Deutschland

Nicht länger ein sanfter Riese: Deutschland muss die EU geopolitisch anführen

Im zweiten Teil seiner Rezensionen von wichtigen Neuerscheinungen befasst sich der renommierte Wissenschaftler Helmut K. Anheier mit zwei Werken. In dem einen schlagen Mitglieder der Münchener Sicherheitskonferenz vor, dass Deutschland die geopolitische Führung innerhalb der EU übernimmt. In dem anderen macht ifo-Chef Clemens Fuest Vorschläge, wie die deutsche Wirtschaft nach Corona zu retten ist.
16.01.2021 11:06
Lesezeit: 5 min
Nicht länger ein sanfter Riese: Deutschland muss die EU geopolitisch anführen
Afghanistan, März 2018: Die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) klopft einem Soldaten der Bundeswehr nach dessen Beförderung auf die Schulter. (Foto: dpa) Foto: Michael Kappeler

Der sanfte Riese

Die Zukunft der Bundeswehr und ihr Platz innerhalb der europäischen Sicherheit sind ein deutliches Problem, das in der politischen Diskussion in Deutschland schweigend übergangen wird. Die Rolle der Bundeswehr im Allgemeinen und ihre potenzielle Beteiligung an bewaffneten Konflikten im Besonderen werden selten vor dem Hintergrund einer umfassenderen strategischen Vision diskutiert. Deutschlands Politiker und Wähler neigen gleichermaßen dazu, eine seltsame Mischung aus Desinteresse und vorsätzlicher Distanzierung von strategischen Debatten an den Tag zu legen.

Im Jahr 2014 verkündeten der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (heute Bundespräsident) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (heute Präsidentin der Europäischen Kommission) den sogenannten „Münchner Konsens“. Deutschland, so beteuerten sie, würde mehr Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen und sich im Rahmen seiner Bündnisverpflichtungen in militärischen Fragen substanziell schneller und entschiedener als bisher engagieren. Im Jahr 2016 dann veröffentlichte die Bundesregierung ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, das als neuer politischer Rahmen dienen sollte.

Doch laut Zeitenwende | Wendezeiten, einem aktuellen Sonderbericht führender Vertreter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat Deutschland diese Zusagen nicht erfüllt. Stattdessen hat es an seiner von ihm eindeutig bevorzugten Rolle festgehalten: allmählich auf seine Verpflichtung hinzuarbeiten, bis 2024 zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) für die Verteidigung auszugeben, und zugleich – wenn Konfliktszenarien auftreten - die harten militärischen Aufgaben anderen zu überlassen.

In einer sich wandelnden geopolitischen Lage ist diese „deutsche Nonchalance“ (so die Formulierung der Verfasser) zunehmend gefährlich. Die NATO und das transatlantische Bündnis werden schwächer, China ist (militärisch und wirtschaftlich) im Aufstieg begriffen, und Russland verfolgt immer aggressivere Formen von hybrider und Cyber-Kriegsführung – nicht nur in der Ukraine und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch innerhalb westlicher Länder. Ungeachtet seiner Versprechungen zur Übernahme größerer Verantwortung, nimmt sich Deutschland in Sicherheits- und Strategie-Fragen wie ein Schlafwandler aus.

Die Verfasser geben mehrere Empfehlungen zur Abstellung dieser Versäumnisse ab. Einige, wie etwa eine deutlichere Erhöhung der Verteidigungsausgaben und eine engere Abstimmung zwischen Außen- und Verteidigung, sind, was man erwarten konnte. Andere freilich dürften kontroverser sein. Das gilt insbesondere für den in dem Bericht enthaltenen Vorschlag, dass Deutschland als faktischer europäischer Hegemon eine „enabling power“ – eine „Möglich-Macher-Macht“ – werden solle. Die Idee dabei ist, dass Deutschland durch Definition seiner eigenen strategischen Interessen in enger Abstimmung mit Frankreich die Führung bei der geopolitischen Positionierung der EU übernehmen sollte. Eine Übernahme dieser Rolle würde natürlich eine viel zentralere Rolle für Deutschlands eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik implizieren.

Zwischen Dynamik und Apathie

Ob Deutschland je eine ernsthafte, offene Debatte über diesen Vorschlag führen wird ist ungewiss angesichts der Tatsache, dass es sich am wohlsten dabei fühlt, sich selbst als wohlmeinende Wirtschaftsmacht zu begreifen. Und die Wirtschaft wird ohne Zweifel bei den diesjährigen Wahlkämpfen ein großes Thema sein. Um vorauszusehen, wie sich die Dinge wirtschaftlich entwickeln könnten, hat Clemens Fuest, der Präsident des „ifo Instituts“ (einer der einflussreichsten wirtschaftlichen Denkfabriken des Landes) die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie untersucht und mit denen der globalen Finanzkrise von 2008 verglichen.

Fuest erinnert daran, dass sich Deutschland als eines der ersten Länder von der Krise 2008 erholte und bereits 2010 in ein Jahrzehnt stabilen Wachstums eingetreten war. Mit Stand 2019 entfiel auf Deutschland der drittgrößte Anteil am Welthandel (hinter den USA und China), und es galt als offenste Volkswirtschaft innerhalb der G7. Laut Regierungsangaben sind mehr als ein Viertel aller deutschen Arbeitsplätze mit dem Außenhandel verknüpft. Mit dem weltgrößten Handelsüberschuss – der zu fast zwei Dritteln aus dem Handel mit anderen Euroländern herrührt – hat sich die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren zu einem Quell politischer Kontroversen entwickelt.

Aus Sicht von Fuest ist eine Wiederholung des Szenarios von 2010 unwahrscheinlich. Angesichts einer wachsenden Staatsverschuldung – die nach seiner Prognose 2022 80 Prozent vom BIP erreichen wird –, eines insolvenzbedrohten Rentensystems, einer alternden Bevölkerung und einer schrumpfenden Zahl ins Erwerbsleben eintretender Menschen, wird Deutschlands Steuerlast zunehmen, während zugleich die Chancen auf ein wirtschaftliches Wachstum sinken.

Während Fuest die rasche Reaktion der Bundesregierung auf die Pandemie – darunter defizitfinanzierte Ausgaben, ein beträchtliches Konjunkturpaket sowie zukunftsorientierte Investitionen in 5G-Netze, Elektromobilität sowie Energie aus Wasserstoff – lobt, betrachtet er verschiedene andere Maßnahmen kritisch. Dies betrifft etwa die Senkung der Mehrwertsteuer, die sich als kostspielig und ineffektiv erwiesen habe.

Zur Frage, was als Nächstes passieren sollte, bietet Fuest zehn allgemeine Thesen an. Doch sind diese ziemlich ernüchternd – sogar konventionell –, und es fehlt ihnen an dem visionären Elan, den man von einem führenden Wirtschaftsdenker erwarten sollte, der auf eine der größten wirtschaftlichen Verwerfungen der modernen Zeit reagiert.

So spricht sich Fuest etwa für eine klare Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten des öffentlichen Sektors (Staat) und des privaten Sektors (Unternehmer) aus und beschwört das Erbe Ludwig Erhards, des Gründers der deutschen sozialen Marktwirtschaft. Aber daran ist nichts Neues. Genauso beschreitet er keine neuen Wege, wenn er argumentiert, dass die Fiskal- und die Arbeitsmarktpolitik auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet sein müssten. Dann warnt er vor den Ungleichgewichten innerhalb der öffentlichen Finanzen, und so weiter, und so fort.

Das Buch ist eindeutig eine Enttäuschung. Doch könnte dies auf ein umfassenderes Problem bei der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland hindeuten. Es gibt eine zu starke Fixierung auf die relativ erfolgreiche Vergangenheit und eine zu geringe auf den jetzigen und künftigen Innovationsbedarf.

Das alte Dilemma

Allgemeiner betrachtet steht Deutschland, auch wenn es 2021 in einer starken Position zu sein scheint, vor ernsten Herausforderungen. Nachdem es innerhalb einer Generation – wenn auch unter erheblichen Kosten – eine historische Wiedervereinigung bewältigt hat, ist seine Wirtschaft stärker und seine Gesellschaft weniger gespalten und vielfältiger als in der Vergangenheit. Doch während Deutschland noch immer ein stabiles, konsensorientiertes politisches System aufweist, machen es diese Attribute schwierig, mit aufkommenden rechts- und linksextremen Tendenzen fertigzuwerden.

Zudem hat Deutschland zwar einen relativ gut funktionierenden öffentlichen Sektor, doch ist dieser zunehmend rückständig und dringend reformbedürftig. Und während es vor größeren Sicherheitsrisiken steht als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Kalten Krieg, tut es sich nach wie vor schwer, seinen Platz in einer sich wandelnden geopolitischen Landschaft zu finden. Und schließlich steht Deutschland weiterhin vor seinem traditionellen Dilemma: Es ist zu klein, um unter den globalen Supermächten zu rangieren, und zu belastet von seiner Vergangenheit, um die Rolle als wohlmeinender regionaler Hegemon anzunehmen, doch ist es andererseits zu bedeutsam, um so zu tun, als wäre es bloß irgendein mittelgroßes Land.

Angesichts von Merkels bevorstehendem Abschied muss sich Deutschland nun auf massive technologiebedingte Veränderungen einstellen. Es muss zudem seinen Status als Einwanderungsmagnet annehmen und seine Führungsrolle innerhalb der EU besser definieren. Unglücklicherweise ist der öffentliche Diskurs über die Einwanderung in Deutschland von kognitiver Dissonanz gekennzeichnet, seine wirtschaftspolitischen Debatten stecken in altbackener Orthodoxie fest, und seine Einstellung Verteidigung und Sicherheit betreffend, ist noch immer zu zögerlich. Doch gibt es inzwischen eine offenere Debatte insbesondere über eine Reform des öffentlichen Sektors und über Sicherheitsfragen – und es steht zu hoffen, dass als Nächstes Migration und Wirtschaftspolitik an der Reihe sind.

Das Superwahljahr 2021 wird hoffentlich Gelegenheit zu anregenden Diskussionen über praktikable Lösungen für die Probleme des Landes bieten. Die Wähler in Deutschland können sich nicht länger zurücklehnen und darauf vertrauen, dass Merkel sie durch die Untiefen des 21. Jahrhunderts führen wird. Sie werden selbst entscheiden müssen, welchen Kurs Deutschland als Nächstes einschlagen wird.

Tobias Bunde, Laura Hartmann, Franziska Stärk, Randolf Carr, Christoph Erber, Julia Hammelehle, Juliane Kabus: „Zeitenwende | Wendezeiten: Sonderausgabe des MSR zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“, Münchner Sicherheitskonferenz, 2020.

Clemens Fuest: Wie wir unsere Wirtschaft retten: Der Weg aus der Coronakrise, Aufbau Verlag, 2020.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Helmut K. Anheier ist Professor für Soziologie an der Hertie School of Governance in Berlin und außerordentlicher Professor für Sozialwesen an der UCLA Luskin School of Public Affairs.

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

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