Politik

EU versinkt im Impfstoff-Chaos: Staaten bitten Brexit-Briten und Russland um Hilfe

Lesezeit: 6 min
06.02.2021 10:10  Aktualisiert: 06.02.2021 10:10
In Sachen Impfstoff ist in der EU das große Chaos ausgebrochen. Warum das so ist, zeigt DWN-Kolumnist Ronald Barazon in einer ausführlichen Analyse.
EU versinkt im Impfstoff-Chaos: Staaten bitten Brexit-Briten und Russland um Hilfe
Eine Wandbemalung in Edinburgh zeigt eine Ärztin, die Impfstoff in ein Corona-Virus indiziert. In Großbritannien, das nicht mehr Mitglied der Gemeinschaft ist, beläuft sich die Impfquote auf ein Vielfaches der Quote in den 27 EU-Mitgliedsstaaten. (Foto: dpa)

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Dass die EU-Staaten nicht ausreichend mit Impfstoff gegen Covid-19 versorgt sind, ist eine Tatsache: Bisher sind lediglich zwei bis vier Prozent ihrer Bürger geimpft, während die USA bei zehn Prozent Impfquote liegen, Großbritannien bei 16 Prozent und Israel bei 60 Prozent. Dass angesichts dieser Umstände die für die Beschaffung der Impfdosen zuständige EU-Kommission ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, wäre naheliegend. Wäre. Die Angriffe von Seiten der europäischen Regierungen sind allerdings eher moderat, und es klingt eher Verständnis als Empörung in ihnen mit. Diese erstaunliche Reaktion hat einen nachvollziehbaren Grund: Die Regierungen der 27 EU-Staaten haben im Sommer 2020 der EU-Kommission den Auftrag für den Einkauf des Impfstoffs erteilt. Also sind alle mit in der Verantwortung – und selbstverständlich will sich niemand selbst des Versagens bezichtigen. Was war eigentlich der Grund für das gemeinsame Vorgehen? Man wollte ein Zeichen der Solidarität setzen, nachdem zuvor jeder Staat seinen eigenen Weg gegangen war. Das EU-freundliche Signal sollte die Einigung auf das gemeinsame 750-Milliarden-Paket zur Belebung der Wirtschaft in und nach der Corona-Krise erleichtern.

Die EU-Kommission taugt nicht zur zentralen Wirtschafts-Lenkungs-Stelle

Die EU-Kommission zeichnet sich in allen Bereichen durch eine komplizierte, ineffiziente und wenig effektive Arbeitsweise aus. Und doch wurde dieser Institution eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach den dramatischen Einbrüchen durch die Lockdowns übertragen – wie paradox. Derzeit müssen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten Konzepte an die Kommission übermitteln, in denen erläutert wird, wie sie die Mittel aus dem 750-Milliarden-Programm verwenden wollen. Nur wenn die Pläne Gnade vor den Augen der Kommissare und Beamten finden, geben sie die beantragten Mittel frei. Ein Blick auf die Abwicklung der Impfstoff-Beschaffung zeigt eines nur zu deutlich: Die EU-Kommission taugt nicht zur zentralen Wirtschafts-Lenkungs-Stelle.

Eine Kette tollpatschiger Vertragsverhandlungen führte zum Chaos

Der schwerfällige Apparat in Brüssel hat sich auch beim Einkauf des Impfstoffs schwerfällig verhalten wie immer. Zuerst wurden im zweiten Halbjahr 2020 drei Verträge abgeschlossen, mit „Sanofi-GSK“, mit „Johnson & Johnson“ und mit „CureVac“, also drei Unternehmen, die bis heute keinen genehmigten Impfstoff entwickelt haben. Erst gegen Jahresende wurden Verträge mit den erfolgreicheren Unternehmen „BioN Tech/Pfizer“ und „Moderna“ unterzeichnet. Einen Sonderfall bildete eine Vereinbarung mit „AstraZeneca“, die schon im August erfolgte, aber so weich formuliert ist, dass das Unternehmen nur nach seinen Möglichkeiten liefern muss und daher in der aktuell aufgetretenen Knappheit die EU nicht vorrangig bedient.

Die EU-Bevölkerung zählt 450 Millionen Menschen. Zieht man die 67 Millionen Kinder und Jugendlichen ab, die nicht vorrangig geimpft werden müssen, so verbleiben über 390 Millionen, die dringend zu impfen sind. Da in der Regel zwei Impfungen erforderlich sind, braucht man folglich rund 800 Millionen Spritzen. Die EU-Kommission hat mit „BioN Tech/Pfizer“ zuerst über 200 Millionen Dosen und einer Option von weiteren 100 Millionen verhandelt. Mit „Moderna“ wurde anfangs überhaupt nur über 80 Millionen Dosen und eine Option auf weitere 80 Millionen gesprochen. Nach dieser zögerlichen Vorgangsweise sind die nun eingetretenen Lieferengpässe nicht verwunderlich.

Die EU-Kommission agiert als Genehmigungsstelle – und gleichzeitig als Einkäufer

Die EU-Kommission befindet sich zudem in einem Interessenkonflikt. Die der Kommission unterstellte „Europäische Arzneimittelagentur“ (EMA) ist für die Genehmigung von Impfstoffen zuständig, die in der EU verwendet werden dürfen. Letztlich entscheidet also dieselbe Institution, welches Produkt zugelassen und welches gekauft wird. Im Sinne einer sauberen Verwaltung würde sich die Trennung der beiden Aufgaben empfehlen. Die Kommission sollte sich auf das Zulassungsverfahren beschränken, wodurch die Unabhängigkeit der Entscheidung nicht angezweifelt werden könnte. Der Kauf der Produkte sollte anderen, wohl den einzelnen Staaten, überlassen bleiben.

Angesichts der Impfkrise wird jetzt jeder Mitgliedstaat selbst aktiv

Jetzt, da überall die Impfdosen fehlen, sind die einzelnen Staaten aktiv geworden und bemühen sich, eigenständig Impfdosen zu beschaffen. Ungarn impft bereits den russischen Impfstoff Sputnik-5, der von der EMA nicht zugelassen wurde, also in der EU nicht verwendet werden darf. Die Sprecher der Agentur haben aber nun erklärt, Ungarn könne die Entscheidung in eigener Verantwortung treffen und Impfungen vornehmen. Allerdings dürfe Sputnik-5 nur im Land selbst verwendet werden.

Der EU-Regel hat also Lücken. Und schon ist auch Tschechien unterwegs und bittet Moskau um Hilfe. Die ehemaligen Teilstaaten des Sowjetreichs fordern zwar bei jeder Gelegenheit Schutz vor dem vermeintlich aggressiven Russland, wenden sich aber in der Corona-Not hilfesuchend an ihren früheren Oberbefehlshaber. Neidvoll blickt man auf das benachbarte Serbien, Nicht-EU-Mitglied und EU-Beitrittskandidat, wo alle verfügbaren Produkte, BionTech-Pfizer, Moderna, Astra-Zeneca, Sputnik-5 aus Russland und auch Sinopharm aus China zum Einsatz kommen und kein Mangel herrscht.

Auch die anderen EU-Staaten sind auf der Suche nach eigenständigen Lösungen. In Italien setzt man große Hoffnungen auf den Impfstoff GRAd-Cov2 des römischen Unternehmens „ReiThera“, der bereits nach einer Dosis für Immunität sorgen und leichter zu handhaben sein soll. Der Staat beteiligt sich über die Fördergesellschaft „Invitalia“ an ReiThera. Die deutsche Regierung hat sich mit 300 Millionen am Unternehmen „CureVac“ beteiligt, das seit kurzem auch mit Bayer zusammenarbeitet. Kurzum, überall werden nun die einzelnen Staaten aktiv. Die Pikanterie an der Situation ist die Lage in Großbritannien, wo bereits 16 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Aus Brüssel wurde in London sogar angefragt, ob man nicht dem Kontinent aushelfen könnte. Und das wenige Woche nach dem endgültigen Brexit, der nach Ansicht der EU-Spitzen das Vereinigte Königreich ins Unglück stürzen werde.

Minister, die unbekümmert Milliarden ausgeben, wurden plötzlich zu Sparfüchsen

Die Entscheidung für den gemeinsamen Einkauf von Impfstoff fiel im Sommer 2020 nicht nur, um endlich Solidarität innerhalb der EU zu demonstrieren. Man argumentierte auch, dass eine Großbestellung den Preis senken würde. Auch sollte vermieden werden, dass die einzelnen Staaten bestellen und dabei einander bei den Preisen überbieten. Und was ist das Ergebnis dieses Konzepts?

Im Endeffekt gibt es nun doch einen Wettlauf aller einzelnen EU-Mitgliedstaaten um einen geeigneten Impfstoff. Dabei ist schon die Idee, beim Impfstoff-Einkauf Geld sparen zu wollen, von vornherein skurril: Jeder Tag Lockdown löst Milliardenverluste aus, sodass ein wirksamer Impfstoff gar nicht zu teuer sein kann – wichtig ist, dass er rasch zur Verfügung gestellt wird.

Corona-Viren mutieren rascher als die EU-Kommissare reagieren können

Die europäische Blamage hat aber über die aktuelle, vermeidbar gewesene gesundheitliche Gefährdung der europäischen Bevölkerung hinaus zusätzliche Dimensionen. So haben Corona-Viren die Eigenschaft, zu mutieren. Deswegen ist seit jeher die Impfung gegen die ebenfalls von Corona-Viren ausgelöste Grippe so schwierig, da sich die Stämme immer wieder ändern. Auch das Corona-SARS-II weist nun bereits mehrere durch Mutationen hervorgerufene Varianten auf. Somit wäre es besonders hilfreich gewesen, rasch zu impfen, um große Teile der Bevölkerung gegen das dominant verbreitete Virus zu immunisieren, wodurch man für die Mutationen besser gerüstet wäre. Die jüngste Entwicklung bringt zudem einen Vorteil: Der moderne auf der Boten-RNA aufbauende Impfstoff lässt sich nicht nur viel schneller herstellen, sondern auch leichter an Mutationen anpassen. Die Impfung lehrt die Zellen, sich gegen das Virus zu wehren.

Somit stellt sich die Frage, ob traditionelle Vakzine, die die Krankheit in kleinen Dosen injizieren, damit der geimpfte Körper Abwehrstoffe produziert, noch Zukunft haben. Der Impfstoff von AstraZeneca folgt diesem traditionellen, sogenannten Vektor-Prinzip und hat zudem nur eine Schutzrate von 70 Prozent, während die Impfstoffe von BioNTech-Pfizer und Moderna eine Rate von über 90 Prozent aufweisen. Allerdings behauptet Russland, dass Sputnik-5, ebenfalls ein traditioneller Vektor-Impfstoff, auch zu mehr als 90 Prozent schützt. Eins steht fest: In der aktuellen Mangel-Situation sollte jeder Impfstoff willkommen sein.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wurde sträflich vernachlässigt

Auch die wichtige Frage, wieso Israel mit einer Durchimpfungsrate von 60 Prozent alle anderen Staaten hinter sich lässt, wird nicht gestellt. Israel hat seit langem das Gesundheitswesen voll digitalisiert, weswegen die Krankheitsgeschichten und Gesundheitspässe fast aller Einwohner elektronisch erfasst sind. Folglich können Studien auf ein umfassendes Datenmaterial zugreifen, was so in keinem anderen Land möglich ist. Weltweit nützen Forschungsinstitute, allen voran die berühmte US-Universität Harvard, das israelische Datenmaterial. Die israelische Infrastruktur liefert Pfizer alle Daten über mögliche Neben- und Folgewirkungen des Impfstoffs von Millionen Personen und erweist sich somit als idealer Partner für das Pharma-Unternehmen.

Selbst in den USA gibt es keine vergleichbaren Informationen. Barack Obama versuchte während seiner Präsidentschaft, Big Data im Gesundheitswesen aufzubauen, ist aber an den Eigeninteressen der einzelnen Organisation gescheitert. In Deutschland hat erst vor wenigen Wochen, am 1. Januar 2021, die Einführung der Elektronischen Gesundheitsakte begonnen, mit der die Speicherung der Gesundheitsdaten aller Krankenversicherten der GKV und der PKV erfolgen soll. An dem Konzept wird schon lange gearbeitet – nämlich seit einem Jahrzehnt.

Die Nutzung von Big Data hilft den Patienten, der Datenschutz bremst

Alle Bemühungen um den Aufbau und den Betrieb von Datenbanken stoßen allerdings, auch in Israel, auf den Protest der Datenschützer. Ihre Argumentation ist allerdings problematisch: Die Daten sind jedenfalls anonymisiert und werden als Summen ausgewiesen. Dieses Argument wird für Massenphänomene, wie eben Nebenwirkungen von Impfungen, von den Datenschützern akzeptiert, wenn auch widerwillig. Ihr Protest wird aber besonders laut bei seltenen Krankheiten, weil da die Rückverfolgung zu den betroffenen Patienten zu leicht sei. Das Gegenargument wird ungern gehört: Gerade bei Ausnahme-Fällen ist es besonders schwer, eine große Zahl von Probanden zu erreichen, die solide Studien ermöglichen. Da hilft Big Data, das nützt den Patienten, die in der Folge größere Chancen auf Genesung haben.

Die Corona-Krise hat bereits viele Problemfelder deutlich gemacht: Die Ausstattung der Spitäler mit Intensivstationen, die Disziplin der Bevölkerung bei der Einhaltung der Hygiene-Regeln oder die Frage, inwieweit die Menschen psychisch und die Unternehmen wirtschaftlich die langen Lockdowns verkraften. Im Gesundheitswesen zeigt sich, dass über die offenkundigen Aspekte hinaus grundsätzliche Fragen wie eine funktionierende Digitalisierung vernachlässigt wurden. Vor allem hat die Krise demonstriert, dass endlich die EU-Kommission neu aufgestellt werden muss: Es braucht einen schlanken, effizienten Apparat, der einen präzise definierten Aufgabenbereich betreut. Derzeit ist die Kommission ein Moloch, der überall ineffektiv eingreift und die Entwicklung Europas in fast jeder Hinsicht behindert.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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