten, das Handgelenk zu bewegen. Gleichzeitig wurde die elektrische Aktivität des Gehirns (das Bereitschaftspotential) auf der Kopfhaut abgeleitet.
Dabei wurde ein Bereitschaftspotential nachweisbar, das anzeigte, ob eine Bewegung ausgeführt werden wird. Erstaunlicherweise entstand dieses Bereitschaftspotential, bevor die Versuchspersonen angaben, sich für die Ausführung der Bewegung entschieden zu haben. Ob eine Handlung erfolgen wird, zeigte das Bereitschaftspotential in späteren Untersuchungen bis zu sieben Sekunden vor dem Zeitpunkt an, an dem die Versuchspersonen das bewusste Erlebnis hatten, eine Entscheidung zu fällen. Während Libet und Mitarbeiter hieraus nicht auf fehlende Willensfreiheit schlossen, interpretierten andere Autoren diese Ergebnisse als Nachweis dafür, dass es keinen freien Willen gibt.
Bereits die Aussage, der menschliche Wille sei durch Hirnfunktionen „bestimmt“, „festgelegt“, „determiniert“ und deshalb nicht frei, ist keine wissenschaftliche Aussage. Ein Grund für die Unwissenschaftlichkeit besteht darin, dass die Begriffe „Willensfreiheit“, „durch Hirnfunktionen bestimmt“, „festgelegt“, „determiniert“ völlig vage sind und nicht zu einem eindeutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch gehören. Damit ist bereits aus logischer Sicht fehlende Willensfreiheit nicht aus dem Befund ableitbar, dass neurobiologische Prozesse unseren Willensentscheidungen vorausgehen. Präzisiert man die fraglichen Begriffe, so zeigt sich, wie bereits an anderer Stelle detailliert ausgeführt, dass es sich bei der Behauptung, es gebe keine Willensfreiheit, weil neurobiologische Prozesse unseren Willensentscheidungen vorausgehen, um nichts als eine inhaltsleere, pseudowissenschaftliche Aussage handelt.
Zudem entsteht das Bereitschaftspotential nicht plötzlich „aus dem Nichts“. Das Bereitschaftspotential ist das Ergebnis neurobiologischer Prozesse in unserem Gehirn, die bereits stattfinden, bevor das Bereitschaftspotential nachweisbar ist und aus denen das Bereitschaftspotential entsteht. Diese Prozesse, die das Bereitschaftspotential generieren, sind abhängig von unserer genetischen Ausstattung und von den Erfahrungen, die wir im Leben gemacht haben. Durch das Bereitschaftspotential wird die ihm folgende Handlung keineswegs erzwungen. Auch wenn dieses Potential Sekunden vor der Ausführung einer Handlung erscheint, können wir diese Handlung immer noch korrigieren. Diese Korrektur ist bis wenige hundert Millisekunden vor der Ausführung einer Handlung möglich. Ein Rennfahrer kann sich zum Beispiel entscheiden, einen Konkurrenten in der nächsten Kurve, die er in einigen Sekunden erreicht, zu überholen. Es wird dann, Sekunden bevor die Kurve erreicht ist, bei ihm ein Bereitschaftspotential für dieses Überholmanöver entstehen. Versucht er einige Sekunden später zu überholen, versperrt der Konkurrent ihm jedoch plötzlich den Weg, so kann er innerhalb von weniger als 200 Millisekunden auf die neue Situation reagieren und den Überholvorgang abbrechen.
Das Gehirn integriert die Wahrnehmungen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit den Vorerfahrungen und bildet ein Bereitschaftpotential, das aber nur besagt, dass eine bestimmte Reaktion erfolgen kann, wenn die Situation sich nicht ändert. Auf Veränderungen der Situation kann das Gehirn dann im Bereich weniger hundert Millisekunden reagieren und seine Entscheidungen ändern. Gerade wenn die Situation sich in kürzester Zeit ändert und rasche Entscheidungen gefällt werden müssen, erfolgen solche Entscheidungen oft unbewusst. Ein Boxer, der in weniger als 200 Millisekunden auf die Aktionen des Gegners reagieren muss, weicht automatisch aus oder kontert automatisch, ohne dass er eine bewusste Entscheidung fällt.
Das heißt, es existieren sowohl freie bewusste Willensentscheidungen wie auch freie unbewusst ablaufende Entscheidungen. Dabei können wir Willensentscheidung dann als frei bezeichnen, wenn sie nicht unkorrigierbar festgelegt sind, sondern sich neuen Wahrnehmungen, neuen Bedürfnissen und neu Erlerntem anpassen können. Dies ist unabhängig davon, dass ein Bereitschaftspotential auftritt, bevor eine Entscheidung als solche bewusst erlebt wird. Obwohl es freie Entscheidungen in dem genannten Sinn gibt, sind auch diese freien Entscheidungen durch Hirnfunktionen vermittelt. Ohne Großhirn ist keine Entscheidung möglich. Die oben beschriebenen Kinder ohne Großhirn zeigten immer dieseleben stereotypen Reaktionen auf Lichtreize, akustische Reize oder Berührung, doch sie konnten sich nicht frei entscheiden, in welcher Weise sie reagieren wollten.
Aus zahlreichen Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten wissen wir, dass die Wahrnehmungsfähigkeit, die Fähigkeit etwas im Gedächtnis zu speichern und damit zu lernen, die Fähigkeit, Erinnerungen abzurufen, Empfindungen zu generieren und Willensentscheidungen zu vollziehen, verlorengeht, wenn die Hirnstruktur, die die betreffende Fähigkeit vermittelt, ihre Funktion einbüßt. Ohne Gehirn gibt es keine Wahrnehmungen, keine Empfindungen, gibt es kein Gedächtnis, in dem etwas gespeichert werden oder eine Erinnerung abgerufen werden kann und es gibt keinen Willen. Da die Gesamtheit dessen unser Ich, unsere Person ausmacht, gibt es unsere Person nicht ohne unser Gehirn. Mit der Entwicklung des Gehirns und seiner Modifikation durch unsere Erfahrungen entstehen all diese Leistungen, die in ihrer Gesamtheit unsere Person, unser Ich ausmachen. Im Tod versiegen alle Hirnfunktionen unwiederbringlich, und es gibt keine Wahrnehmungen, keine Empfindungen, keine Erinnerungen und keinen Willen mehr. Auch unser Zeitgefühl, das durch bestimmte Hirnstrukturen vermittelt wird, geht verloren. So löst sich im Tod auch unser Ich unwiederbringlich auf. Neurobiologische Forschungsergebnisse haben bestätigt, was bereits der griechische Philosoph Epikur (341-270 v. Chr.) schrieb: „Und mit Sicherheit zerstreut sich die Seele im selben Moment, in dem sich der Organismus als Ganzes auflöst, in alle Richtungen, verliert die Fähigkeiten, die ihr zuvor zu eigen waren, und bewegt sich nicht mehr. Demzufolge ist ihr dann auch kein Wahrnehmungsvermögen mehr zu eigen.“
Info zur Person: Reinhard Werth www.reinhard-werth.de/ ist Professor für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Neuropsychologe am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Universität München sowie Autor zahlreicher Bücher. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Lesestörungen (Legasthenie), Wiederherstellung visueller Funktionen nach Hirnschädigung, neurobiologische Grundlagen des Bewusstseins, Willensfreiheit sowie wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie.